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«Die Verkehrswende ist mehr als der Umstieg auf alternative Antriebe»

27.06.2023 / Michael Gams, CIPRA International
Bis 2050 soll der gesamte Verkehr in der EU und im Alpenraum klimaneutral werden. Auf dem Weg dorthin brauchen wir mehr als nur alternative Antriebe, denn die Verkehrswende beginnt im Kopf, meint Mobilitäts-Expertin Helen Lückge im Gespräch.
Bild Legende:
Helen Lückge setzt sich für ein Umdenken bei Mobilität und Transport ein. © climonomics.de

Frau Lückge, wie bewegen Sie sich im Alltag fort?

Ich war schon immer ein absoluter Fahrradfan, in der Schule, aber auch später im Studium in Tübingen und den USA. Bei meinen beruflichen Stationen in Berlin und Zürich habe ich immer das Rad verwendet, um die neue Umgebung zu entdecken. Man kommt damit super voran, nicht nur im urbanen Kontext. Alltagswege mit dem Rad zurückzulegen hilft mir auch dabei, den Kopf frei zu bekommen, durchzulüften, ein bisschen Abstand zu gewinnen. Die besten Ideen fallen mir beim Radfahren ein. Wenn ich im Büro merke, die Energie ist weg, dann setze ich mich aufs Fahrrad und manchmal macht es «Klick» und die Idee ist da. Ein Auto hatten wir nur ganz kurz, als unsere Kinder klein waren. Es hatte dann aber relativ schnell einen Standschaden. Wir haben es eingetauscht gegen ein familientaugliches Lastenrad und nutzen jetzt Carsharing für Fahrten, die schwer mit Rad oder Bahn machbar sind. Auf Dienstreisen bin ich mit der Bahn unterwegs.

Was fasziniert Sie an Themen wie Mobilität und Transitverkehr?

Kein Sektor ist so zentral für die Erreichung unserer Klimaziele wie dieser, aber auch gleichzeitig so stark behaftet mit Emotionen, Gewohnheiten und Ängsten. Im Verkehrsbereich wird sich zeigen, ob wir es wirklich ernst meinen mit dem Klimaschutz und den Zielen, die wir uns gesetzt haben. Am Transitverkehr finde ich die Komplexität sehr spannend, alles ist eng miteinander verwoben. Es gibt immer wieder neue Trends, neue Ideen und Lösungsansätze, an denen man sich auch ganz gut analytisch austoben kann.

In anderen Bereichen sinkt der CO2-Ausstoss, im Verkehr ist er sogar gestiegen. Was läuft da schief?

Im Güterverkehr steigt das Volumen nach der kleinen pandemiebedingten «Delle» wieder ungebremst und wird auch weiter steigen, wenn man die Prognosen auf EU-Ebene anschaut. Für alle Transitkorridore wird ein steigendes Güterverkehrsvolumen prognostiziert. Und das findet heute immer noch weitestgehend auf der Strasse statt. Zudem gibt es gerade im Güterverkehr bisher nur einen ganz kleinen Anteil von Fahrzeugen mit alternativen Antriebstechnologien, der Grossteil der Flotte ist immer noch mit Dieselantrieb unterwegs. Auch im Personenverkehr spielt der motorisierte Individualverkehr immer noch die grösste Rolle. Unsere Wegstrecken sind eher weiter als kürzer geworden und die Fahrzeuge auch grösser statt kleiner. Von daher sind diese Zahlen nicht überraschend. Es zeigt, dass im Mobilitätsbereich viele zusätzliche Anstrengungen notwendig sind.

Die Mehrheit der Menschen in den Alpen lebt aber am Land und ist oft auf das Auto angewiesen.

Ja, das ist tatsächlich deutlich schwieriger, als im urbanen Kontext die Mobilität klimaneutral zu gestalten. Angesichts der Technologien und Lösungen, die es gibt, bin ich aber zuversichtlich, dass auch für den ländlichen Raum nachhaltige Mobilitätslösungen verfügbar sind. Die zurückgelegten Strecken sind auch im ländlichen Kontext oft viel kürzer, als man denkt. Die Fahrzeuge sind heute durchschnittlich sehr schlecht besetzt. In Österreich beispielsweise liegt die durchschnittliche Auslastung eines Autos bei 1,1 Personen. Da gibt es sehr viel Potenzial für Effizienzsteigerung. Alleine über digitale Ride-Sharing-Lösungen könnte man schon eine massive Verbesserung herbeiführen, gerade im Pendler:innenverkehr. Auch Carsharing und multimodale Sharing-Lösungen reduzieren die Abhängigkeit vom eigenen Auto. Dann braucht nicht mehr jede Familie zwei Autos. Und natürlich braucht es einen Ausbau im öffentlichen Verkehr, um zu einer Abkehr vom eigenen Auto beizutragen.

Was bedeutet multimodales Sharing für unsere Mobilität?

Dass man verschiedene Fahrzeuge und Technologien verfügbar hat, eben nicht nur das kleine Carsharing Auto, sondern vielleicht auch mal ein grösseres Auto, wenn man einen Transport durchführen muss. Dass man ein Lastenrad ausleihen kann, vielleicht auch ein schickes E-Bike, wenn man im Sommer an einzelnen Tagen damit zur Arbeit fahren, aber kein eigenes anschaffen möchte. Es bedeutet, dass man einen breiteren Fahrzeugpool hat, mit dem man multimodal unterwegs sein kann.

Möglich ist vieles davon heute schon, trotzdem bringen wir die Emissionen nicht runter. Wie soll sich das bis 2050 ändern?

Das ist in vielen Fällen Kopfsache. Die Lösungen sind eigentlich heute schon verfügbar und es gibt keine Zeit mehr zu verlieren. Wir dürfen nicht mehr auf rettende neue Technologie warten, um endlich unsere Mobilität umzustellen. Leider gibt es aber viel Druck von der Gegenseite. Gerade in Deutschland sieht man deutlich, wie die Automobilindustrie immer noch eine ganz zentrale Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftlichen Erfolg spielt. Viele Akteure tun sich immer noch schwer mit der Transformation hin zu neuen Geschäftsmodellen. Es muss einfach klar werden, dass Verkehrswende mehr ist als der Umstieg vom Verbrenner zum Elektroauto. Ich bin davon überzeugt, dass es keine lineare Entwicklung sein wird. Alternative Mobilitätslösungen werden immer attraktiver und irgendwann kommt ein Kipppunkt. Dann ist nicht mehr der Status Quo – jeder besitzt sein grosses Auto und fährt damit von A nach B – attraktiv, sondern ganz im Gegenteil. Wir werden zu einem neuen Gleichgewicht kommen. Zentral wird dafür sein, dass wir ein neues, positives Narrativ entwickeln. Anstatt von Angst und Verzicht zu sprechen müssen wir zur Erkenntnis kommen, dass es eine Veränderung ist, die wir selbst gestalten können und die viele positive Aspekte beinhaltet. Unser heutiges Mobilitätssystem mit der starken Autozentrierung ist für viele Personen nicht diskriminierungsfrei. Nicht jeder hat Zugang zu einem Auto, viele haben gar keinen Führerschein oder können keinen machen und kommen nicht zu ihren Zielen. Vor allem Kinder im urbanen Kontext leiden darunter, dass wenig öffentlicher Raum verfügbar ist, weil zu viel davon bereits für Autos vergeben ist. Wenn dieser Platz frei würde, gäbe es spannenden, neuen Gestaltungsfreiraum für kreative Lösungen.

Gaukeln uns Utopien von autofreien Städten eine Zukunft vor, die im Alltag nicht umsetzbar ist? Utopien und Zukunftsszenarien helfen uns, neue Blickwinkel einzunehmen und den eigenen Handlungshorizont auszuweiten. Oft sind Utopien nur auf den ersten Blick im Alltag nicht umzusetzen. Es gibt Beispiele, wo man sieht, dass eine Stadt zum Beispiel mit einer klaren Vision – für manche eine Utopie – angefangen hat, die jetzt real ist. Schauen wir nach Kopenhagen oder Barcelona. «Copenhagenize» ist ein eigener Begriff geworden, der schon gut zeigt, wie man von der Utopie gestartet und in einem realistischen Setting angekommen ist

Die Regierungen der Alpenländer haben sich mit der Simplon Allianz dazu verpflichtet, ihren Verkehr bis 2050 klimaneutral zu machen. Wie schätzen sie diesen Aktionsplan ein?

Die Simplon Allianz ist schon mal in einem ersten Schritt als kleiner Erfolg zu werten. Es war das allererste Mal, dass sich Umwelt- und Verkehrsminister:innen zusammen auf einen Aktionsplan geeinigt haben. Sie haben sich gemeinsam dazu verpflichtet, diesen Aktionsplan umzusetzen. Natürlich sind darin viele Ansätze enthalten, die wir schon im alpinen Klimaaktionsplan abgedeckt haben – aber durch die Verpflichtung auch von verkehrspolitischer Seite kommt eine neue Dimension hinzu.

Rechtlich bindend ist die Allianz nicht.

Der Aktionsplan ist trotzdem wichtig: Um Leuchtturmprojekten mehr Sichtbarkeit zu geben, um sich über die Grenzen hinweg besser über Erfolgsmodelle austauschen zu können, um die Kooperation gerade auch zwischen Verkehr und Umwelt weiter zu stärken. Und da nennt der Aktionsplan schon einige Themen, zum Beispiel die Ausweitung des österreichischen Klimatickets. Wenn man es schaffen würde, das über die Grenzen hinweg in andere Länder auszuweiten, hätten wir einen wichtigen Meilenstein erreicht

Eines der grössten Sorgenkinder ist der alpenquerende Güterverkehr. Wie könnte man das ändern?

Wir arbeiten mit dem Netzwerk «iMonitraf!» schon seit 2005 für eine gemeinsame Strategie zum Umgang mit dem Transitverkehr. Da spielt ganz klar die Verlagerung von der Strasse auf die Schiene eine zentrale Rolle. Die Schweiz hat vorgemacht, wie so ein Modell funktionieren kann. Es braucht ein starkes preisliches Anreizsystem, wie in der Schweiz mit der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe und eine hochqualitative Schienen-Infrastruktur. Am Brenner hinkt der Infrastrukturausbau noch hinterher, ist aber auf dem Weg. Österreich braucht für wirksame preisliche Massnahmen die Unterstützung entlang des gesamten Brennerkorridors, weil der österreichische Abschnitt auf der Brennerachse nur kurz ist. Als zweites wichtiges Element sehen wir einen beschleunigten Wechsel auf alternative Antriebstechnologien. Das wird auch dazu beitragen, dass wir weniger Abgase auf den alpenquerenden Korridoren haben. Klar ist, wir werden nicht alle Güter auf die Schiene verlagern können, das sieht man in der Schweiz. Es bleibt immer ein Anteil von nicht verlagerbaren Fahrten auf der Strasse und dieser verbleibende Anteil soll so sauber wie möglich erfolgen. Hier hat der Alpenraum Potenzial, als Vorreiter voranzugehen.

Onlinebestellungen sind seit der Corona-Pandemie rapide angestiegen. Wie viel trägt das zum Güterverkehr bei?

Wir konsumieren die Produkte, die auch im alpenquerenden Güterverkehr unterwegs sind und beeinflussen ihn über unsere Nachfrage somit ganz zentral. Denn grundsätzlich ist klar: Umso mehr wir lokale und regionale Produkte kaufen und konsumieren, umso stärker können wir die Transportdistanzen reduzieren und stärken damit auch regionale Wertschöpfungsketten. Zur Verkehrswende tragen wir nicht nur durch unsere eigene Mobilität, sondern auch durch unser Konsumverhalten bei.

Die Mobilitätsexpertin

Helen Lückge arbeitet als selbständige Beraterin an der Schnittstelle von Klima-, Umwelt- und Verkehrspolitik, unter anderem für den Alpinen Klimabeirat. Lückge hat das alpine Klimazielsystem der Alpenkonvention ebenso mitgestaltet wie den 2022 erschienenen, neunten Alpenzustandsbericht zum Thema Alpenstädte. Im Fokus ihrer Arbeit stehen ökonomische Bewertungen von Szenarien, operative Massnahmen und Instrumente sowie Strategieentwicklungen im Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel und nachhaltige Mobilität. Sie war an der Erstellung der politischen Rahmenbedingungen für das europäische Emissionshandelssystem (ETS) beteiligt und begleitet seit 2007 das alpenweite Netzwerk «iMonitraf!», das sich für nachhaltigen Transport und Transit einsetzt.