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Kurzgeschichte: Die Farben des Waldes
Sie stieg, ein kleines Köfferchen in der Hand, stetig Berg an. Der Bus hatte sie auf der vorletzten Station, vor dem Erreichen des Kammes, ausgespuckt und mutterseelenallein zurück gelassen. Und genau so hatte sie sich das vorgestellt. Ohne Begleitung von Menschen, nur mit sich, Ihren Gedanken, der Landschaft und dem beginnenden Wald um sich herum und dessen Geräuschen, allein.
Wer sie da laufen sah, der sah sie zwischen braun werdenden Moosen, grünem Gestrüpp und lang aufschiessenden grauen Fichtenstämmen einhergehen, eben jenen üblichen Farben des Waldes.
Sie sah den Wald schon seit vielen Jahren auch anders, honiggold bis braun und er war für sie hörbar. Nicht alleine durch das Rauschen der Kronen und das Knarren der Stämme.
Sie erinnerte sich zurück, an den älteren Herrn, als den sie ihren Grossonkel, so lange sie sich erinnern konnte, wahrgenommen hatte. Den gleichen Weg hatte sie damals mit ihm beschritten. Er eher straff ausschreitend, sie hüpfend und rennend hinterher. Ab und zu drehte er sich nach ihr um. „Du musst mir etwas versprechen: wenn wir das jetzt machen, dann musst Du wirklich üben, üben, üben! Denn sonst waren all die Vorbereitung und Mühen umsonst - Meine, die der Natur, die des Waldes und die der Zeit. Weisst Du wie lange so ein Baum braucht? Unter 80 Jahren darf man ihn gar nicht anfassen, wenn man vor hat, was wir jetzt vorhaben. Und bei den wenigsten kann man von aussen sicher sehen, ob er passt. Bei diesem bin ich mir aber ziemlich sicher: er wird es sein und der wird Dich begleiten, immer! Oder eben so lange, wie Du es willst.“ Dabei deutete er auf eine an der Nordseites des Hanges, ziemlich allein stehende Fichte.
Sie streckte sich schlank und sehr gerade dem Himmel entgegen. Nirgends zeigte sich unterhalb des beginnenden Astwerkes eine Harztasche, eine Scharte in der Rinde, ein Loch von Insekten oder Vögeln oder irgendein Buckel oder anderer Makel, der auf auf eine innere Unregelmässigkeit hätte schliessen lassen können. Der Boden hier oben war zwar nicht richtig nass, aber die Schicht aus Geröll, Lös, Sand und Lehm, zusammengehalten von kleinen Flechten und Moss, hielt immer Feuchtigkeit fest. Trocken war dieser Boden nie. Sie gingen weiter , kamen nur an kleineren Bäumen vorbei. Ein richtiger Weg war das nicht, nicht mal ein Trampelpfad. Ihn schien das nicht zu stören. Sie musste nun öfters mal rennen, denn bergauf zu hüpfen war irgendwann zu anstrengend und das Tempo zu hoch. Er merkte das , wurde langsamer und zeigte nach vorn. In kurzer Entfernung, da würde er anhalten.
Sie standen nun beide vor diesem sehr festen und geradestehenden Gewächs, das sich ein leichtes Wiegen in jede Richtung erlaubte. Es war zu vermuten das es bei diesem Wuchs kaum Druckholzstellen geben würde und in dieser Höhe sollte auch der Anteil an Spätholz eher spärlich ausfallen. Er nahm ein Stück Kreide aus der Tasche und markierte den Stamm mit mehreren dicken Strichen, die er übereinander setzte, damit ihre Stärke zunahm und das Kreuz, das sie nun bildeten, nicht zu übersehen war.
Sie erinnerte sich an diesen Klotz aus Holz, der langsam sein frisches Gelb verlor. Der, immer grauer werdend und auf seiner Schnittseite nur von ganz feinen helbraunen Linien durchbrochen, über eine ganze Reihe von Jahren in der Scheune des Hofes lagerte.
Und sie dachte auch an jenen Tag, an dem ein länglich anmutender Herr in schlaffer Haltung, in Begleitung ihres Grossonkels, durch die Tür schritt. Sie durfte, nein sie sollte, jedes mal dabei sein, wenn es um dieses Stück Holz ging. Es wurde abgetastet und von jedem nur denkbaren Winkel aus, von dem Schlaffen abgeleuchtet. Er tastete sanft mit den langen Fingern seiner überraschend festen Hand die Oberfläche ab, prüfte mit einem Feinmassband mit Millimetereinteilung die Dicke der Jahresringe, deren Abstände, die Konsistenz des Klotzes als ganzes und die Festigkeit insbesondere an bestimmten Stellen, die auszuwählen ihm niemand folgen konnte. Er murmelte , mass, nickte und setzte im Schein des durch die Ritzen der Scheunenbretter eindringenden Sonnenlichtes seine Brille ab. Er wischte sich die Augen, nieste einmal recht kräftig und wirbelte all den schwebenden, sichtbaren Staub um ihn herum, zu einem Tanz auf, der sich recht schnell wieder beruhigte. „Vielversprechend“ , und das war das einzige was er sagte. Sie sollte noch lernen, dass er nie viel sagte, nie euphorisch war und , sobald er mit Holz in Berührung kam, auch niemals schlaff wirkte. Das war sein Lebenselexir. Und dieses spezielle Stück wollte er in ein Instrument verwandeln. Für den Klang, die Steifigkeit der Konstruktion, die ausreichende Widerstandskraft gegen jede wechselnde Temperatur in der sich auch Menschen aufhielten, für all das musste die Struktur, welche die hellen und dunklen Linien im Holz aufspannten, ausreichen und dieses Stück Holz hoffentlich mehr als das.
Wenige Monate später hielt sie dann eine Geige in der Hand. Ein kleine Parlorgitarre war auch entstanden. Satt honiggelbbraun die Oberfläche des einen, strahlend blassweiss, die des anderen Instrumentes.
Und egal was sie danach im Wald sah – die grüne Vielfalt von Bäumen, Pflanzen, Blüten und jedem anderen Dickicht- für sie waren diese Farben weniger Wald, als das Bewusstsein für dieses Holz dieses einen Baumes. Sie fuhr oft zärtlich über die matten Oberflächen , glatt und poliert und doch nicht schlüpfrig. Der Schlaffe hatte ganze Arbeit geleistet und der Onkel, eigentlich ein Arbeiter im Forst, hatte das sehr unwahrscheinliche Kunststück vollbracht, von aussen zu erkennen, was für hinreissend schöne Instrumente hier würden entstehen können. Bei jedem Blick konnte man in der Zeichnung des Holzes neue Bilder und Richtungen der Linien erkennen und doch wirkten sie immer homogen und gleichmässig.
Wald und Natur und vielleicht auch ein Stück der Schöpfung, all dies konnte man also auch mittelbar durch das menschengemachte Wunder resonanten Schwingens von Tönen erfahren. Es war tief drinnen wahrzunehmen – ein Schwingen das nicht nur das Holz bewegte, sondern das jeden, der es verstand auch innen berühren konnte.
Und sie musste sich nun entscheiden. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und viel geübt. Im Konservatorium galt sie als hoch geeignet für ein weiterführendes Studium. Die Kunst des Schlaffen, der sie inzwischen in dessen Werkstatt zunächst nur zugesehen und die sie dann oft begleitet hatte, war faszinierend. Aus einem lebenden Körper neue Körper zu erschaffen, die wiederum von toten Punkten auf papiernen Linien neues Leben ins Leben entliessen, dem wohnte eine leise, aber ganz lang anhaltende Befriedigung inne. Und nah beim Wald war sie aufgewachsen, sie liebte es darin zu sein, die Luft aufzunehmen, voller Harz, Staub und Geräuschen, die zu hören nie Lärm war. Seit jenem Tag am Hang war sie oft mitgegangen, zu pflanzen, zu schneiden, auszureissen. Da draussen war ihr manches mal wohler als in jedem Saal oder Zimmer. Im Wald sein Brot zu verdienen war toll!
Sie trug Ihren Koffer weiter, bis zum Rest des Stumpfes, der einst der Fichte als Fudament gedient hatte. Inzwischen hatte sich über die Jahre ringsum schon mehr Buschwerk bereitgemacht. Kleine, junge Bäume standen mehrere in der Nähe. Hangabwärts sah sie diese Wand aus allen Grüntönen der Welt, durchsetzt von braun und grau und jeder Menge bunten Punkten am Boden. Und über allem blau und weiss.
Sie klappte den Koffer auf und fing zu spielen an. Und wie sie da so sass und eine Linie perlender Töne aus den Resten der Fichte aufstieg, die einst hier gestanden hatte, wusste sie, wofür sie sich entscheiden würde.