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Ein Plädoyer für die Vielfalt

20.03.2008 / Josef Reichholf
Der Reichtum an biologischer Vielfalt in den Alpen beruht auf besonderen Anpassungen der Pflanzen und Tiere an den Standort, aber auch auf den unterschiedlichen Arten der menschlichen Nutzung. Doch welche Funktionen erfüllt diese Diversität und wie bereichert sie das Leben in den Alpen?
Zehntausende verschiedener Arten von Tieren und Pflanzen leben im Alpenraum. Es gibt - auf gleich grosse Flächen bezogen - in den Alpen mehr, stellenweise sogar ganz erheblich mehr Biodiversität als im mitteleuropäischen Flachland. Denn Berge und Täler geben ökologische Strukturen vor, die sich auf Entwicklung und Erhaltung von Arten auswirken. Das liegt keineswegs nur daran, dass mit den Südalpen der Übergang in den mediterranen Faunen- und Florenbereich beginnt, sondern vor allem an der Strukturiertheit der Gebirgslandschaft. Die Berge wirken wie Inseln, die Täler als Barrieren dazwischen. Die örtlichen Lebensbedingungen unterscheiden sich sehr stark, je nachdem, ob es sich um die Sonnen- oder Schattenseite, verschiedene Höhenlagen oder um anderes Untergrundgestein handelt.

Vielfalt durch Anpassung
In den Höhenlagen haben sich seit Ende der letzten Eiszeit Pflanzen und Tiere halten können, die ansonsten den zurückweichenden Gletschern hoch in den Norden hinauf hätten folgen müssen. Viele Pflanzen und Tiere der Alpen zeigen ein so genanntes arcto-alpines Verbreitungsbild. Aber die alpinen Vorkommen sind nicht einfach den meistens grösseren Arealen der nordischen Verwandtschaft gleichzusetzen. Seit über 10'000 Jahren sind sie getrennt. So konnten Evolutionsprozesse in Gang kommen. Die Restpopulationen sonderten sich in ihren alpinen Inselvorkommen vom Erbgut der Ausgangsarten ab zu Zentren neuer Entwicklungen. Zahlreiche Arten mit alpiner und nordischer Verbreitung gliedern sich deswegen in eigenständige Unterarten. Erst die moderne molekularbiologische Forschung deckt auf, wie gross die Unterschiede schon geworden sind.
Bei Insekten, insbesondere bei Schmetterlingen, lassen sich die Abänderungen in den Feinheiten der Flügelzeichnung oder in der Wahl von Futterpflanzen vor Ort erkennen. Nur die von den Aussenbedingungen weniger abhängigen Säugetiere und Vögel verbergen in ihrem Innern das, was sich seit der nacheiszeitlichen Trennung schon in ihrem Erbgut ereignet und an Veränderungen angesammelt hat. Erb änderungen, Variationen, sind das Rohmaterial der Evolution. Eine stark erhöhte Diversität in Vorkommen und natürlichen Variationen zeichnet die Tier- und Pflanzenwelt der Alpen aus. Die vielen "Schwärzlinge ", die es in grösserer Höhe unter den Tieren gibt, und die besonderen Schutzmäntel von Pflanzen, weisen zudem darauf hin, dass mit zunehmender Höhe auch die UV-Strahlung stärker wirkt und das Erbgut beeinflusst. Zudem ermöglichen die Berge vielen bejagten oder verfolgten Arten den Rückzug in vom Menschen weniger intensiv genutzte oder veränderte Natur. Dies zeigt sich insbesondere bei grossen Säugetieren und grossvögeln.

Vielfalt durch Nutzung
Der alpine Artenreichtum mit seinen Besonderheiten ist jedoch nicht allein das Ergebnis der natürlichen Entwicklungen, die seit Zehntausenden von Jahren laufen oder noch weiter in die Vergangenheit zurück reichen. Eine sich selbst überlassene Alpennatur hätte die vorhandene Vielfalt nicht hervorgebracht. Zu ihrem Zustandekommen haben die Menschen ganz massgeblich beigetragen. Die Nutzungen, vor allem als Weideland, schufen offene, sonnige Flächen, wo sonst der Wald recht einförmig wachsen würde. Die meisten Hochweiden, die Almen, sind der Weidewirtschaft zu verdanken. Sie war es, die den Alpen ihren Namen zu Zeiten der Römer und der vorrömisch- keltischen Besiedlung gegeben hat. "Hoch gelegenes Weideland" bedeutet "Alpe/Alm" und es war und ist die Beweidung mit Vieh, die diesem Gebirge sein besonderes Gepräge in Natur und Kultur verliehen hat. Mit dem Vieh und seiner der natürlichen Produktivität der Hochweiden angepassten Nutzung der Vegetation stellte sich die besondere Vielfalt ein, die wir bis heute schätzen. Die Beweidung erzeugte ein Mosaik unterschiedlicher Wachstumsverhältnisse. Dieses begünstigt Pflanzenarten, die sonst gegen stärkere Konkurrenten längerfristig keine Chance hätten. Die Beweidung "sortiert" die Vegetation nach bevorzugten und gemiedenen Arten. Sie erzeugt zusätzliche Kleinstrukturen in der ohnehin schon so strukturreichen Bergwelt sowie ein höchst vielfältiges Mikroklima, das alle Variationsmöglichkeiten einschliesst, die das regionale Klima überhaupt zulässt. Entsprechendes gilt für die Wälder, die durch traditionelle Waldbewirtschaftung reichhaltiger geworden sind als sie das von Natur aus wären.
Hierbei variierte die Nutzung von Natur je nach kultureller Tradition. Jede der im Alpenraum siedelnden kulturellen Gruppen zeichnete sich - beeinflusst von sozialen und politischen Systemen sowie Glaubensvorstellungen - durch eine Vielzahl an Eigenheiten im Umgang mit der Natur aus, und prägte so die sie umgebende natürliche Umwelt.
Seit Jahrtausenden greifen natürliche Bedingungen und kulturelle Einflüsse in vielfältigster Weise ineinander. Sie waren und sind die Quelle von dynamischer Vielfalt. Gerade weil es für Mensch und Tier nicht so leicht ist, mit Wetter und Gelände in den Bergen zurechtzukommen, entstanden im Laufe der Jahrhunderte bäuerlicher Landnutzung etwa zahlreiche, den örtlichen Verhältnissen angepasste Haustierformen. Manche, die meisten wohl, mögen weniger leistungsfähig sein als ihre hochgezüchteten Verwandten in den Ställen des Tieflandes. Aber "Leistung" bezieht sich nicht allein auf Milch- oder Fleischertrag pro Jahr oder pro Tier, sondern auch darauf, wie dieses mit den Lebensbedingungen fertig wird. Und da sind im Zuge landwirtschaftlicher Experimente und Züchtungen in den Alpen wahre Hochleistungsformen entstanden, die weit besser dem Leben an und auf den Bergen angepasst sind. Die Haustierrassen drücken so augenfällig und nachvollziehbar aus, was die lebendige Natur der Alpen insgesamt auszeichnet: Anpassung an besondere Lebensbedingungen.

Vielfalt als Kapital
Die Haustiere zeigen uns, dass eine Rasse nicht alles können kann und dass eine Leistungsform in einer Region sehr gut geeignet, in einer anderen mit unterschiedlichen Lebensbedingungen aber fehl am Platze sein kann. Das weiss die Forstwirtschaft seit gut 200 Jahren und versucht, neue Pflanzungen mit zum Ort passenden Baumsamen oder Jungbäumen zu begründen. Diese Gegebenheiten zählen wirtschaftlich, weil sie Kosten vermeiden und Erträge verbessern.
Um Geld, um Investitionen und Rendite, geht es im gesamten Bereich des Tourismus. Würden Berge nichts weiter als austauschbare Kulissen nummerierter Gipfel sein, deren Wälder und Täler überall gleich aussehen und wo es keine bunt blühenden Wiesen mit einer Fülle von Schmetterlingen mehr gäbe, würden sich die Besucher abwenden.
Gleiches gilt für kulturelle Vielfalt. Je grösser die Bandbreite ist, desto mannigfaltiger sind das Ideen- und Innovationspotential, aber auch die Möglichkeiten für Neugierde und Erlebnis.
"Variatio delectat", wussten schon die alten Römer und drückten mit diesen beiden Worten in Latein aus, was bis heute gültig ist und auch in Zukunft Gültigkeit behalten wird. Es ist die Vielfalt, die erfreut, nicht die Gleichförmigkeit. Die Vorstellung von geklonten identischen Menschen ist uns ein Gräuel. So wichtig ist die Verschiedenheit und so sehr verbindet sich Vielfalt auf tiefste Weise mit unserem eigenen Lebensgefühl. Wir spüren, dass es gut und richtig ist, sich von anderen Menschen zu unterscheiden. Wir wissen erst seit kurzem, dass das einen tieferen biologischen Sinn hat. Denn die äussere Vielfalt entspricht der inneren, insbesondere im Immunsystem. Je ähnlicher dieses ist, desto leichter wechseln Krankheitskeime über und entgehen der Kontrolle der inneren Abwehr - im Menschen, wie auch in der übrigen Natur. Diversität ist Versicherung gegen die Wechselfälle des Lebens - und somit auch Zukunftskapital.