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Im Gespräch mit Franz Josef Radermacher «...und zum Schluss werden wir noch panisch»

08.06.2010 / Barbara Wülser
Zehn Milliarden Menschen werden die Welt um 2050 bevölkern – und dies bei schwindenden Ressourcen. Auch die Alpen werden nicht verschont bleiben von den globalen Umwälzungen. Um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, brauche es eine globale Ordnungspolitik, fordert Franz Josef Radermacher.
Globalisierungsgestalter mit Weitblick
Bild Legende:
Franz Josef Radermacher ist ein vielgefragter Experte für Globalisierungsgestaltung, Innovation, Technologiefolgen, umweltverträgliche Mobilität, nachhaltige Entwicklung und die Überbevölkerungsthematik. Der bald 60-Jährige erlangte international Bekanntheit durch sein Eintreten für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft und durch sein Engagement in der «Global Marshall Plan Initiative». Diese setzt sich seit 2003 ein für eine gerechtere Globalisierung, für eine Welt in Balance. Von 1987 bis Ende 2004 leitete Radermacher das Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW), seit 2005 das Nachfolgeinstitut FAW/n in Ulm/D, wo er an der Universität auch als Professor für Datenbanken und Künstliche Intelligenz wirkt. Seit 2002 ist Radermacher zudem Mitglied des Club of Rome. © Barbara Wülser - CIPRA International
Herr Radermacher, sind Sie ein Optimist?
Ich bin ein optimistischer Pessimist.

Heisst das, Sie geben sich Mühe, optimistisch zu bleiben?
...in einem Umfeld, das nicht einfach ist.

Hat sich das im Laufe der letzten 30 Jahre verändert?
Meine Sicht auf die Verhältnisse ist relativ konstant geblieben. Es hat sich zwar in der Zeit viel getan, aber eher im Sinne einer Zuspitzung, wie auf einem Grat in den Alpen: Man ist weder rechts noch links runter gefallen, man hat sich weiterbewegt auf diesem Grat auf das Ende des Grats zu. Irgendwann wird man sich entscheiden müssen, wohin man sich bewegt. Wir lavieren uns bisher durch, und das Positive und das Negative halten sich gegenseitig die Waage.

In der Studie "Die Grenzen des Wachstums" des Club of Rome forderte Dennis Meadows 1972, man müsse die Wachstumsvoraussetzung ändern, sonst komme es bis 2010 zum Kollaps. Seither ist das soziale Gefälle grösser geworden, die Ressourcenausbeute hat zugenommen, Nahrungsquellen versiegen, die fossilen Energieträger sind in wenigen Jahrzehnten erschöpft. Was nützt es, Szenarien zu entwerfen, wenn alles gleich weitergeht?
Meadows hat mit dem Club of Rome sehr viel dazu beigetragen, dass es ein neues Denken und eine gewisse Entkoppelung von Wirtschaften und immer höheren Energieverbrauch gibt. Es gibt heute das Thema der Nachhaltigkeit, es gibt Menschen, die sich um eine höhere Ressourcenproduktivität bemühen, es gibt Leute, die für eine bessere globale Governance kämpfen (siehe Kasten Seite 15 unten) - und das alles hätte es in der Form nicht gegeben, wenn es diesen Anfang nicht gegeben hätte. Durch die Weltfinanzkrise sind uns Probleme bewusst geworden, die die meisten vorher nicht gesehen haben. Dennis Meadows würde sagen: Unter Ressourcenaspekten hat sich die Lage verschlimmert. Aber unter Governance-Aspekten hat sie sich mit der Auflösung der Sowjetunion und jetzt mit der Konstituierung der Gruppe der G-20, der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, verbessert. Und insofern ist alles nach wie vor in der Schwebe. Aber wir können diesen Schwebezustand nicht beliebig lange durchhalten.

Weltweite Gerechtigkeit wird es nicht geben, ohne dass wir in der reichen Welt Einbussen erleiden. Wie ist das politisch durchsetzbar?
Ich stimme dieser These in dieser Zuspitzung nicht zu. Ich glaube, dass wir bei intelligentem Handeln andere Optionen haben. Die reiche Welt kann in Zusammenarbeit mit der heute armen Welt durch die richtige Form der Querfinanzierung und die richtige Form der Governance höchst attraktive Prozesse der technischen und gesellschaftlichen Innovation in Gang setzen in einer Weise, dass wir ohne weiteres unseren Lebensstandard halten und die andern aufholen können. Das ist dann zwar nicht dieselbe materielle Form von Lebensstandard wie heute, aber eine über neue Technologien und neue Regeln herbeigeführte, andere Form von mindestens gleichem Wohlstand.

Meadows sagt auch: Es braucht eine Kontrolle des Bevölkerungswachstums, eine Reduktion des Schadstoffausstosses und eine Einschränkung des Konsums. Was halten Sie davon?
Nehmen wir es der Reihe nach. Erstens: Es braucht eine Kontrolle des Bevölkerungswachstums. Ich würde sagen, wenn wir es richtig machen, bekommen wir einen reichen, ausgeglichenen Globus mit Frauen, die dieselben Rechte haben wie Männer. Nach aller historischen Erfahrung senkt das von alleine die Reproduktionsrate unter zwei, die Zahl der Menschen wird wieder kleiner. Wir erleben das heute schon in Europa. Das würde ich nicht als Bevölkerungskontrolle bezeichnen, hat aber deutliche Wirkung.

Zweitens: Reduktion des Schadstoffausstosses.
Völlig klar. Eine vernünftige Lösung für zehn Milliarden Menschen, die wohlhabend sein wollen, muss eine Lösung sein, die die Ressourcennutzung und die Schadstoffproduktion brutalst begrenzt. Und dies ist über Global Governance durchzusetzen. Daran führt kein Weg vorbei.

Unser Wohlstand gründet aber nun mal zu einem grossen Teil auf Ressourcenverschleiss. Damit sind wir beim dritten Punkt: Es braucht eine Einschränkung des Konsums.
Das ist eben der Denkfehler. Man muss sich von der Vorstellung trennen, es könnte mehr nur geben um den Preis von entsprechend mehr Ressourcenverbrauch. Es kann vielleicht sogar mehr geben bei entsprechend weniger Ressourcenverbrauch - wenn wir die richtigen Innovationsprozesse in Gang setzen. Und das ist in der Vergangenheit immer wieder so erfolgt.

Spricht nun der Wissenschaftler oder der optimistische Pessimist, der hofft?
Zunächst einmal gehe ich an derartige Fragen als Wissenschaftler analytisch heran und komme zum Schluss: Wir brauchen eine deutlich erhöhte Ökoeffizienz.
Ich bin mir relativ sicher, dass wir dabei nicht an technischen Fragen scheitern werden, wenn wir erst mal wissen, was unser Ziel ist und wenn wir das Geld mobilisieren für die erforderlichen Innovationsprozesse. Eine der grössten Schwierigkeiten mit dem Finanzmarkt die letzten 15 Jahre war, dass man für perverse Finanzprodukte so hohe Rendite erschliessen konnte, dass überhaupt nicht mehr in wirkliche fundamentale technische Innovationen investiert wurde. Wir haben im Grunde zwei Jahrzehnte verloren. Einer der Vorteile der jetzigen Krise ist, dass man Geld nicht mehr so bequem verdienen kann und deshalb wieder mehr in radikale Innovationen investieren wird.

Sie gehen für die Zukunft von drei Szenarien aus: Kollaps, Brasilianisierung und Balance (siehe Kasten oben). Beschleunigt die Krise die Entwicklung?
Es ist ein Drahtseilakt. Man kann den Zustand nicht mehr lange in der Schwebe halten. Das ist Meadows' richtige Betrachtung: Wir haben Zeit verloren. Aber wir haben noch Zeit. Vor 30 Jahren wäre es einfacher gewesen als jetzt. Und jetzt ist es einfacher als in den nächsten 30 Jahren. Wir kommen irgendwann zu dem Punkt, wo wir nicht mehr bequem aus der Sache rauskommen.

Mit 50 Prozent schätzen sie die Wahrscheinlichkeit für die Brasilianisierung hoch ein. Was bedeutet das für die Alpen?
Zunächst mal sind die Verhältnisse in Teilen der Alpen tendenziell eher karger; da ist nicht so viel Wohlstand. Es gibt ausgedehnte Gebiete, die von Abwanderung betroffen sind. In diesen Gebieten werden die Leute ärmer. Aber jetzt kommt die Gegenseite: Wenn man in so einem Naturraum wohnt, dann hat man oft die Chance, an Holz zu kommen, man hat vielleicht seine eigene Wasserquelle, man kann eigene Energie produzieren… Wie man so sagt: Der Koch verhungert nicht. Für die verstädterten Regionen in den Alpen hingegen wird sich die Situation kaum anders entwickeln als in anderen Regionen Europas.

Das bedeutet, wir gehen 60 bis 80 Jahre zurück?
Und noch mehr. Wir müssen lernen, mit viel weniger auszukommen. Aber zum Schluss verschlechtert sich die Situation der Menschen in den ländlichen Regionen der Alpen relativ nicht so sehr wie die Situation der Leute in den Grossstädten, weil sie näher an der Originalproduktion sind. Unter ökologischen Aspekten hingegen ist das für die Alpen eine gute Botschaft. Die Naturräume sind bei zunehmender Armut besser geschützt. Das ist das Tragische daran für uns Menschen, weil wir zum Schluss kapieren, dass wir selber und unser Wohlstand das Problem sind. Insofern ist die jetzige Wirtschaftskrise gut für die Umwelt. Jede Wirtschaftskrise senkt dramatisch die CO2-Emissionen.

Wenn es zum Kollaps kommt, wie sieht es dann aus in den Alpen und in Europa?
Der ökologische Kollaps ist das grösste Problem, mit dem wir konfrontiert sein können. Das kann bedeuten, dass eine bis zwei Milliarden Menschen ziemlich kurzfristig verhungern. Europa ist ein Teil der Welt, der sich auch unter Kollapsbedingungen noch am besten versorgen kann. Die Frage ist aber, wie die Machtverhältnisse dann sein werden. Ist Europa so organisiert, dass es zunächst seine Menschen ernährt, ehe wir nach Asien verkaufen? Oder sind wir so organisiert, dass eine Elitetruppe mit den in Europa produzierten Nahrungsmitteln Eliten in Asien versorgt zu Lasten der Bevölkerung hier?

Die Frage ist also: Verhungern die Menschen hier oder anderswo?
Der Punkt ist: Hier gibt es keine ein bis zwei Milliarden. Es gibt in ganz Europa nur 500 Millionen. Das heisst, die Menschen verhungern überwiegend nicht hier. Aber jeder Mehrwert oberhalb einer einfachen vegetarischen Ernährung ist weg. Also: Kein Steak! Unter der Bedingung, dass es ausser für die Elite in Europa kein Steak gibt, können Sie nun überlegen, was das für die Alpen heisst. Der Wilderer in den Alpen bekommt vielleicht noch ein Stück Fleisch - aber nur inoffiziell.

Was haben wir für Alternativen zu diesen düsteren Szenarien?
Wir können sehenden Auges in den Kollaps hineinmarschieren. Wir können kurz vor dem Kollaps die Notbremse ziehen und haben die Brasilianisierung. Und wir können heute schon so klug sein und weltweit eine vernünftige Governance vereinbaren, die den richtigen technischen Fortschritt induziert und weltweit die erschliessbaren Vorteile breit verfügbar macht. Das erlaubt uns, die Industriegesellschaft über 50 bis 60 Jahre in Richtung Nachhaltigkeit umzubauen, während wir sie gleichzeitig über den ganzen Globus ausdehnen.
Das ist dann die balancierte Welt, eine Welt einer ökologisch-sozial regulierten Marktwirtschaft, bei der wir mit zehn Milliarden Menschen auf einem hohen Wohlstandsniveau leben und ab etwa 2050 die Weltbevölkerung kleiner wird.

Nun sitzen wir aber noch da, schrauben unsere Sparbirnen rein und gehen spenden - sind wir ausgeliefert?
Wir sind ausgeliefert, aber wir sind auch Akteure. Wir sind allein schon ausgeliefert wegen der Tatsache, dass jeder von uns nur einer von sieben Milliarden ist auf diesem endlichen Globus. Das Problem kennt jeder, der auf einer verstopften Autobahn steht: Der Stau sind wir. Wir sind alle miteinander das Problem. Und heute ist unser grösstes Problem, dass wir sieben Milliarden auf diesem Globus sind - und diesen Zustand vernünftigerweise nie herbeigeführt hätten. Und in Kürze sind wir zehn Milliarden Menschen auf diesem Globus, und das sind noch einmal 50 Prozent mehr.

Und jeder von diesen zehn Milliarden will mehr.
Vor allen Dingen will jeder von diesen zehn Milliarden erst einmal überhaupt sein Leben verwirklichen. Jeder hat Pläne. Die meisten haben Pläne, dass sie mehr wollen. Die meisten von denen sind ganz gut darin, ihre Pläne zu verfolgen. Und jeder weiss ja, was passiert, wenn es eng wird und die Leute rücksichtlos ihre Pläne verfolgen. Dann schlagen sie um sich, treten um sich, es bricht Panik aus, es liegen welche auf dem Boden und werden totgetrampelt. Und in Panik bekommt man schon überhaupt nichts hin. Das ist unser Problem: Wir sind zu viele, wir wollen zuviel, und zum Schluss werden wir auch noch panisch. Und wenn wir panisch werden, dann vergrössern wir das Desaster. Was wir stattdessen müssen: Solange wir noch ein bisschen Luft haben - und das haben wir noch - müssen wir die richtigen Beschlüsse treffen.

Das heisst also: Selbstbeschränkung!
Es heisst: Selbstbeschränkung in den Ambitionen. Selbstbeschränkung in der Vorstellung, es müsse alles immer mehr werden. Vor allen Dingen auch Selbstbeschränkung in dem Glauben, es ginge nur um einen selber. Wir sind schon unendlich viel weiter, wenn wir jeder für uns akzeptieren, dass da noch sieben Milliarden andere herrumlaufen, die genauso legitime Wünsche und Vorstellungen haben wie wir. Und dass sich unsere Möglichkeiten beschränken müssen im Sinne der Ermöglichung des Zusammenwirkens von sieben Milliarden Wünschen.

Mit der Krise wurde auch das Ende des Wachstums beschworen. Ist das eine Utopie, eine Welt ohne Wachstum?
Vom Mathematisch-Ökonomischen her liegt überhaupt kein Problem darin, eine Welt ohne Wachstum zu haben. Man würde sich allerdings wünschen, dass diese Welt reich ist und ausgeglichen. In einer Welt, in der Milliarden Menschen richtig arm sind, ist die Vorstellung, kein Wachstum zu haben, ein Horror. Wenn Sie das, was wir heute an Wertschöpfung auf dem Globus haben, auf zehn Milliarden verteilen, da bleibt nicht viel übrig pro Kopf.

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Was erwartet uns um 2050?
Franz Josef Radermacher geht um 2050 von einer Welt mit zehn Milliarden Menschen aus. Er skizziert dazu folgende Szenarien:
- Kollaps; Wahrscheinlichkeit 15 Prozent: Das Klimaproblem ist nicht gelöst, das soziale Problem ist weltweit nicht gelöst. Eine bis zwei Milliarden Menschen verhungern.
- Brasilianisierung; 50 Prozent: Das Klimaproblem ist mehr oder weniger gelöst, das soziale Problem entwickelt sich weltweit auch in der heute reichen Welt hin zu brasilianischen Zuständen mit einer elitären Oberschicht und einer grossen armen Masse.
- Balance; 35 Prozent: Das Klimaproblem ist gelöst, das soziale Problem ebenfalls dank einer adäquaten Global Governance. Das führt zu einer wohlhabenden, sozial ausgeglichenen Welt, deren Ökonomie mit Nachhaltigkeit kompatibel organisiert ist und deren Ökoeffizienz deutlich beser ist als das heute der Fall ist.

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Global Governance» statt nationales Hick-Hack

Demokratie ist laut Franz Josef Radermacher ein Konzept des kleinen Raumes. Je grösser der Kontext, desto schwieriger sei es, Entscheidungen demokratisch zu fällen. Um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen, brauche es eine «Global Governance», eine Globale Ordnungs- und Strukturpolitik. Denn: «Die Globalisierung der Ökonomie ohne Globalisierung der Politik ist ein Desaster.» Ziel dieser multilateralen Politik ist es, globale Probleme auf Basis eines gemeinsamen Konsens zwischen nationalstaatlichen Organen und supranationale Organisationen zu lösen. Eine solche Global Governance ist auch Teil des konzeptionellen Vorschlags der «Global Marshall Plan Initiative», einer weltweiten Bewegung für eine Welt in Balance. Die Plattform versammelt positiv ausgerichtete Kräfte aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
www.globalmarshallplan.org (de/fr/en)