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Kurzgeschichte: Von Kühen, Drohnen und Sitzfleisch

27.12.2022 / Thomas Reinstadler, Berge Lesen 2022
Zukunft als Veränderung, Alpabtrieb per Drohne, Menschen als Gedankenwesen, Hightech-Gesellschaft ohne Empathie, Wildtiere in einer Winternacht: Wir präsentieren die dritte von fünf Kurzgeschichten, die bei der Berge-Lesen-Veranstaltung 2022 in Schaan ausgezeichnet worden sind.
Bild Legende:

„Katastrophe! Die reinste Katastrophe!“ hallte es aus dem ersten Stock an der Alpstraße 25a. So hatte sich Anne ihren Besuch wahrlich nicht vorgestellt. Sie folgte dem lauten Fluchen, stieg die Treppen empor und trat dann, ein wenig aufgeregt, durch die Tür mit der Aufschrift: „CEO – Rheinalp AG – J. Schlandauer J.“
„Das kann doch nicht wahr sein!“ Der Mann am Schreibtisch, in flamingofarbenen Thermostiefeln und im durchgeschwitzten, azurblauen Edelweißhemd, schnappte nach Luft. Er schnaubte, hämmerte auf seinen Schreibtisch und schrie aus vollem Halse: „Und warum geht der verdammte Moser nicht ans Telefon?“ „Es brennt wohl an der Milchfront?“ machte sich die Eintretende bemerkbar und lächelte gewinnend. Überrascht verstummte der fleischgewordene fluchende Vulkan und drehte sich um. CEO Josef Schlandauer Junior war nämlich Annes Vater, hauptberuflicher Milchtechnologe in fünfter Generation. Anne Schlandauer Smith, am elterlichen Hof behütet aufgewachsen, mit 18 Jahren die halbe Welt bereist, mit 25 Beste ihres Jahrgangs in Cambridge und mit nun 41 Jahren, auch die restliche Welt bereist, kinderlos und glücklich geschieden, war „Chief Creative Officer“ einer Neuseeländischen Seepferdchenzucht. Sie war auf zweiwöchigen Heimaturlaub. Papas Natel klingelte. Endlich der ersehnte Rückruf. „Chaos! Ein beschissenes Chaos!“ Es folgte eine fünfminütige Schimpftirade und als sich der Tobende in seinen Thermostiefeln einigermaßen beruhigt hatte, fragte eine stoische, sonore Stimme am anderen Ende der Leitung: „Seppl, wo liegt das Problem?“
„GVE-109 fehlt!“ schmetterte Schlandauer Junior ins Telefon.
„Hä?“
„Drohne S109 war leer!“
„Hä, was?“
„Verdammt! Maja, die beschissene Kuh vom Gustl Kügler fehlt!“
„Oh verdammt!“ entgegnete Moser, mittlerweile etwas angespannter.
Karl Moser, von allen nur Flying-Charlie genannt, war dank eines zweitägigen Drohnenkurses in Chur, der Chief Technology Officer der Rheinalp AG und der Schwager Schlandauers. Mosers 17jährige Amtszeit war bisher relativ ruhig verlaufen. Bis exakt genau vor sechs Minuten.
„Seppl, ist sie UA1 oder UA2?“ hakte Flying-Charlie nach.
„Hä?“
„War GVE-109 unerlaubt abwesend oder ist GVE-109 untätig anwesend?“
„Hä, was?“
„Verdammt! Ist die Scheißkuh vom Gustl bloß nicht in die Drohne eingestiegen oder ist das Vieh tot?“ schnaubte nun der Cheftechniker.
„Ersteres!!“
„Chaos! Ein beschissenes Chaos! Ich bin gleich in der Zentrale.“
Während CEO Schlandauer und CTO Moser eifrig diskutierten und verzweifelt nach den
Notfallprotokollen suchten, schweifte Anne in Gedanken ab. Sie erinnerte sich, wie ihr Großpapa, Josef Schlandauer Senior, als Pionier des Alpviehdrohnentransportes betitelt wurde. Oft genug, mitunter viel zu oft, hatte ihr Opa Joe von den Anfängen erzählt und wie er das Alpleben revolutioniert hätte. Nach dem Wolfdisaster von 2023 und dem darauffolgenden Jahrzehnt mit über 60% Verweisung der Bündner Almflächen, sah er sich zum Handeln gezwungen, begann er die Erzählungen seiner eigenen Legendenbildung. Die Almbewirtschaftung war im Niedergang. Wasserknappheit, Trockenheit und zunehmender Weidemangel waren nicht das größte Problem. Das einsetzende Lohndumping gegenüber dem Alppersonal war ebenfalls kein entscheidender Faktor für den schleichenden Niedergang, denn hoffnungslose Romantiker oder hoffnungsvolle Verzweifelte gab es für die Alparbeit zuhauf. Auch diverse Prozesse im ganzen Kanton, angestrengt von eifrigen Touristen, aufgrund übermäßiger Geruchs- oder Lärmbelästigung verursacht von der alpinen Lebendviehsubstanz, waren ebenfalls nicht ausschlaggebend für den Genickbruch des traditionellen Älplerlebens. Am unaufhaltsamen Untergang trug der Wolf jedenfalls nicht die alleinige Hauptschuld, so Opa Joe in seinen Erzählungen. Und Anne erinnerte sich dabei häufig an ihre Vorlesungen über die Genforschung der 2030er Jahre. Zürcher Forschern war es gelungen Schafen aggressive Diabeteszellen einzupflanzen.
Der Wolf erkrankte an seiner Beute. Die Schafe nicht. Sie mutierten zu Wolfskillern im Schafspelz. Der Kreislauf des Lebens, der dem unliebsamen Jäger Diabetes brachte und seinen Kreis des Daseins vorzeitig und äußerst schmerzhaft schloss. Alibigründe gäbe es genug, aber Großvater stellte immer klar, dass es bloß einen Schuldigen gab: „Das Sitzfleisch des Menschen ist sein Untergang. Und wenn er seinen fetten Arsch nicht hochbekommt, muss man eben jenen noch mehr füttern.“
So ging er in den Keller und grübelte über die Zukunft der schweizerischen Almwirtschaft, pflegte Opa fortzufahren. Kurzum erfand Schlandauer Senior das Drohnenprogramm und 13 Jahre nach dem Gang in den Keller flog die erste Drohne mit einer Kuh auf die Rheinalp und zurück. 2 Jahre später folgten die ersten Flugmelkdrohnen welche die Kühe nicht nur transportierten, sondern auch molken. Das Almleben sollte sich tiefgreifend verändern. Anfangs gab es heftige Proteste und einige sprachen gar von einer technologischen Erdolchung der Tradition, doch die unersättliche Gier nach Profitoptimierung und der gleichzeitige Wunsch nach Arbeitsreduktion gewannen. Kurzum: Das Sitzfleisch siegte!
Ein Pfiff riss Anne aus ihren Erinnerungen.
„Begleitest du uns?“
„Wohin denn Papa?“
„Die verdammte Maja suchen!“
Schlandauer Junior war fast zur Tür hinaus, Moser saß bereits im Jeep. Anne folgte und nahm auf dem Rücksitz Platz. „Habt ihr sie eigentlich gefunden?“ vergewisserte sie sich.
„Das haben wir!“
„Super Papa, dann musst du mir bloß noch erklären, was ich machen soll und wie wir die Maja ins Tal bekommen?“ CEO Schlandauer und CTO Moser blickten sich an und Anne bemerkte eine gewisse Ratlosigkeit auf den Vordersitzen.
„Ähm...!“ Eine kurze Pause, bevor Papa fortfuhr: „Das überlegen wir uns dann.“
Der Jeep mit dem dreiköpfigen Suchtrupp hatte die Alp fast erreicht, als Charlie abrupt das Auto stoppte, sich zu seinem Schwager drehte und sich beide fragend ansahen. Gleichzeitig brach es aus ihnen heraus: „Verdammt, wie milkt man eigentlich eine Kuh?“
...

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