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Kies im Fluss, Zement in den Köpfen

08.04.2009 / Barbara Wülser
Der letzte grosse unverbaute Alpenfluss ist in Gefahr Der Tagliamento in Friaul-Julisch-Venetien dient Flora und Fauna als Korridor vom Alpenraum zum Mittelmeer. Doch seine Zukunft ist bedroht: An seinem Mittellauf sollen drei riesige Rückhaltebecken gebaut werden. Nicoletta Toniutti vom WWF Italien kämpft seit Jahren gegen diese Vorhaben. Erfolgreich - bis jetzt.
Aufbruch. Ungestüm drängt sich das Wasser zwischen den Felsen hindurch. Es frisst seit Jahrtausenden Gestein und führt dieses aus den Karnischen und Julischen Alpen mit sich fort bis hinunter ans Mittelmeer. Zermalmt es unterwegs, spuckt es aus, schiebt es vor sich her. Als Wildfluss tritt der Tagliamento seine Reise vom Mauriapass auf 1200 Meter über Meer im Norden der italienischen Region Friaul-Julisch-Venetien an; erst nach Osten, später nach Süden. Als Kanal mündet er nach 170 Kilometern in den Golf von Venedig. Doch der letzte grosse ungezähmte Alpenfluss ist auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.
Nein, das hatte sie sich anders vorgestellt. Als Nicoletta Toniutti 1996 von Milano hierher in die Heimat ihres Vaters zog, freute sie sich auf ein Leben im Einklang mit der Natur, wie es die Region Friaul-Julisch-Venetien zu bieten versprach. Die Umweltwissenschaftlerin, die in der Informationstechnologie tätig war, hatte genug von der Art Wirtschaftsdenken, wie sie in der Lombardei vorherrschte. Sie tauschte den gut bezahlten Job in der Privatwirtschaft ein gegen unentgeltliche Freiwilligenarbeit beim WWF Italien. Und heute muss die 48-Jährige feststellen: Hier ist es dasselbe. Es regiert die Betonkultur. Wie sonst sind die Verbauungspläne der Regionalbehörde am Mittellauf des Tagliamento zu erklären?

Ein Rettungsnetz für den "König der Alpenflüsse"
Unterwegs. Das erste Hindernis, das Stauwehr bei Caprizi, überwindet der Tagliamento mühelos. Ein kurzer Moment der Verwirrung, dann sammelt er sich wieder und strömt in einem Zug durch den Talraum von Tolmezzo. Manchmal, im Frühjahr bei Hochwasser, laden die Wasser hier einen Teil ihres Ballastes ab, bevor sie sich nach Süden wenden und bei Pinzano in die Ebene ergiessen. Dort verwandelt sich der ungestüme Wildfluss in einen trägen Flachlandstrom. Winters. Sommers versickert er und setzt seine Reise unterirdisch fort. Sein bis zu drei Kilometer breites Bett wird zur Steinwüste, vereinzelt durchzogen von kleinen Rinnsalen. Es ist die Zeit für Flora und Fauna.

In ihrer Freizeit zog es Nicoletta Toniutti an den Tagliamento. Die einzigartige Flusslandschaft mit seinen Armen, Kiesbänken, Büschen und Inseln hatte es ihr angetan. Noch wusste sie nicht, welche Gefahr dem "König der Alpenflüsse" droht. Eines Tages liest sie in der Zeitung: Der Mittellauf soll mittels drei 30 Millionen Kubikmeter fassenden Rückhaltebecken verbaut werden. Eine europaweit einzigartige Landschaft würde zerstört - und mit ihr Teil eines 150 Quadratkilometer grossen Korridors für Flora und Fauna, der den Mittelmeerraum mit den Alpen verbindet. Von da an widmet die Umweltwissenschaftlerin ihre Zeit dem Fluss. Sie fängt an zu recherchieren, macht in ganz Europa Leute ausfindig, die am selben Thema arbeiten, knüpft Kontakte zu Wissenschaftlern, koordiniert Forschungsarbeiten, organisiert Exkursionen und Studienreisen, reicht Beschwerden ein, verfasst Resolutionen und Petitionen, kurz: Sie knüpft ein Rettungsnetz für den Tagliamento, ab 2003 hauptberuflich als Tagliamento-Verantwortliche des WWF.

Dranbleiben. In Varmo, da taucht er wieder auf, der Sohn der Karnischen und Julischen Alpen. Der Tagliamento lässt die Schotterwüste hinter sich. Eine Auenlandschaft säumt seine Ufer. Gemächlich zieht er seine Schlaufen als ein einziger, wasserreicher Arm durch den sandigen Untergrund. Kurz vor der Autobahnbrücke bei Latisana hat das Spiel ein Ende. Die letzten Kilometer legt er als Kanal zurück.

Kies ist Geld
Nicoletta Toniutti versteht nicht. Warum hält die Regionalregierung an dieser Art von Hochwasserschutz fest, die nachweislich unnütz, ja schädlich ist? Sie hat einen Verdacht: Kies ist Geld. Und davon gibt es im Tagliamentobett reichlich. Dank der Flussverbauung soll zudem die dicht besiedelte Ebene von Latisana offiziell als gesichert gelten - und das Land teuer verkauft werden.

Ankommen. Möwen kreisen über dem Wasser. Sie verkünden die Nähe des Meeres. Der Tagliamento, einst Wildfluss, dann Flachlandstom, zuletzt Kanal, vereint sich bei Lignano zahm mit dem salzigen Meerwasser und ergibt sich dem Golf von Venedig. Für Nicoletta Toniutti ist der Kampf noch nicht zu Ende. Im Februar 2007 wird die zweite Beschwerde zu Handen der Europäischen Kommission abgewiesen, eine weitere beim Obersten Gerichtshof des öffentlichen Wasseramts in Rom ist noch nicht entschieden. Im Juni 2007 erteilt die Regionalregierung den Auftrag für die Planung. Immerhin, bis jetzt wurde nichts gebaut, obwohl alles parat wäre: Planungsunterlagen, Baufirma, ein Teil des Geldes. Die Zeit arbeitet für den Tagliamento. "Zum Glück haben wir eine Wirtschaftskrise - zumindest für den Fluss."