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Schritt für Schritt

26.06.2023 / Julien Defois, Via Alpina-Explorer
Eine Weitwanderung kann uns inspirieren und neue Kraft geben. In einem Essay beschreibt Julien Defois eindrücklich seine Emotionen beim Wandern entlang der Via Alpina.
Bild Legende:
Inspirierende Momente beim Weitwandern entlang der Via Alpina, die durch alle acht Alpenländer führt. © Julien Defois

Meine Füsse baden im noch warmen Wasser des Mittelmeers. 8. Oktober 2022: Ich habe gerade meine zweite Via Alpina-Wanderung beendet. Diese Alpenquerung hat mich zu einem unermesslich reichen Menschen gemacht. Nicht in Euro oder Dollar. Die Berge zu überqueren erfordert, dass man sich von Materiellem trennt. Im Gegenzug wirst du aber mit Schätzen überhäuft, wenn du dein Herz weit öffnest und bereit bist, unsichtbaren Reichtum zu empfangen. Zunächst muss man bereit sein, loszulassen. Sein überladenes Leben, die Identität als Vater, Mutter, Freund:in, Kolleg:in oder Mitarbeiter:in eines Unternehmens hinter sich zu lassen, die Sorgen eines oft allzu belanglosen Alltags abzulegen. Die Berge führen uns zum Wesentlichen zurück: trinken, essen, schlafen, einen Fuss vor den anderen setzen und immer wieder von Neuem beginnen. Das Leben wird sehr einfach und unsere Beziehung zum Lebendigen verändert sich. Schritt für Schritt lernt man die Anmut eines Baumes schätzen, der sich im Wind biegt. Man erfreut sich am Gesang des Wassers in einem Gebirgsbach. Man staunt über die Farben des Himmels in der Dämmerung. Das Leben ist voller Schönheit. Diese Schönheit hat mir die Augen, aber vor allem das Herz geöffnet. In der Wahrnehmung der Schönheit des Lebendigen habe ich eine starke, gelassene und zuversichtliche Freude verspürt. Die Schönheit des Lebendigen zu betrachten, bedeutet, in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren. Die Schönheit des Lebendigen verlässt uns nicht. Sie bleibt da, in Sichtweite, und wartet darauf, dass wir sie erkennen. Ich sehe darin ein Zeichen der Hoffnung: Selbst in den schwierigsten Momenten haben wir immer die Möglichkeit, uns mit dieser Schönheit zu verbinden, einen Moment der Präsenz zu erleben und eine Auszeit von den Sorgen zu nehmen.

Die Berge sind sehr grosszügig. Sie haben mir Freude, Präsenz, Vertrauen und Hoffnung geschenkt. Und das sind so wertvolle Geschenke in dieser unsicheren Welt! Die Alpen zu Fuss zu überqueren war für mich nie eine Frage der körperlichen Leistung. Das Meer zu erreichen, war nicht das Ziel meines Projekts. Ich wollte mir Zeit nehmen und lernen, anders zu leben, in Harmonie mit dem Leben in mir und um mich herum. Ich empfinde eine grosse Dankbarkeit für dieses Lebendige, das sich für die Zeit einer langen Wanderung in den Alpen meiner angenommen hat. Es hat mich innerlich stärker, selbstbewusster und auch meines Glücks bewusster gemacht. Denn diese Schönheit ist kostenlos. Ich betrachte sie und mein Herz wird grösser, liebevoller. Das Leben kümmert sich um uns und verlangt keine Gegenleistung. Und doch gibt es so viel. So komme ich von der Via Alpina mit dem Wunsch zurück, mich um das Lebendige zu kümmern, das uns umgibt. Um mich für alles zu bedanken, was es mir geschenkt hat, damit wir weiterhin gut auf diesem Planeten leben können und vor allem, weil ich das Leben nach dieser Alpenquerung noch mehr liebe. Den Berg sei Dank. Sie haben mich gelehrt, was Ökologie bedeutet.

 

Julien Defois, Bergwanderführer aus Seyne/F, wanderte im Sommer 2022 als einer von 8 «Explorern», unterstützt mit einem Stipendium, auf der überarbeiteten roten Route des Weitwanderweges Via Alpina. Es war seine bereits zweite Wanderung auf der Via Alpina. Dieses Mal widmete er sich literarisch der «inneren Reise» während des Weitwanderns.

Weiterführende Informationen: www.experience-outdoor.com/author/julien-defois

abgelegt unter: SzeneAlpen