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«Man hat den Raum gefunden, aber noch nicht die Werte»

02.09.2014
Der grenzüberschreitende Raum werde künftig nicht mehr von Staaten bestimmt, sagt der Geograf Bernard Debarbieux, sondern von Gebietskörperschaften, die Kooperationen ins Leben rufen wollen. Doch die Inhalte, die diesen Raum füllen sollen, seien noch ungewiss.
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Bernard Debarbieux stellt fest, dass das Zugehörigkeitsgefühl zu den Alpen in den letzten Jahren gewachsen ist. © Frank Mentha

Was unterscheidet die Berge vom Flachland, aus gesellschaftspolitischer Sicht?

Seit etwa einem Jahrhundert erkennt man, dass die Bergregionen besondere Probleme haben, die besondere politische Massnahmen erfordern. Natürlich hat es die Berge schon immer gegeben. Aber die Tatsache, dass man sich Gedanken macht über die Besonderheiten dieser Gebiete, nicht zuletzt aus politischen Gründen, ist ein relativ neues Phänomen.

Wie hat sich der Blick der Politik auf die Berggebiete in den letzten Jahrzehnten verändert?

Mitte des 20. Jahrhunderts dachte man, dass die Berggebiete den Anschluss an die nationalen und europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme verpasst haben. Deshalb wollte man eine Bergpolitik entwickeln, die dafür sorgt, dass die Bevölkerung und die Wirtschaft in den Alpen auf den Zug aufspringen können. Heute geht es den alpinen Regionen mehrheitlich gut, insbesondere dank des Tourismus und der Wasserkraft. Man könnte daher annehmen, dass es keiner Bergpolitik mehr bedarf. Wir stehen jedoch heute vor neuen Herausforderungen, und deshalb ist der Bedarf für eine Alpenpolitik nach wie vor gegeben, wie in den Bereichen Umwelt oder Verkehr.

Was bringt eine spezifische Bergpolitik?

Es gibt Länder – wie die USA oder Kanada –, in denen es nie eine echte Bergpolitik gegeben hat. Sie haben vielmehr eine sektorale Politik betrieben, zum Beispiel im Bereich Wald oder Naturschutz. Die Bergregionen haben von dieser Politik profitiert, ohne als solche anerkannt zu werden. Aber wenn man sich gleichzeitig um Themen wie Wald, Natur, Abwanderung, Erbe kümmern will, braucht man das, was man als Raumordnungspolitik oder Regionalpolitik bezeichnet. In der Schweiz, in Frankreich und auch in Italien hat man die Vorteile einer Bergpolitik erkannt, die alle Aspekte der Entwicklung und Raumordnung einbezieht.

Betrachten Sie die Berge als Allgemeingut?

Das, was man als «Allgemeingut» bezeichnet, ist normalerweise etwas, das nicht in Privatbesitz ist. In den Berggebieten gibt es jedoch viele Eigentümer von Grundstücken, Gebäuden und Wäldern. Deshalb sind die Berge kein Allgemeingut, wie zum Beispiel die Luft oder die Meere. Dennoch kann man die Berge als eine besondere Art von Allgemeingut betrachten, da sie Güter zur Verfügung stellen, die für alle von Nutzen sind – zum Beispiel Wasser, Biodiversität oder Landschaften – und deren Vielfalt und Zugang für alle erhalten werden sollten.

Wer soll entscheiden, was in und mit den Bergen geschieht?

Es geht darum, ein subtiles Gleichgewicht zu wahren zwischen den privaten Eigentümern, der ansässigen Bevölkerung und der breiteren Gesellschaft, in der diese Bevölkerung integriert ist . Das setzt eine komplementäre Sichtweise der jeweiligen Bedürfnisse, Rechte und Pflichten in Bezug auf die Berggebiete voraus. Im Sinne dieser Idee von Allgemeingut sollten alle  zumindest an der Reflexion und nach Möglichkeit auch an der Verwaltung der Berggebiete beteiligt sein.

Gibt es so etwas wie eine alpine Identität?

Noch vor 20 Jahren hätte ich diese Frage mit Nein beantwortet. Wenn man «Identität» als kollektives Zugehörigkeitsgefühl und nicht als objektive Besonderheit versteht, hätte es für mich damals keinen Anlass gegeben zu glauben, dass die Menschen in Tirol, in der Lombardei oder in der Provence ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl haben. Zugehörigkeitsgefühle sind in den Alpen historisch sehr lokal geprägt oder an regionale oder nationale Identitäten gebunden. Das hat sich jedoch in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Die Alpenkonvention hat zur Gründung von Zusammenschlüssen wie dem Netzwerk alpiner Schutzgebiete Alparc beigetragen: Die Verwalter der Schutzgebiete arbeiten heute zusammen und tauschen sich aus, wodurch ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl entsteht. Die CIPRA selbst hat, lange vor der Alpenkonvention und den aus ihr hervorgegangenen Netzwerken von Akteuren, aus ihrer Mitte heraus einen gemeinsamen Bezug zu den Alpen entwickelt. Dieses Zugehörigkeitsgefühl ist in den letzten 20 bis 30 Jahren stark gewachsen.

Welche Bedeutung haben die Alpen für die Länder Europas?

Die Alpen waren lange Zeit eine politische Grenze. Heute erkennt man zunehmend ihr Potenzial als Ressource im Herzen Europas mit besonderen Merkmalen, die alle Europäer betreffen, wie der Landschaft, der Tourismusorte, der Wasserkraft.

Zurzeit wird eine makroregionale Strategie für die Alpen ausgearbeitet. Ist diese neue Form der Zusammenarbeit Ausdruck einer neuen Interpretation: weg von der geographischen Definition hin zu einer funktionalen?

Nein, ich glaube nicht, dass die Definition der Alpen funktionaler geworden ist. Der Perimeter der Alpenkonvention entspricht einem Viertel der Fläche der zukünftigen Makroregion. Es handelt sich also nicht um denselben geografischen Raum. Viele entwicklungs- oder umweltpolitische Massnahmen sind umso wirksamer, je stärker sie die Verflechtungen zwischen verschiedenen Raumtypen berücksichtigen. Schauen Sie, was im Naturschutz passiert: Man hat Ökosysteme durch Nationalparks geschützt, dann hat man gemerkt, dass es Verbindungen zwischen den Schutzgebieten braucht. Also hat man begonnen, ökologische Korridore einzurichten. Dasselbe kann man auch in anderen Bereichen wie dem Tourismus oder der Wasserwirtschaft tun. Den Perimeter verändern, ohne die Alpenkonvention zu verlassen, bietet auch die Möglichkeit, Berg- und Nichtberggebiete gemeinsam zu verwalten und entwickeln.

Die makroregionale Strategie basiert auf transnationaler Zusammenarbeit und Solidarität. Gleichzeitig nehmen die nationalistischen Tendenzen in den europäischen Ländern zu. Wie sehen Sie die Entwicklung der Strategie vor diesem Hintergrund?

Das mag widersprüchlich klingen. Aber es gibt einen weiteren Faktor: Die zunehmende Autonomie der Regionen. Das trifft seit langem auf föderale Staaten wie die Schweiz, Deutschland oder Österreich zu. Seit kurzem gilt es auch für Italien und Frankreich, wo Zuständigkeiten an die Regionen, Provinzen, Departemente oder Kantone übertragen wurden. Diese Gebietskörperschaften spielen eine führende Rolle bei der Ausarbeitung der makroregionalen Strategie für den Alpenraum. Der grenzüberschreitende Raum von morgen besteht nicht mehr aus Staaten, die eine Alpenkonvention unterzeichneten oder erneut unterzeichnen. Der grenzüberschreitende Raum von morgen besteht aus regionalen oder nachgeordneten Gebietskörperschaften, die Kooperationsnetzwerke und Kooperationsräume ins Leben rufen wollen. Diese haben die Vorteile einer grenzüberschreitenden Kooperation in einem europäischen Rahmen erkannt.

Welche Risiken bringt dieser Prozess mit sich?

Die Anliegen der Akteure im Alpenraum könnten in einem «Makro-Kontext» weniger Gehör finden. Denn die grossen Regionen und Städte haben demographisch, wirtschaftlich und politisch mehr Gewicht als die alpinen Kernregionen. Die grösste Herausforderung wird sein, dass sich die grossen Städte mit den Berggebieten auf Programme einigen, die im Sinne der Gleichheit und Solidarität beiden Seiten gerecht werden. Man hat den Raum gefunden, aber noch nicht die gemeinsamen Werte, auf deren Basis die Menschen in diesem Raum zusammenarbeiten können.

Wie können die CIPRA und die anderen alpinen Netzwerke zur Entwicklung einer solidarischen und ausgewogenen makroregionalen Strategie beitragen?

Die CIPRA und die anderen alpinen Netzwerke können ihre langjährige Erfahrung und Tätigkeit einbringen: 60 Jahre im Falle der Cipra, zehn bis 20 Jahre im Falle der anderen Netzwerke. Ihre Initiativen verdienen es, als Beispiele und Arbeitsmodelle in den erweiterten Perimeter der Makroregion übernommen zu werden. Es ist denkbar, dass auf dieser Basis Kooperationsformen zwischen den alpinen Netzwerken und den Netzwerken, die es in Zukunft auch ausserhalb der Alpen geben wird oder geben könnte, entwickelt werden.         

Wie lautet Ihr Wunsch für die Alpen?

Alle Akteure im Perimeter der Alpen – Einwohner, Erwerbstätige, Eigentümer, Verwalter – sollten ein gemeinsames Verantwortungsgefühl entwickeln können. Sie sollen sich als «Miteigentümer» oder «Mitverantwortliche» einer Region fühlen, und diese Verantwortung soll sie dazu bringen zu handeln; ein wenig nach ihren eigenen Interessen, aber auch im Dienste gemeinsamer Visionen.

Interview: Barbara Wülser
CIPRA International

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Wissenschaftler mit Auftrieb

Bernard Debarbieux, geboren 1959 in Lille/F, ist Professor für Politische Geografie und Raumordnung sowie Leiter des Geografieinstituts an der Universität Genf/CH. Nach seinem Geografiestudium in Grenoble/F folgten Lehraufenthalte in Paris, New York und Montreal. Schon früh entwickelte Debarbieux eine grosse Leidenschaft für die Berge, welche seine Forschungsinteressen langfristig prägen. Debarbieux beschäftigt sich vorwiegend mit der Regionalentwicklung in Bergregionen auf nationaler, regionaler und globaler Ebene sowie mit der geografischen Perzeptions- und Identitätsforschung.


Quelle und weitere Informationen: www.cipra.org/szenealpen