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Aus der Krise gewachsen

20.06.2022 / Mario Broggi
Mitte der 70er Jahre stand die CIPRA kurz vor dem Aus. In den Jahren danach professionalisierte und etablierte sie sich alpenweit. Ihren Hauptsitz fand sie 1990 im alpinsten aller Alpenländer: Liechtenstein. Einen Blick zurück wirft Mario Broggi, CIPRA-Präsident von 1983 bis 1992 und Wegbegleiter der Organisation über beinahe 50 Jahre.
Bild Legende:
Nachhaltige Entwicklung in den Alpen: Die CIPRA verbindet Menschen und Organisationen über sprachliche, kulturelle, geografische und politische Grenzen hinweg. (c) Friedrich Boehringer

Manche Krisen haben auch etwas Gutes: An einer Tagung der Weltnaturschutzunion 1974 im italienischen Trient diskutierten die Teilnehmenden am Rande der Konferenz in einer damaligen Krisensituation für die CIPRA deren Wiedererweckung. Sie beschlossen den «Aktionsplan Alpen»: In jedem Land sollte eine CIPRA-Vertretung aufgebaut werden. Ab 1976, mit der CIPRA-Jahresfachtagung in Heiligenblut, Österreich, war ich ständiger liechtensteinischer Vertreter an den CIPRA-Jahresfachtagungen. Sie beschäftigte sich damals vor allem mit Grossprojekten der Wasserkraftnutzung und dem Tourismus. Es wurden Empfehlungen in Form von Resolutionen verfasst. Im Rahmen der CIPRA versammelten sich bis in die 1980er Jahre einige illustre Vertreter:innen der Wissenschaft, der Behörden und NGOs, wobei die Deutschsprachigen die überwiegende Mehrheit bildeten.

Vielfalt als Markenzeichen

Die wenigen jüngeren Teilnehmende, wie Walter Danz (†) aus Bayern, Jürg Rohner (†) aus der Schweiz und ich, empfanden uns im übertragenen Sinn als aufmüpfige «Jungtürken». Die Jungtürken waren eine Bewegung im Osmanischen Reich, die sich für liberale Reformen einsetzte. Wir Jüngeren wünschten uns eine thematische Ausweitung und geeignetere Rahmenbedingungen für die Aktivitäten der CIPRA. Wir forderten ein «Nach-, Vor- und Querdenken für das Leben in den Alpen». An uns ist schliesslich nach der Jahresfachtagung 1983 in Bled, das damals noch zu Jugoslawien gehörte, die Neuausrichtung der CIPRA hängen geblieben. Walter Danz wurde Vizepräsident und ich Präsident. Die Begriffe der «Jungtürken» und des «Querdenkers» sind inzwischen im Sprachgebrauch belastet, das Anliegen dahinter ist geblieben. Die kulturelle Vielfalt der Alpen ist eines ihrer Markenzeichen. Mit meiner Übernahme des CIPRA-Präsidiums ab 1983 wurden deshalb die bisherigen offiziellen CIPRA-Sprachen Deutsch und Französisch mit Italienisch und später Slowenisch ergänzt. Wir haben den Staat Slowenien im Jahre 1990 noch vor seiner offiziellen Staatgründung anerkannt, was dort mit Wohlwollen aufgenommen wurde.

Frühindikator für neue Entwicklungen

Das gewünschte «Vor-, Nach- und Querdenken» äusserte sich etwa darin, dass die CIPRA im ständigen Informationsaustausch ein Frühindikator für neue Entwicklungen im Alpenraum wurde, wie Schneemobile, Beschneiungs- und Golfanlagen. Mit der Jahresfachtagung 1984 im schweizerischen Chur öffneten wir unseren Themenkatalog und Teilnehmer:innenkreis und traten mit dem Schlagwort des «Sanften Tourismus» mit Tourismuskreisen in Dialog. Wir machten auch früh auf die alarmierende ökologische Situation der Fliessgewässer aufmerksam. Neben dem «harten» Wasserbau beeinträchtigte die Wasserkraftnutzung mit Stauwehren und mit Schwall- und Sunkproblemen das Kontinuum der Fliessgewässer. Mit der Wasserdeklaration von Martuljek in Slowenien im Jahr 1990 setzten wir uns für das Leben unserer Alpenflüsse ein und liessen 1992 ein erstes alpenweites Inventar erstellen. Nur mehr rund zehn Prozent der Fliessgewässer-Strukturen erwiesen sich aus ökologischer Sicht als natürlich. Die Zitrone der Wasserkraftnutzung schien uns ausgepresst, ein Grenznutzen der alternativen Energienutzung überschritten.

Liechtensteins erste internationale Organisation

Mit dem jeweiligen Präsidenten wechselte die CIPRA-Geschäftsstelle in dessen Land. 1990 verabschiedeten wir uns von der reinen Ehrenamtlichkeit und etablierten mit Ulf Tödter einen vollamtlichen Geschäftsführer mit eigenen Büroräumlichkeiten in Liechtenstein. Der Geschäftssitz sollte zukünftig unabhängig von der Präsidentschaft in Liechtenstein verbleiben. Zur Konsolidierung trug mein nachfolgender Präsident aus Liechtenstein, Josef Biedermann, bei. Der Standort Liechtenstein erwies sich als Glücksfall. Vor Liechtenstein «fürchtete» sich niemand, gegenüber grösseren Einheiten können sich eher Animositäten entwickeln. In jeweils vierjährlichen Intervallen muss der liechtensteinische Staatsbeitrag für den CIPRA Sitz in Liechtenstein im Parlament beantragt und bewilligt werden. Das war keinesfalls eine «gemähte Wiese». In Liechtenstein gab es keine Erfahrungen mit internationalen Organisationen und es wurde regelmässig die Frage gestellt, warum das Land einen erhöhten Beitrag leisten sollte. Es brauchte Zeit bis sich im alpinsten aller Alpenstaaten die Anerkennung für das Wirken der CIPRA zusehends entwickelt.

Vom Schutz zum guten Leben

Die CIPRA schrieb sich seit ihrer Gründung das Vertragswerk der Alpenkonvention auf ihre Fahnen. Wir fanden damals einzig beim deutschen Umweltpolitiker Klaus Töpfer eine politische Unterstützung. Dieses 1991 unterzeichnete internationale Vertragswerk ist und bleibt mit der CIPRA verbunden. Ich hätte mir etwas weniger Bürokratie gewünscht und selbstverständlich klarere Aussagen. Die Alpenkonvention diente anderen Gebirgsregionen wie den Karpaten oder dem Kaukasus als Vorbild für ähnliche Überlegungen. Über die Jahrzehnte mutierte die CIPRA von einer reinen Schutzorganisation zu einer Organisation, die das «Leben in den Alpen» nachhaltig in allen Facetten gestalten möchte. Mit der Jahresfachtagung 1995 am Triesenberg in Liechtenstein unter dem Motto «Tun und Unterlassen» wurde der ganzheitliche Ansatz tragfähig ausgestaltet und vor allem die Anliegen der Bergbevölkerung in die weiteren Aktivitäten eingebaut. Die CIPRA hat sich inzwischen mit ihren Landesvertretungen in der Welt der Kommunikation und Wissensvermittlung herausragend etabliert. Das hat markant mit den erstellten Alpenreports begonnen. Auch der Einbezug der Alpenjugend ist bemerkenswert. Man müsste die CIPRA heute als Interessensvertreterin für den Alpenbogen noch gründen, wenn es sie nicht bereits gäbe.

 

Vordenker für Nachhaltige Entwicklung

Mario Broggi, geboren 1945 in Sierre (Wallis, Schweiz), gründete nach seinem Studium als Forstingenieur an der ETH Zürich ein privates Beratungsbüro mit Sitzen in Liechtenstein, der Schweiz und Österreich. Er erhielt Lehraufträge an den Universitäten von Wien und Basel und leitete als Direktor von 1997 bis 2004 die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Broggi legte seine Visionen für die Zukunft der Alpenlandschaften in einer Reihe von Publikationen dar. Von 1983 bis 1992 war er Präsident der CIPRA, die er grundlegend reorganisierte und professionalisierte, so wurde etwa nachhaltige Entwicklung zum thematischen Schwerpunkt. Während dieser Zeit war Broggi massgeblich am Zustandekommen der Alpenkonvention beteiligt. Er erhielt zahlreiche Ehrungen für seinen Beitrag zum Naturschutz in der Alpenregion und darüber hinaus.

abgelegt unter: 70 Jahre CIPRA, SzeneAlpen