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Lebendige Gewässer als Chance

27.06.2023 / Salome Steiner, Geschäftsleiterin von Aqua Viva
Der Ursprung vieler grosser Flüsse wie der Rhone und des Rheins liegt in den Schweizer Alpen. Sie sind für viele ein Sinnbild unberührter Natur. Doch selbst hier gilt nur noch ein Zehntel der Fliessgewässer als intakt. Und auch diese dynamischen Wildflüsse mit artenreichen Auenlandschaften sind bedroht. Die Umstellung auf erneuerbare Energien lässt vergessen, dass Wasserkraft die Biodiversität gefährdet, erklärt Salome Steiner.
Bild Legende:
Neu entstehende Gletschervorfelder und alpine Schwemmebenen wie hier unterhalb des Triftgletschers bieten grosses Potential zum Schutz und zur Förderung der Artenvielfalt. Sie verdienen strikten Schutz vor Energieanlagen. © Katharina von Steiger

Der Rückgang unserer Tier- und Pflanzenvielfalt ist eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Stark betroffen davon ist auch die Vielfalt in den Gewässern. Über ein Fünftel der vom Aussterben bedrohten oder in der Schweiz ausgestorbenen Arten sind an Gewässer gebunden, ein weiteres Fünftel an Ufer und Feuchtgebiete. Dies nicht zuletzt wegen der Zerstückelung und Zerstörung ihres Lebensraumes. So sind in der Schweiz seit 1850 über 90 Prozent der Auen verschwunden. Insgesamt gelten noch rund 19 Prozent der Schweizer Landesfläche als naturbelassen. Und diese Flächen befinden sich vor allem im Hochgebirge und im Bereich der vergletscherten Gebiete.

Steinwüste? Hotspot der Biodiversität!

Die – leider – abschmelzenden Gletscher legen Flächen frei, die Raum für eine vom Menschen wenig beeinflusste Entwicklung der Natur bieten. In Senken können Seen und längerfristig Flachmoore entstehen. Am Einlauf der Seen bilden sich Deltas und in den flachen Überflutungsbereichen entstehen Flächen mit Auencharakter. Wie alle Auen bieten solche Schwemmebenen ein enormes Potential für grosse Artenvielfalt. Was auf den ersten Blick manchmal wie eine Steinwüste aussieht, bietet Lebensraum. Ein Beispiel: 2012 versammelten sich rund 50 Biodiversitäts-Expert:innen aus dem In- und Ausland im Furkagebiet. Ihr Ziel: Die Vermessung einer einzigartigen Naturlandschaft. Statt einer Steinwüste fanden Sie 2’098 Arten. Ein echter Biodiversitätshotspot auf rund 2’500 Metern Höhe! Um zu verstehen, wie sich die Natur vom Menschen unbeeinflusst entwickelt, braucht es Wildnis. Doch diese ist in der Schweiz eine grosse Seltenheit. Lassen wir die Dynamik zu, statt diese einmaligen und beeindruckenden Landschaften gleich wieder zu nutzen und zu zerstören. Denn mit den neu entstehenden Schwemmebenen haben wir die einzigartige Möglichkeit, der Natur wieder etwas zurückzugeben.

Alpine Gewässer unter Druck

Trotz dieser Chancen ist die Situation ernüchternd: Bereits 1992 hat die CIPRA die Länge der naturnahen Fliessstrecken in den Alpen auf lediglich 9,6 Prozent beziffert. 2014 bestätigte der WWF diese Grössenordnung mit der Studie «Save the Alpine Rivers». Demnach gelten 89 Prozent der Flüsse als beeinträchtigt. Die Regulierung der Alpenflüsse setzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Zunächst sollte die Schifffahrt verbessert, Siedlungen vor Hochwasser gesichert und Kulturland gewonnen werden. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten grossen Wasserkraftanlagen in den Alpen. Der Ausbau der Wasserkraft wird bis heute systematisch fortgesetzt. Zusätzlich wurden im 20. Jahrhundert zahlreiche Talsperren zur Abflussregulierung beziehungsweise zum Hochwasserschutz und zur Energieerzeugung errichtet. Unzählige Alpenflüsse wurden somit begradigt, reguliert, verbaut, aufgestaut oder aus- und umgeleitet. Fehlende Restwassermengen, Schwall-Sunk-Betrieb und Querbauwerke wirken sich seitdem auf die Abfluss- und Geschiebeverhältnisse sowie auf die Längsvernetzung in den Gewässern aus. In der Folge kam es zu einer massiven Beeinträchtigung der Tier- und Pflanzenwelt. Typische Leitarten natürlicher Alpenflüsse wie die Deutsche Tamariske gelten heute als bedroht. Ebenso gravierend ist das riesige Netz unterirdischer Stollen, welches die Alpen unterhöhlt. Trotz der gesetzlichen n Restwasserbestimmungen verschwindet heute immer noch in über 100 Wasserfassungen zum Teil das gesamte Wasser unserer Alpenbäche in unterirdischen Stollen und lässt tote, ausgetrocknete Bachbette zurück. Wir müssen uns grossen und zukunftsweisenden Aufgaben stellen: Dem Schutz und der Aufwertung der Lebensräume, um den enormen Biodiversitätsverlust zu stoppen. Die Reduktion des CO2- Ausstosses, um den Klimawandel zu verlangsamen. Beide Herausforderungen sind miteinander verknüpft. Im Zuge der Energiewende darf also die Arten- und Lebensraumvielfalt nicht vergessen gehen. In der Schweiz sind 99,5 Prozent des Wasserkraftpotentials genutzt. Gewässer sind in der Folge die am stärksten bedrohten Lebensräume. Heute gelten lediglich rund fünf Prozent unserer Fliessgewässer als mehr oder weniger intakt. Das ist zu wenig. Naturnahe Gewässerlebensräume müssen als ökologische Infrastruktur einen signifikanten Anteil der Landesfläche ausmachen. Die Wasserkraft ist zwar erneuerbar, ihre Nutzung belastet jedoch die Gewässer und die Landschaft stark. Um den weiteren Verlust der dynamischen Gewässer zu verhindern, braucht es einen gesamtheitlichen Blick, der die bereits erfolgten Zerstörungen und Beeinträchtigungen berücksichtigt.

 

Salome Steiner ist Geschäftsleiterin von Aqua Viva. Sie hat an der Universität Bern Biologie mit Schwerpunkt Ökologie studiert.