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Kurzgeschichte: Der Blick nach oben

26.12.2022 / Carmen Sprenger-Lampert, Berge Lesen 2022
Zukunft als Veränderung, Alpabtrieb per Drohne, Menschen als Gedankenwesen, Hightech-Gesellschaft ohne Empathie, Wildtiere in einer Winternacht: Wir präsentieren die zweite von fünf Kurzgeschichten, die bei der Berge-Lesen-Veranstaltung 2022 in Schaan ausgezeichnet worden sind.
Bild Legende:

In meinem Häuschen mit Garten und Blick auf die wunderbaren Berge habe ich einen weiteren Tag hinter mich gebracht. Eigentlich bin ich sehr privilegiert, denn in meiner Nachbarschaft stehen nur mehr Mehrfamilienhäuser mit Kleinwohnungen, die mir glücklicherweise noch einen Blick zu den geliebten Bergen ermöglichen. Die Strafsteuer, die ich für mein altes, energieineffizientes Haus bezahle, spare ich mir gerne von meinem Mund ab. Denn mein Häuschen ist mein Nest und bietet mir viel Freiheit. Ein Blick auf die Uhr und auch meine Müdigkeit verraten mir, dass für die 97-jährige Madame Bettzeit ist. Dabei sehne ich mich nach einem Traum aus einer Zeit, in der das Leben weniger belastend war. Eine Zeit, in der die Menschen herzhaft lachten, sich in die Arme nahmen, trafen und bei einem Glas Wein über das Leben diskutierten.

Mein Zubettgehen beinhaltet ein Innehalten sowie ein Dank an den Herrgott, dass ich wieder einen Tag selbstständig geschafft habe. In meinem Alter keine Selbstverständlichkeit. Die meisten meiner Jahrgänger sind bereits verstorben. Diejenigen, die noch leben, werden im Altenheim von Robotern gepflegt. Diese überall anzutreffenden Roboter erscheinen mir ungeheuerlich. Das Einkaufen macht mir auch keinen Spass mehr, seit das Verkaufspersonal durch Roboter ersetzt wurde. Hinzu kommt die Tatsache, dass ich in vielen Geschäften mit Bargeld nicht mehr bezahlen kann.

Seit einer Weile ist dieses Innehalten ein belastender, schlafraubender Prozess. Die Zukunft meiner Lieben beschäftigt mich sehr. Diverse apokalyptische Prophezeiungen generieren eine schwere Stimmung – Umweltkatastrophen, Pandemie, Krieg mit all seinen hässlichen Effekten, Flüchtlingskrise… Krise um Krise! Eigentlich könnte ich sagen, mich tangiert das alles sowieso nicht mehr lange. Aber eben, die Liebe zu meinen Nachkommen, die Liebe zur Natur…

Auch die Gespräche mit meinen Enkeln schwingen nach. Ich kann nur mehr mit den Schultern zucken, wenn diese jungen Menschen in einer Selbstverständlichkeit von Transhumanismus, implantierbaren Technologien, Designerfood auf Gentechnikbasis, Robotern, Geschlechterwechsel, Kinder auf Bestellung, selbstfahrenden E-Autos, Abschaffung des Bargeldes, elektronische Überwachung, Gesichtserkennung, Strichcodes, Social-Kredit-System usw. sprechen. Gerade dieser Transhumanismus bereitet mir grosses Kopfzerbrechen. Aber auch die Freiheitseinschränkungen und Machtverlagerungen – wohlbemerkt ist Freiheit kein Geschenk, denn die Menschen mussten dafür kämpfen. Heisst modern vielleicht, dass sich gewisse macht- und geldgeile Menschen als Gott betätigen? Wo ist der Respekt gegenüber der Natur? Welche Bedeutung haben Ethik und Moral überhaupt noch?

Gedankensprung - reicht das Geld für die Weihnachtsgeschenke meiner Lieben, oder muss ich die nächsten Monate auf gewisse Dinge verzichten? Die Rente reicht seit langem nicht mehr, um meinen Alltag zu finanzieren. Ich bin froh, dass ich ein bescheidenes Leben gewohnt bin.

Meine treue Katze ist auch immer in meinen Gedanken. Am Morgen bat sie mich mit ihrem schmeichelnden Blick am Küchenfenster um Einlass. Beim Fensteröffnen blickte ich hoch zu den Bergen. Ach Gott, wie viele Stürme und Krisen habt ihr schon hinter euch – wohlbemerkt ungeschützt und seit vielen Millionen Jahren existierend. Was gab es schöneres, als den kräftezehrenden Weg zum Gipfelkreuz auf sich zu nehmen und dann mit dem Blick ins Tal belohnt zu werden. Freiheit pur, dem Himmel so nah – ein Perspektivenwechsel, der so manches Problem relativierte und die hektische Welt im Tal klein erscheinen liess – regelrecht kleingeistig. Schade, heutzutage bevorzugen viele Menschen eine virtuelle Welt - zuhause auf dem Sofa sitzend. In die Berge zu gehen sei zu mühsam und gefährlich.

Mittlerweile ist die Welt, in der ich lebe, aufgrund meines Andersseins gepaart mit dem hohen Alter, sehr klein. Doch in dieser kleinen, anderen Welt darf ich noch herkömmlich Mensch sein. Meine Katze ist dabei meine treue Partnerin, die mit mir kuschelt. Die Jungen halten Abstand – sie haben Angst, mich mit einem Virus zu infizieren.

Jetzt fallen mir fast die Augen zu und mein letzter Gedanke gilt einmal mehr den Bergen: Ihr felsigen Riesen bleibt vom irdischen Wahnsinn verschont, bleibt weiterhin standhaft – in der Hoffnung, dass noch viele Menschen den Reichtum eures Seins erleben können.

Ja, es ist mir bewusst, dass ich zwischenzeitlich eine altmodische Exotin in dieser digitalisierten, unmenschlichen Welt bin. In Anbetracht dieser Erkenntnis frage ich mich immer wieder, ist das alles wirklich modern? Wir lernten noch, wie man überlebt. Die heutigen Jungen absolvieren mehrere Ausbildungen, sind vielfach studiert, haben aber nie gelernt, wie man in schwierigen Zeiten überlebt. Eine wahre Wohlstandsgesellschaft – aber Achtung, der Wohlstand schwindet!

Mein Platz in dieser empathielosen, armseligen «Hightech-Gesellschaft» wird immer kleiner – darüber bin ich immer wieder traurig. Wird es Zeit, dass mich der Herrgott holt? Als ich meinem Arzt von den mich betrübenden Gedanken erzählte, wollte er mir stimmungsaufhellende Pillen verabreichen, die angeblich auch junge Menschen zu sich nehmen. Dankend lehnte ich ab und bevorzugte das Johanniskraut aus meinem Garten - obschon Naturheilmittel nur mehr belächelt werden. Meine Nachbarn schütteln immer wieder den Kopf, dass ich mir diese Gartenarbeit antue. Es gäbe Functional Food sowie Nahrungsergänzungsmittel zu kaufen, die keinen platzintensiven Garten benötigen und die Hände nicht schmutzig machen. Dafür müsse ich nicht einmal ausser Haus gehen, sondern alles werde mir ins Haus geliefert. Sind das etwa die Flugobjekte, die da täglich mehrfach um mein Haus schwirren und einen Botendienst verrichten?

Ach Gott, bin ich froh, dass ich schon so alt bin. Ja, der Blick nach oben, zu meinen geliebten Bergen lässt mich das alles besser ertragen - bis ich gerufen werde: «Komm’ zurück nach Hause!»

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