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Wie aus einer Misere eine Chance wird
La Grave möchte die Tourismuswende einläuten. Der französische Ort auf rund 1’200 Meter über Meer ist im Winter ein Mekka für Freerider. Eine Gondelbahn aus den 1970er Jahren und zwei Schlepplifte auf dem Gletscher stellen die Infrastruktur. Es gibt zwei Pisten, zwei Restaurants, keinen Rettungsdienst. Die Konzession für die Gondelbahn lief vergangenes Jahr nach 30 Jahren aus. Die Gemeindekassen waren leer, man kam gerade so durch. Kürzere Winter und Probleme mit der Zufahrtstrasse zogen immer weniger Gäste an. Dass die Konzession der Gondelbahn ausläuft, gab den Anstoss, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen.
Eine heftige Diskussion entbrannte. Manche hofften, dass ein Seilbahnbetreiber der angrenzenden Skiarenen Alpe d’Huez oder Les Deux Alpes die alte Gondelbahn übernimmt, neue Pisten planiert und mehr Lifte aufstellt. Die grossen Skiarenen mit ihren Bettenburgen liegen 30 Autominuten von La Grave entfernt, eine Anbindung über den Berg läge in Reichweite. Doch es formierte sich auch eine Interessensgruppe, die sich für La Grave keine zusätzlichen und schnelleren Transportanlagen wünscht, keinen Ausbau von Pisten, Bars und Hotels. «Keep La Grave Wild» lautet deren Leitspruch. Nicht einfach den Winterbetrieb in der heutigen Form wollen die Initianten sichern, sondern sie streben ein ganzheitliches Konzept an, wie es mit dem Ort weitergehen könnte. Mit der Nutzung der Infrastruktur auch im Sommer soll das Risiko verteilt werden, Mountainbike- Trails sollen für mehr Attraktivität und neue Gäste sorgen. Auch eine Stärkung der Landwirtschaft und der erneuerbaren Energieerzeugung steht auf ihrer Prioritätenliste. Mit einer Crowdfunding-Aktion wollten sie das nötige Geld zusammenbringen, um die Konzession und den Betrieb der Gondelbahn übernehmen zu können.
Diskussion starten
Die Interessensgruppe bekam die Konzession für die Seilbahn nicht. Im Mai 2017 wurde entschieden, dass die Seilbahngesellschaft aus dem benachbarten Alpe d’Huez die Gondel in Zukunft betreiben wird – mit der Auflage, dass der Grundcharakter von La Grave bestehen bleibt. Damit dieses Versprechen eingelöst wird, bleibt die Bewegung «Keep La Grave Wild» aktiv. Vanessa Beucher von «Keep La Grave Wild» verbucht die Crowdfunding-Aktion dennoch als Erfolg. Die Summe, die bei der Aktion zusammengekommen ist, wird für eine nachhaltige Dorfentwicklung eingesetzt. Fast wichtiger sei aber, so Beucher, dass die Diskussion in der Region überhaupt gestartet sei. «Wir haben unglaublich viel Unterstützung erfahren von den Leuten.» Ebenso wichtig wie die Vernetzung untereinander seien sichtbare Ergebnisse wie der Mountainbike Trail.
Auch die Nachbar-Gemeinde Alpe d’Huez kämpft. Dort warten Bettenburgen und planierte Pisten auf Gäste und Skifahrer. Die Skiarena ist, wie Les Deux Alpes nebenan, eine der grössten Skidestinationen in den Alpen. Auch hier werfen der Klimawandel, ein verändertes Gästeaufkommen und deren neuen Bedürfnisse Fragen auf. Manchmal fragwürdige, wie die nach dem Ausbau der Infrastruktur, der Erschliessung unberührter Landschaften, der Finanzierung über die öffentliche Hand oder der Eventisierung des Angebots. Manche Tourismusfachleute suchen Antworten in der künstlichen Beschneiung, fordern Investitionen in Millionenhöhe oder den Zusammenschluss und die Erweiterung von Skigebieten.
Die richtigen Fragen stellen
Pauschale Lösungen gibt es keine. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen. Wie können die Dörfer weiterhin ein gutes Leben für Einheimische und Gäste bieten? Wie können die vorhandenen Ressourcen genutzt und gleichzeitig langfristig gesichert werden? Welche Strategien sind langfristig erfolgversprechend und tragbar? Gerade Destinationen in tiefen und mittleren Lagen sind angesprochen. Es sind die Natur, die Bäume, die Felsen, Steine, Gämsen, Blumen, der Himmel, die die Menschen in die Berge locken, und zwar das ganze Jahr über. Möglichkeiten, diese Natur zu erleben, gibt es viele. Möglichkeiten, wie man Gästen die eigene Kultur und das Brauchtum, Spezialitäten und Besonderheiten der Region näherbringen kann, fehlen indes mancherorts. Welche Ressourcen und Schätze stellt die Umwelt zu Verfügung, welche Fähigkeiten und welches Wissen besitzen die Beteiligten? Die Bewohnerinnen und Bewohner in den Alpen haben es in ihrer Hand, diese in Wert zu setzen.