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…und draussen vor dem Fenster das Schauspiel der Natur

18.12.2009 / Bernard Debarbieux
Seit zwei Jahrhunderten, seit wir die Alpen von aussen und als Ganzes betrachten, gestalten wir diese nach unsern Bildern. Erst durch diese Wahrnehmung wurde uns die Zerbrechlichkeit der Natur und die Endlichkeit der Welt bewusst. Nun möchten wir die Alpen mit denselben Mitteln, mit denen wir sie zuvor verändert haben, wieder in einen idealen Zustand zurückführen. Ein Widersinn?
Früher waren die Alpen nichts mehr als Lebensraum der Menschen, die sich dort niedergelassen hatten, und Durchgangsort für viele andere. Heute aber nähert sich ihnen niemand mehr mit ungetrübtem Blick. Seit zwei oder drei Jahrhunderten, seit die Alpen als Einheit gesehen werden im Herzen Europas und innerhalb von Ländern, die ihrerseits ebenfalls als Einheiten gelten, werden die Alpen gestaltet, geschützt, bewirtschaftet, in Wert gesetzt und ausgerüstet nach dieser Vorstellung von Einheit. Oder einfacher ausgedrückt: Seit zwei Jahrhunderten werden die Alpen so gestaltet, wie man sie sich vorstellt. Daraus entstand die Idee, die Alpen in Szene zu setzen und in Bildern festzuhalten.
Als die Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre ersten Nationalparks in den Alpen errichteten, bestand ihr Anliegen noch nicht darin, Ökosysteme zu schützen oder zum Erhalt der Biodiversität beizutragen. In den meisten Fällen ging es ihnen um den Schutz von charakteristischen Landschaften, wie in La Bérarde/F, oder um den Schutz von Lebensräumen für grosse Wildtiere, wie im Nationalpark des Gran Paradiso. Sie schützten also ein bestimmtes Bild der Natur und der Alpen als natürliche Ressource.
Als man die ersten grossen Hotels errichtete für Touristen, die die alpine Landschaft und Umwelt erkunden wollten, planten die Architekten sowohl auf der Rigi oder in Interlaken in der Schweiz wie auch im französischen Chamonix oder im italienischen Cortina Gebäude, die wie grosse Konzertsäle wirkten: eine durchdachte Anordnung von Zimmern und Gemeinschaftsräumen, eine Reihe von Dienstleistungen im Gebäude selbst oder in unmittelbarer Nähe und beim Blick aus dem Fenster das grosse Schauspiel der Natur. Diese Hotels waren also die Ersten, die die Alpen in Szene setzten.
Als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Bau von Eisenbahnstrecken und Serpentinenstrassen in den Alpen Pionierarbeit geleistet wurde, geschah dies oft mit der stillen Hoffnung, dass diese Bauten die Qualität der Alpenlandschaften aufwerten oder zumindest ihre Beschaulichkeit steigern würden. Seinerzeit diente diese Infrastruktur als Werkzeug und Motiv für die Inszenesetzung der Alpen. Ingenieure und Landschaftsgestalter arbeiteten Hand in Hand.
Wenn mit dem Wohlwollen der Behörden und mit öffentlichen Zuschüssen Wiesen sorgfältig gemäht, traditionelle Gegenstände liebevoll gesammelt und altes Handwerk am Leben erhalten wird, dann geschieht dies fast immer, um ein Bild der Alpen aufrechtzuerhalten, das man nicht auf dem Altar der Modernität, der Produktivität und der wirtschaftlichen Logik opfern möchte. Dieses Erbe ist Teil unserer Bilder der Alpen und drückt ihnen seinen Stempel auf. Seit mehreren Jahrhunderten also betrachtet und verändert man die Alpen nach der Vorstellung von Einheit, die man von den Alpen als Naturreservoir, Bewunderungsobjekt, Landschaftssammlung, Andenkenmuseum oder kollektiver Freizeit- und Vergnügungspark hat.

Die Möblierung der Alpen
Eigentlich ist dies so, seit man die Alpen aus einer anderen Perspektive betrachtet, seit man eine Alternative gefunden hat zur rein inneren Sichtweise der Bergbewohner, die zuallererst an ihren Lebensraum denken und unmittelbar auf diesen einwirken. Dadurch, dass man die Alpen von aussen betrachtet, dass man sie als Ganzes sieht, aber auch dadurch, dass man sich bei ihrer Betrachtung von innen durchaus bewusst ist, dass die Menschen draussen die Dinge anders sehen, sind die Alpen zu einem Objekt intimer und kollektiver Projektionen geworden. Sie sind zu einem Objekt geworden, das nach einer Vision einer Welt geformt wird, in der die Alpen ihren Platz neben anderen Objekten haben.
Vielerlei Bilder formen unsere Wahrnehmung. Unsere Modernität beruht auf einer Vision der Welt, der Natur, der Geschichte und der Gesellschaft, die den Orten und Gebieten Rollen zuordnet. Sie bewegt sich zwischen der Realität der Berge und der Art, sie zu erleben und darzustellen, die unser Handeln und unsere Erfahrungen beeinflusst. Die Modernität liefert eine Vielzahl von Techniken, die es uns erlauben, diese Realität an das dargestellte Bild anzupassen. Sie multipliziert die Vermittlungsformen, die unsere Sichtweise der alpinen Realität bestimmen: die Wandmalereien und die Panoramabilder von einst, die Werbeplakate von heute, die unzähligen Aussichtspunkte, die entlang der Autobahnen und an den Bergstationen der Seilbahnen ausgewiesen und beschildert sind, die Hommagen und Erinnerungen an einheimische Künstler, an Reisende von einst und an Menschen, die vor unserer Zeit gelebt haben. Unsere Betrachtungsweise der Alpen wird seit langem und immer häufiger durch die vor uns ausgebreiteten Bilder und Beschreibungen überschattet und gleichzeitig erhellt.
Ist diese Entwicklung bedauerlich oder erfreulich? Macht diese Frage überhaupt Sinn, wenn es sich um eine mächtige Zivilisationsbewegung handelt? Diese Entwicklung betrifft ja nicht nur die Alpen. In einer Welt, in der die freie Zirkulation von Personen, Gütern und Bildern immer mehr zunimmt, wird die ganze Realität mit einem Schleier von Darstellungen verhüllt: Die ganze Realität wird von unseren modernen Gesellschaften in Szene gesetzt, denn sie verzichten auf die Schlichtheit und die Unmittelbarkeit, mit der die traditionellen Gesellschaften ihre Welt erleben. Ob wir das nun bedauerlich oder erfreulich finden, darauf kommt es eigentlich gar nicht an. Wir sollten lediglich versuchen zu verstehen, wie wir mit dieser Tatsache und der damit verbundenen Verantwortung umgehen.
Unsere Erfahrung der Welt ist heute grösser denn je, ebenso unsere Neigung, über unser Handeln und unser Lebensumfeld nachzudenken. Wenn es dafür notwendig ist, dass unsere Spiegelbilder der Realität stärker wiegen als der direkte Kontakt mit der Wirklichkeit, warum nicht? Zumal unsere modernen Gesellschaften Meister der Kompensationskunst sind. Seit wir uns der Zerbrechlichkeit der Natur und der Endlichkeit der Welt bewusst sind, schützen und erleben wir die Natur mehr denn je um ihrer selbst willen. Seit wir uns von einer Welle ständiger und manchmal auch berauschender Veränderungen überrannt fühlen, setzen wir uns stärker als je zuvor für den Erhalt unseres Erbes ein. In gleicher Weise wächst unser Bedürfnis nach einem direkten Kontakt mit der Realität der Alpen, je mehr deren Bilder überall gegenwärtig sind. Unsere Begeisterung für die Bewegung in der Natur, den Gartenbau und das Arbeiten mit Materialien, oder anders ausgedrückt, unsere Vorliebe für das unmittelbare Erleben der Realität steht auf einer Ebene mit unserer Neigung, die Alpen in Büchern, Filmen, Museen und Ausstellungen, das heisst durch die Brille unzähliger und allgegenwärtiger Vermittlungen, zu betrachten.

Vision, Technik - und Verantwortung
Auch bei der Verwaltung und Gestaltung der Berge triumphiert das Paradoxe. Seit zwei Jahrhunderten hat man mit allen Mitteln versucht, die Berge noch "bergiger" zu machen. Um 1870 erhielt der berühmte US-amerikanische Landschaftsarchitekt Frederick Olmsted den Auftrag, in Montreal, der damals grössten und blühendsten Stadt Kanadas, auf einem nicht sehr hohen Hügel in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums einen öffentlichen Park anzulegen. Diesen Hügel, den Mont Royal, nennen die Bewohner von Montreal seit jeher liebevoll "den Berg". Olmsted nahm sie beim Wort und schrieb in seinem Projektbericht: "Sie haben einen ‚Berg' als Standort für Ihren Park gewählt; aber in Wahrheit ist es ein Berg, der diesen Namen kaum verdient (…), der kaum wie ein Berg aussieht. Aber gerade in dieser relativen Qualität liegt seine Stärke. Es wäre schade, daraus etwas anderes zu machen als einen Berg." Acht Jahre lang beschäftigte sich Olmsted mit der Anordnung von Felssteinen und importierten Bäumen, dem Anlegen von Wegen und der landschaftlichen Gestaltung. Er orientierte sich dabei an dem Idealbild der Alpen, das er aus den Büchern von John Ruskin kannte. Das Ergebnis ist bemerkenswert und bei weitem nicht so kitschig, wie zu befürchten war. Der Mont Royal Park ist bis heute eine der schönsten öffentlichen Parkanlagen Kanadas.
Das Beispiel von Montreal ist ein extremer Fall, der aber auch auf extreme Weise deutlich macht, wie wir heute mit den Alpen umgehen. Der Landschaftsgestalter ist vielleicht nicht mehr allgegenwärtig, aber das Bestreben, den Berg zu formen, ist nach wie vor vorhanden: Landschaftspolitik, neoregionale Architektur, Renaturierung von Flüssen, Sanierung von Stadtvierteln und Skigebieten, Verwaltung von Tourismuszentren, agrar- und umweltpolitische Massnahmen, Ton- und Lichtspiele usw. Mit einer Vielzahl von Initiativen will man dem Schein der Realität in Anlehnung an eine bestimmte Vorstellung der Alpen Form verleihen.
Unsere moderne Gesellschaft liebt Bilder und Techniken, die Realität und Vorstellung miteinander in Einklang bringen, auch auf die Gefahr hin, dass das Spiel bis zum absoluten Widersinn getrieben wird, wie die Renaturierung der Alpen, ihrer Berghänge, Flüsse, verlassenen Gebiete usw. So lobenswert und notwendig dieses Bestreben, Verantwortung für die Umwelt zu übernehmen, ist, müssen wir uns doch gleichzeitig eingestehen, dass nichts paradoxer erscheint, als die Alpen in einen natürlichen, idealen Zustand zurückführen zu wollen mit denselben modernen technischen Mitteln, mit denen wir sie zuvor verändert haben. Vision, Technik und Verantwortung - vielleicht sind das die Schlagwörter, die unsere kollektive Einstellung zu den Alpen von morgen umschreiben.


Bernard Debarbieux
Universität Genf/CH

Bernard Debarbieux, Claude Marois, 1997:
"Le Mont Royal: forme naturelle, paysage et territorialités urbaines", Cahiers de Géographie du Québec, vol 41 (f).

Bernard Debarbieux,1998:
"The mountain in the city: Social uses and transformations of a natural landform in urban space", Ecumene, vol. 5, number 4 (en).