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Kurzgeschichte: Der Waldschratt

11.12.2023 / Jolanda Fäh, Berge Lesen 2023
Wir präsentieren eine der fünf Kurzgeschichten, die beim Kurzgeschichten-Wettbewerb im Rahmen von "Berge lesen" 2023 in Vaduz ausgezeichnet wurde.
Bild Legende:
Walderdbeeren (c) ZimaNady_klgd

Ich gehe auf Waldwegen. Mit mir stimmt etwas nicht.

Am Wegrand leuchten reife Erdbeeren. Ich würde sie gerne pflücken, lass es aber wegen des Fuchsbandwurms. So ein Fuchsbandwurm durchlöchert einem das Gehirn.

Füchse kreuzen, wo es ihnen gefällt.  Die Beeren sind sicher verseucht. Ich weiss nicht, wann genau das mit dem Bandwurm angefangen hat. Vielleicht hat er sich bereits vor Jahren in meinem Gehirn eingenistet. Mein Großvater war verrückt. Zeitenweise. Wenn seine Zeiger auf Verrücktsein standen, packte er seinen Rucksack, holte die Flinte aus dem Schuppen und zog in den Wald. Dort hauste er dann wochen- oder auch monatelang und kam eines unbestimmten Tages schmutzstarrend, aber bei klarem Verstand wieder nach Hause. Er hatte keine Angst vor dem Bandwurm. Er lebte von Beeren, Pilzen, hie und da einem Hasen, einem Birkhuhn, dem er den Hals umgedreht hatte. Er war drahtig, flink. Ein Waldschratt. Wenn er sich wieder entschlossen hatte, ein Dorfschratt zu sein, liess ihm Grossmutter ein Bad ein und reichte ihm wortlos Seife und Waschlappen. Später öffnete er den Rucksack und legte eine Handvoll Pilze und einen Rehrücken auf den Küchentisch.

Von meinen Waldspaziergängen bin ich bis jetzt noch jedes Mal wieder nach Hause zurückgekehrt. Ich könnte aber auch zwischen den Bäumen leben. Die Bäume sind gut zu mir. Sie verlangen nichts. Tiere jage ich keine. Von Blut wird mir übel. Es ist einzig der Hunger, der mich heimwärts treibt.

Wäre mein Großvater nicht in die Wälder gestiegen, wer weiss, was passiert wäre. Vielleicht hätte er seiner Frau, seinen Kindern den Hals aufgeschlitzt. So was kommt vor. Da sitzt eine Familie beim Bohnenspitzeln für den Wintervorrat, und dann kommt einer in die Küche, greift nach dem Messer und metzelt die ganze Sippschaft nieder. Am Ende liegen da sieben Leichen, alles ist blutgetränkt, die Bohnen völlig versaut, die Landjäger kommen, die Nachbarn laufen zusammen und sagen, der war doch immer eine Seele von Mensch. Und sie sagen, dass sie keine Ahnung haben, was in den gefahren sei, irgendjemand muss ihn bis aufs Blut gereizt haben und dass man halt immer nur an die Leute heranschaut und nicht in sie hinein. Sie betrachten dabei die Frau, die am Boden liegt, ihre Strümpfe, die voller Laufmaschen sind, und sie fragen sich, ob die Laufmaschen vorher schon da waren. Und keiner sagt, der wäre auch gescheiter mal ein paar Wochen in den Wald gegangen und hätte in der harzigen Luft sein Gehirn ausgelüftet. 

Ich habe schon mal gedacht, dass ich vielleicht deshalb in den Wald gehe, damit ich keinen niedermetzle. Obwohl die Gefahr bei mir gering ist, denn ich bin eine Seele von Mensch und eigentlich nur mir selber gefährlich. In der Hütte, an der ich vorbeikomme, hat sich einer aufgehängt. Neben der Hütte entspringt eine Quelle, die riecht nach faulen Eiern. Jedes Mal wenn ich da vorbeigehe, schaue ich kurz in die Hütte hinein, nicht weil ich einen finden möchte, Gott bewahre, aber es könnte doch sein. Die Leute haben die merkwürdigsten Vorbilder und machen einander die dümmsten Sachen nach. Runterholen würde ich so einen ganz gewiss nicht. Von mir aus könnte er verdorren. Hängt sich einfach auf, baumelt da, die Zunge aus dem Hals und mit stieren Augen, und irgendein armer Teufel hat dann die Pflicht, den runterzuschneiden. Ich kenne eine Bäckersfrau, die hat ihren Mann erhängt in seiner Backstube gefunden. Sie ist in ihn reingelaufen, weil sie den Blick nach unten gerichtet hatte, zu dem Korb, in welchem die fast noch warmen Semmeln lagen. Sie träumt immer noch, wie sie in ihren Mann hineinrennt, wie er zu baumeln beginnt und ihr Kopf mehrmals an die feuchte Stelle in seinem Schritt stößt. Von all den bösen Träumen vom Kopfstoßen sind ihr die Haare über dem Stirnansatz ausgefallen. In guten Nächten träumt sie von seinen Händen, seinen Händen voller Mehl und Teig und seinem Schritt, der nach Milchsemmeln riecht.

Mein Großvater soll sich im Wald erschossen haben. Heisst es. Ich bin aber eher für die Unfalltheorie. Manchmal denke ich, es könnte auch Mord gewesen sein. Wir haben in unserer Familie kaum darüber geredet. Es gibt so Sachen, über die redet sich schlecht. Verrückte Großväter gehören dazu.

Vor Jahren haben Pilzsammler in dem gleichen Waldstück, in dem sich der Grossvater erschossen haben soll, ein lange vermisstes Mädchen gefunden. Geschändet, niedergemetzelt, halb in Stücke gerissen und verwest. Sie haben gesagt, das muss ein Sauhund gewesen sein, ein Sauhund, der sich im Wald gut auskannte, weil das Mädchen in einem steilen Waldstück lag, gut verborgen in einer Felsspalte, zugedeckt mit Reisig. Sie haben in den Lokalnachrichten Bilder von dem Mädchen gezeigt, ein sommersprossiges Ding mit blonden Zöpfen. Würde es noch leben, wäre es jetzt eine Frau in meinem Alter. Als das Mädchen verschwand, sind wochenlang Suchtrupps durch die Wälder gestreift. Meinen Grossvater, so habe ich gehört, wollten sie damals nicht dabei haben, dabei kannte er den Wald wie kein anderer. Er hatte sich anerboten mitzusuchen. Stattdessen verhörten sie ihn, wollten wissen, ob er im Wald war, als das Kind verschwand.  Er soll auf die Fragen ausgiebig geschwiegen haben. Als sie nicht mehr weiter wussten und ihn rausliessen, ging er nach Hause, um den Rucksack zu packen. Er kam zwei Wochen später dreckig und weiterhin schweigsam nach Hause zurück. Es gab am Ende nichts, womit sie ihn hätten festnageln können. Das wird keinen grossen Unterschied gemacht haben. Die Leute reden gern. Die Schuld der anderen ist ein ergiebiges Gesprächsthema. Später, als das Mädchen gefunden wurde, haben sie sicher wieder über Grossvater geredet: Verklemmter Eremit und Schraube locker und komischer Kauz und Dachschaden und Wer weiss und Würde mich nicht wundern.

Eine Generation hat es übersprungen und ich bin jetzt die, die den Familienschaden durch den Wald trägt. Die Leute schauen mir hinterher, als ob etwas mit mir nicht richtig wäre. Als Kind habe ich Walderdbeeren gepflückt und gegessen. Damals wusste ich noch nichts vom Fuchsbandwurm. Den Erdbeergeschmack kann ich aus dem Gedächtnis abrufen.

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