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Bringt die Makroregion uns einen Schritt weiter?

02.09.2014
Wie viele grosse politische Vorhaben wurden im Keim erstickt und wie viele grosse gesellschaftliche Fragen warten immer noch auf Antworten! Gehört die europäische Strategie für die Alpen auch dazu? Nicht, wenn sie die richtigen Fragen aufgreift und wenn sie eine umfassende, hoch stehende Debatte ermöglicht.
Bild Legende:
Vom Empfänger zum Sender: In einer Multi-Level-Governance spielt die Bevölkerung eine aktive Rolle. © Walter Reich, pixelio.de

Die Dogmen des wirtschaftlichen Liberalismus, auf den der Neoliberalismus folgte, und des Wachstums sind in den Alpen, wie auch sonst überall, fest verankert. Wachstumsrate und Bruttoinlandsprodukt (BIP) sind Leit-Indikatoren für den Wohlstand und Fortschritt einer Nation. Weder Aktivitäten ohne monetären Gegenwert noch die Qualität sozialer Bindungen und nicht einmal der Natur- und Kulturreichtum werden berücksichtigt bei der Bestimmung des Wohlstands eines Landes.

Aus dieser Sicht waren die Alpen nach dem Kriegsende «rückständig». Heute trifft das nicht mehr zu, wie Bernard Debarbieux im Interview schildert (S. 14). Aber die damalige Staats- und Wirtschaftspolitik hat zu neuen Problemen in den Alpen geführt: Klimawandel, Konflikte im Zusammenhang mit der Energiewende, Globalisierung der Wirtschaft, soziale und wirtschaftliche Unterschiede zwischen den Tälern, demographischer Wandel, wachsende Mobilitätsbedürfnisse, die Bedrohung der biologischen Vielfalt und der Umwelt. Die von mehreren Regionen initiierte Makroregion Alpen muss den Ehrgeiz haben, Antworten auf diese Herausforderungen zu finden. Diese Aufgabe wird durch die Tatsache erschwert, dass die Makroregion selbst das Ergebnis einer neoliberalen Denkweise ist, die der Strategie «Europa 2020» zugrunde liegt. Kann die Makroregion eine Bresche schlagen, um der Debatte eine neue Richtung zu geben?

Wohlstand neu definieren

Nun, wenn man Albert Einstein Glauben schenken darf, dann «kann man ein Problem nicht mit der gleichen Denkweise lösen, mit der es erschaffen wurde». Es ist daher illusorisch zu glauben, dass die wirtschaftliche, soziale, ökologische und politische Krise in den Alpen wirksam bekämpft werden kann, ohne dass man sich zunächst Gedanken macht über die neoliberale Logik und das politische System, das diese Logik stützt. Wir sollten also damit beginnen – wie unter anderem die französische Soziologin Dominique Méda vorschlägt –, offen über den Wechsel zu einem Modell zu diskutieren, das auf der Aufwertung von bisher vernachlässigten Wohlstandsfaktoren basiert. Wir sollten neue Wohlstandsindikatoren schaffen, indem wir zum Beispiel die Kaufkraft durch die «Kraft der nachhaltigen Nutzung» oder die «Kraft des guten Lebens» ersetzen und von einem quantitativen zu einem qualitativen Ansatz wechseln. Die Debatte muss auf allen Ebenen geführt werden, wo die Zukunft auf dem Spiel steht. Die Makroregion ist eine davon.

Neuer Wohlstand – neue Demokratie

In der Debatte über einen neuen Wohlstand oder neue Werte müssen wir neue Denk-, Entscheidungs- und Handlungsweisen anstossen. Die Erneuerung unserer demokratischen Prozesse ist dabei eine Voraussetzung, aber auch eine Chance. Im Initiativpapier von Oktober 2013 werden die VertreterInnen der Zivilgesellschaft von den Initianten der Makroregion aufgefordert, sich an der Strategie zu beteiligen, die «einen Rahmen für die Governance und  Zusammenarbeit auf allen Ebenen zwischen den EU- und Nicht-EU-Ländern, den Alpenregionen von Ost nach West und von Nord nach Süd sowie mit den bestehenden Organisationen und Institutionen bietet». Eine solche Governance sollte vor allem sicherstellen, dass Entscheidungen nachvollziehbar und offen, mit Transparenz und sozialer Gerechtigkeit getroffen werden (siehe SzeneAlpen Nr. 96 «Unser Wille geschehe»).

Wer ist legitimiert?

Es ist ein grosses Projekt, das die Unterstützung aller braucht: der Bevölkerung – der so genannten Zivilgesellschaft –, der gewählten Vertreterinnen, der Verwalter, der Unternehmerinnen, der Wissenschaftler. Die Governance beruht auf einer veränderten Rolle der gewählten Vertreter und Verwaltungen, die in erster Linie zu Vermittlern in den Verhandlungsprozessen mit der Zivilgesellschaft werden. In einem solchen Multilevel-Governance-System spielen die Bürgerinnen und Bürger eine aktive Rolle. Sie delegieren die Entscheidungskompetenz und die Verantwortung nicht mehr an «Autoritäten». Die Bürgerinnen und Bürger sind nicht mehr nur Wähler, Steuerzahler oder Leistungsempfänger. Sie tragen mit ihren Ideen und Erfahrungen aktiv dazu bei, innovative Prozesse, Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln, um den gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. Gewiss, einen neuen Weg einzuschlagen, ist nicht ohne Risiko. Aber den alten Weg weiterzugehen, birgt ebenfalls Risiken.

Chance ergreifen

Der Bevölkerung und den Alpen-AkteurInnen die Möglichkeit geben, die Zukunft in den Alpen gemeinsam zu gestalten, den Wechsel hin zu einem neuen Wohlstand und einer modernen Demokratie zu unterstützen und eine Ideenschmiede für die Zukunft schaffen: Das sollte das Ziel der europäischen Strategie für die Alpen sein. Nur in einem kreativen und offenen Prozess können Antworten auf die Fragen gefunden werden, die sich in den Bereichen Wirtschaft, Verkehr, Energie (S. 19), Demographie, Biodiversität und Landschaft stellen.

Claire Simon
CIPRA International


Quelle und weitere Informationen: www.cipra.org/szenealpen


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