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Kurzgeschichte: Im Wald

11.12.2023 / Monika Jäger, Berge Lesen 2023
Wir präsentieren eine der fünf Kurzgeschichten, die beim Kurzgeschichten-Wettbewerb im Rahmen von "Berge lesen" 2023 in Vaduz ausgezeichnet wurde.
Bild Legende:
Die Schwärze des Waldes (c) happyphoton

Ich liebe den Wald. Am liebsten durchstreife ich lockere Mischwälder. Ich mag die grossen, kräftigen Bäume, aber auch die ganz kleinen, zarten Pflänzchen wie Sternenmoos, Veilchen oder Buschwindröschen. Und natürlich die Farne – die liebe ich besonders! Manchmal lege ich mich ins weiche Moos, lasse mich von den Farnen und Ameisen kitzeln und höre dem Hämmern des Spechts zu. Wenn ich dann noch den Gesang einer Singdrossel höre, ist mein Herz erfüllt von duftiger Leichtigkeit, alles Schwere fällt ab. Im Frühsommer stimmt mich der süsse Duft der Holderblüten fröhlich und im Herbst sind es die bunten Früchte der Sträucher. Es macht auch Spass, den Rotmilanen zuzusehen, die majestätisch über den Wipfeln der Bäume kreisen und mit ihren Pfiffen alles andere übertönen. Manchmal zeigt sich sogar ein schnuckliges Eichhörnchen, springt von Ast zu Ast und zaubert ein Lächeln in mein Gesicht. Ich liebe auch den Duft des Waldes und seine Farben. Inmitten der Grüntöne komme ich zur Ruhe, nasche da und dort ein paar Brombeeren oder sammle für den Weihnachtsschmuck die niedlichen Lärchenzäpfchen, auch Hagebutten und Brombeerzweige müssen mit.

Wie schon gesagt: Ich liebe den Wald. Aber dann – dann passierte – das.

Ich stehe da und sehe – schwarz. Schwarz und – Wald. Bin ich im Schwarzwald? Aber nein, sicher nicht! Ein klein wenig kaltes Mondlicht dringt zwischen den Bäumen durch. Verdammt, wo bin ich? Vorsichtig setze ich einen Fuss vor den anderen, bei jedem Schritt raschelt das Laub unter meinen Füssen, dürre Zweige knacken. Ich rutsche auf etwas Glitschigem aus, kann mich gerade noch an einem Baumstamm mit rauer, rissiger Rinde festhalten. Puh, noch mal gutgegangen! Aber was um Himmels Willen tu ich hier? Und das nachts!

Aus dem Schwarz höre ich einen Schrei! Kurz, heiser. Ich erstarre, halte die Luft an. Was war das? Dann wieder Stille, laut knisternde Stille. Ich tappe weiter. Im fahlen Silbermondlicht sehen die grossen Fichten, die in der leichten Brise hin und her schwanken, wie schwarz-schillernde Monster aus, die auf mich zukommen und ihre Blicke böse auf mich richten. Angst kriecht hoch. Was tu ich bloss in diesem verflixten Wald? Ich will nach Hause!

Ein Käuzchen ruft huhuh … hu. Sagt man nicht, dass der Ruf des Käuzchens den nahen Tod ankündigt? Wessen Tod? Meinen? Ach was, ich glaube doch diesen Blödsinn nicht! Trotzdem muss ich raus aus diesem Wald! Aber welche Richtung ist die Richtige? Ich schau mich um. Ringsum Wald – nur Wald.

Etwas huscht vor mir über den Weg, streift mein Bein. Ein Fuchs? Ein Dämon? Spinn nicht rum! sagt meine innere Stimme. Leicht gesagt! Mir ist kalt, ich zittere wie Espenlaub und bemerke zudem erst jetzt, dass ich nur mein Nachthemd anhabe. Hat mich jemand entführt? Aber wer? Und wozu? Nur so zum Spass? Wirre Gedanken hüpfen in meinem Hirn herum wie Gummibälle. Ich muss mich beruhigen! Aufrichten, tief ein- und ausatmen, Augen geradeaus. Alles in Ordnung – fast alles.

Ein winziges, wirklich nur ein winziges bisschen ruhiger schleiche ich weiter. Jetzt recken sich schwarze Äste in meinen Weg, halten mich mit ihren Dornen fest. Ich glaub’s nicht! Ein hundskommuner Brombeerstrauch greift mich an? Ich löse mich aus der stachligen Umarmung, die Äste stechen und kratzen mich. Wütend lecke ich das Blut von meinen Fingern, knurre den Brombeerstrauch an.

Immer noch wütend fühle ich plötzlich etwas Kaltes auf meiner Schulter, zucke zusammen, drehe ganz, ganz langsam den Kopf. Auf meiner rechten Schulter liegt eine Hand, eine eiskalte Hand! Und durchscheinend wie Nebel! Die Hand streicht mir über den Rücken und verschwindet im Dunkel der Nacht. Was war denn das? Das Grauen höchstpersönlich?

Der Rat einer alten Frau kommt mir in den Sinn. Sie sagte, in solchen Fällen solle man den Rosenkranz beten, das helfe immer. Ich bin nicht tiefreligiös, aber wenn es zumindest meine Angst vertreibt – mhhm – einen Versuch ist es allemal wert. Leise betend gehe ich weiter, werde zunehmend ruhiger, übersehe dann aber eine Wurzel, stolpere und falle der Länge nach hin. Beim Fallen spüre ich wieder die eiskalte Hand auf meiner Schulter, aber sie hält mich nicht – nein! Sie hat mich gestossen! Fast habe ich das Gefühl, dass mich die Hand frech angrinst und den Mittelfinger in die Höhe streckt. Also echt!

Mit aufgeschürften Knien, müde, schmutzig und schlotternd vor Kälte sitze ich auf dem Waldboden, Tränen rollen über meine Wangen. Kann mir irgendjemand helfen? Nein? Es nutzt nichts, ich muss mir selbst helfen. Ich rapple mich auf, wische die Tränen weg.

Und da ist er wieder – der Schrei! Heiser, aber trotzdem durchdringend grell, geht mir durch Mark und Bein. Ich renne los. Renne, bis ich völlig ausser Atem bin und nach Luft japse. Weit vorne sehe ich ein schwaches Licht im Wind schaukeln. Ist das ein Haus? Oder eine Strassenlaterne? Und sind dort Menschen? Lebendige Menschen? Hoffentlich! Mit all meiner verbliebenen Kraft brülle ich: „Hilfeeee!“ und laufe, als ob der Teufel hinter mir her wäre.

Mitten im Lauf höre ich ein unmenschliches Winseln und Bellen und spüre, dass sich etwas Nasses, Warmes über mein Gesicht zieht. Mein Gott, was ist denn das? Ich laufe noch schneller – verfalle in Schnappatmung. Schritte nähern sich, eine Klaue greift sich meinen Hals, eine andere tätschelt mein Gesicht. Panisch schlage ich um mich. Ich will nicht gefressen werden!

„Hey, gaaanz, ganz ruhig! Ich tu dir nichts. Was ist mit dir?“. fragt eine tiefe Stimme. Ich öffne die Augen, werde von der Sonne geblendet und sehe nur zwei verschwommene Schatten. Der kleinere gibt ein „Wuff“ von sich und leckt mein Gesicht – nass und warm. Langsam komme ich zu mir. Ich liege bei strahlendem Sonnenschein im weichen Moos und sehe endlich deutlich, wer vor mir steht: Der Förster Franz mit seinem Hund!

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