CIPRA Vertretungen:

Benutzerspezifische Werkzeuge

  Suchfilter  

Weiterführende Informationen

News

Kurzgeschichte: Das Blatt Papier

11.12.2023 / Giulia Bricci, Berge Lesen 2023
Wir präsentieren eine der fünf Kurzgeschichten, die beim Kurzgeschichten-Wettbewerb im Rahmen von "Berge lesen" 2023 in Vaduz ausgezeichnet wurde.
Bild Legende:

Die Schreiberin sitzt am Tisch und schaut das leere Blatt Papier an. In der Hand hält sie ihren Kugelschreiber. Mal knabbert sie an ihm, dann legt sie ihn wieder seufzend ab und starrt durchs Fenster in den Himmel. Da ist die Schreiberin, sie sitzt am Tisch. Sie betrachtet die Maserung im Holz, sie betrachtet das weisse Blatt Papier, das vor ihr liegt – so anders als das stabile, hellbraune Holz des Schreibtisches. Dieses leichte, filigrane Blatt Papier: Woher stammt es?

Bestimmt kommt es von weit her. Die Schreiberin schliesst die Augen und stellt sich den Baum vor, aus dessen Fasern das Blatt Papier gemacht wurde. Sie stellt sich den hölzernen Geruch vor, der bei der Herstellung bestimmt entsteht. Bevor dieser Baum gefällt wurde, stand er in einem Wald. In Amerika oder vielleicht Europa? Skandinavien? Wo stand er, wo standen seine Nachbarn? Welches Land rief er Heimat? Die Schreiberin sitzt mit geschlossenen Augen am Schreibtisch und stellt sich den Wald vor, in dem ihr Baum, der Baum des Blatt Papiers, gefällt wurde. Die Bäume sind unheimlich gross, wie die Bäume, die sie damals in Schweden gesehen hatte. Mit ihren Gedanken reist sie weiter und weiter, einer imaginären Strasse entlang, einen imaginären Weg. Überall stehen Bäume soweit das Auge reicht. Bäume und noch mehr Bäume. Die Schreiberin setzt sich aufrecht hin, ihr Rücken schmerzt, der Bürostuhl ist nicht richtig eingestellt. Die Augen behält sie zu. Sie versucht sich noch besser darauf zu konzentrieren, sie versucht sich den Geruch des Waldes vorzustellen. Harzig, herb, irgendwie auch fast süss. Vielleicht liegt auch Schnee in der Luft, weich und frisch und sanft, obwohl der Winter im Norden alles andere als sanft ist. Jetzt spürt sie den Schnee, die Schneeflocken, die ganz sachte auf ihr Haupt fallen und sie dennoch immer mehr und mehr durchnässen. Und dann hört sie das Knirschen unter den Füssen und sie ist da. Rundum stehen hohe Tannen und anderes Nadelgehölz, der Himmel ist grau und weiss und blau. Auch der Schnee scheint fast blau geädert: blaue Adern, die durch das kalte Weiss pflügen. Und es ist kalt, bitterkalt. Es ist so kalt, dass es einem schwer fällt, an einen Sommer zu glauben. So kalt, der Sommer scheint weit weit weg, auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Welt. Ob Sommer und Sonne überhaupt existieren? Man vermutet es, hofft es, aber richtig glauben tut man es nicht. Der Sommer scheint zu weit weg, um überhaupt irgendwo zu existieren. Die Schreiberin setzt einen Fuss vor den anderen. Sie friert. Es macht „knirsch“ und es knackt. Der eisige Schnee bricht in seine Einzelteile auf. Eine Idylle in Gedanken, doch schonungslos in der Realität. Sie geht auf einen Baum zu und legt ihre Hand auf den Stamm: Rillen und Wege. Klebriger Harz haftet nun an ihren Fingern. Sie wischt sich die Hand an der Hose ab und macht es nur noch schlimmer: Jetzt klebt die Hose und die halbe Handfläche. Sie schaut sich um. Die Bäume sind riesig und dunkel. Im Kontrast zu diesem strahlend weissen Schnee wirken die Stämme fast schon schwarz. Die Kronen hingegen dunkelgrün, moosgrün, waldgrün. Ewig. „So ein Baum wirkt ewig“, denkt sie sich. Diese Bäume wirken, als könnte ihnen nichts und niemand etwas anhaben, als wären sie schon immer hier gestanden und würden auch immer hier stehen bleiben. Ewige Riesen, denen Zeit und langwierige, harte Kälte egal sind. Ewige Riesen, die Wetter, Menschen und Jahrzehnte überdauern. Und genau einer dieser Bäume wurde für ihr Blatt Papier benutzt. Sie macht die Augen auf. Für dieses Blatt Papier auf ihrem Schreibtisch: keine Rillen, kein Harz, keine Maserung oder Jahresringe. Nur weiss weiss weiss, wie der Schnee, der irgendwann schmelzen wird und das Nichts, das sie geschrieben hat. Sie legt den Kugelschreiber beiseite und seufzt. Die Schreiberin steht auf und verbringt ihren Tag mit allem anderen als Schreiben, Schrift, Papier und Geschichten. Sie bringt sich selber auf andere Gedanken. Abends kommt sie zum Blatt Papier zurück, sie knipst die Schreibtischlampe an, holt ihren Farbkasten hervor und tunkt ihren Pinsel ins Wasserglas. Sie drückt Weiss aus der dazugelegten Tube und vermischt es mit ein bisschen Himmelblau: der Schnee. Sie zieht blaue Adern übers weisse Papier und sprenkelt Weiss darüber: die fallenden Schneeflocken. Dann dunkel, dunkel immer dunkler für die Stämme. Kräftig sollen sie aussehen und alt und wunderschön. Sie malt Rillen in die Stämme und dicht nebeneinanderstehende Bäume. Die Bäume stehen eng umschlungen als würden sie einander Schutz bieten, übereinander wachen. Die Bäume als ewige Wächter, die sich geheime Dinge zuflüstern und den stillen, geräuschgedämpften Winterwald einzig mit ihren Stimmen füllen. Das findet sie ein schönes Bild. Nun fehlen noch die Kronen. Sie wählt jedes Grün aus ihrem Farbkasten, satt soll es sein und majestätisch. Dieses mystisch-beruhigende Waldgrün, das immer bleibt, egal welche Jahreszeit und welches Wetter herrscht. Grün, das in Grün übergeht. Nach aussen stobende Striche und getupfte Nadeln, mal dieses Grün, dann jenes obendrauf und vermischt. Zum Schluss noch ein bisschen Blau-weiss übersprenkeln für die restlichen Schneeflocken und fertig. Sie stellt den Pinsel ins Wasserglas, lehnt sich kurz zurück und jetzt ist sie mit sich zufrieden. Die Schreiberin reinigt ihre Pinsel, leert das Wasser aus und räumt die Malsachen in ihre Schreibtischschublade. Sie geht zu Bett, das Blatt Papier lässt sie über Nacht trocknen. Am nächsten Morgen betrachtet sie ihr Werk und hängt das Blatt über ihrem Bett auf. Da soll der Wald, sollen die Bäume über sie wachen als wäre sie eine der ihren: ewig bestehend, ruhig und kräftig. Als wäre sie jeden Tag genau da, wo sie sein sollte und ganz in sich selbst und im inneren Frieden ruhend. Und mit jedem Tag würde sie versuchen mehr so zu sein, beständig zu sein, sich selbst zu sein und mächtig.

abgelegt unter: BergeLesen