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Vom Mauerblümchen zum Markttreiber: Gemeinnutz macht Fortschritt - Nachhaltige Entwicklung in den Alpen dank der sozialen und solidarischen Wirtschaft

28.11.2007 / Odile Jacquin
Abseits der so genannten "klassischen" Wirtschaft gewinnt die soziale und solidarische Wirtschaft immer mehr Anerkennung: Sie verfügt über große Innovationskraft und schafft auch für benachteiligte Gebiete und deren Bewohner Wohlstand. Diese Wirtschaft stellt soziale Rentabilität ins Zentrum und sorgt kraft ihrer Werte und ihrer lokalen Verankerung für eine nachhaltige, durch die ansässige Bevölkerung getragene Entwicklung vor Ort, sei es in den Alpen oder im restlichen Europa.
Oxalis
Bild Legende:
Der 3. Sektor stellt den Menschen ins Zentrum: Ständige Weiterbildung ist in der heutigen schnelllebigen Zeit von existenzieller Bedeutung. Darauf setzt auch die Genossenschaft Oxalis, die Kurse für ihre Mitglieder organisiert. Dass dabei auch die Geselligkeit nicht zu kurz kommt, zeigt die Tischrunde in Bellecombe. © Oxalis
Car-Sharing, um zur Arbeit zu fahren, im Stadtviertel oder im Dorf ein Umweltfest organisieren, biologische Lebensmittel vor Ort einkaufen, die Wohnung mit einer Solaranlage ausstatten - all dies sind Möglichkeiten, sich für eine nachhaltige Entwicklung einzusetzen. Oft ist es einem nicht bewusst, dass man dabei auch an Aktivitäten teilnimmt, die zu einem eigenen Wirtschaftzweig gehören, zur sozialen und solidarischen Wirtschaft.

Lange verkannter Keyplayer: der "dritte Sektor"
Die soziale und solidarische Wirtschaft gehört weder zum öffentlich-rechtlichen noch zum privatwirtschaftlichen Bereich: Sie besteht hauptsächlich aus Kollektivprojekten und lokalen Initiativen, die von Ortsansässigen in Angriff genommen wurden. Aktionen zum Schutz natürlicher Gebiete, innovative Verkehrsmittel, lokale Netzwerke für den Vertrieb von Lebensmitteln und Wohnungsgenossenschaften: Diese und andere Ideen für eine nachhaltige Entwicklung werden häufig im Rahmen der sozialen und solidarischen Wirtschaft verwirklicht.
Dieser Wirtschaftszweig wird auch als dritter oder gemeinnütziger Sektor bezeichnet. Typisch dafür sind menschliche Aktivitäten, die von Solidarität, Verantwortung, Demokratie, Entwicklung sowie individueller und kollektiver Förderung geprägt sind.
Die Daten zu diesem Sektor sind länderübergreifend noch schwer vergleichbar. Sie zeigen allerdings, welches Gewicht er insbesondere in Bezug auf Existenzgründungen und die Schaffung von Arbeitsplätzen hat. In Frankreich stellt dieser Wirtschaftszweig bereits 10 % aller Arbeitsplätze. In Italien entwickeln 6'200 Sozialgenossenschaften personenbezogene Dienstleistungen und beschäftigen Menschen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen waren. Seit ihrer Gründung in den 80er Jahren sind es 200'000 Beschäftigte; der Frauenanteil beträgt 70 %. In Deutschland und Österreich sind 2,6 Millionen Menschen in der Nachbarschaftshilfe tätig; dabei widmen sich insgesamt 70'000 Initiativen den Bereichen Gesundheit und Soziales.
Die soziale Wirtschaft ging in Europa aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts hervor und fasste in den verschiedensten Bereichen Fuss, wie Versicherungen, Banken, Wohnbau und Landwirtschaft, Erziehung und Ausbildung, Kultur, Freizeit, Beschäftigung und Nachbarschaftshilfe. In der neueren Zeit kamen Umwelt, internationale Solidarität bzw. fairer Handel dazu, zusammengefasst unter der Thematik der nachhaltigen Entwicklung, wo es seit jeher darum geht, soziale, wirtschaftliche und Umweltschutz-Ziele unter einen Hut zu bringen.
Die Kluft zwischen öffentlich-rechtlich und privatwirtschaftlich wird zudem immer mehr überwunden, da Nutzer, Dienstleister und öffentlich rechtliche Körperschaften als Partner in Projekten zusammen arbeiten und sich neue rechtliche Strukturen bilden.

Werte-Orientiertheit vor Profit-Streben
Soziale Unternehmen mobilisieren menschliche Kräfte und finanzielle Ressourcen und entwickeln Aktivitäten rund um ein "soziales Objekt". Sie orientieren sich an Werten, die über die Befriedigung von Partikularinteressen hinaus reichen. Auch in der Wahl des Rechtsstatus - zum Beispiel sozialer Verband, Nichtregierungsorganisation, Genossenschaft oder spezielle gesellschaftliche Gruppen - drückt sich aus, dass soziale Werte im Zentrum der Tätigkeit stehen. Diese Unternehmungen streben nicht nach grösstmöglichem Profit. Überschüsse werden zum überwiegenden Teil wieder investiert.
In der Praxis wird diese Werte-Orientiertheit auf ganz unterschiedliche Weise umgesetzt. So richtet sich etwa ein Unternehmen nach sozialen Werten, wenn es Menschen einstellt, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, wenn es die interne Weiterbildung fördert, aber auch, indem es Zulieferfirmen bevorzugt, die umweltfreundliche Produktionsmethoden anwenden und fairen Handel betreiben. Ebenfalls zu dieser Kategorie zählen Firmen, die bestimmte Aufgaben auslagern und sie sozialen Einrichtungen übertragen, zum Beispiel indem sie Briefversände durch Eingliederungsstätten durchführen lassen.

Lokale Verankerung wirft weite Wellen
In Europa führt der Rückzug des Wohlfahrtsstaates zu einer Umschichtung der öffentlichen Dienste und zu neuen örtlichen Bedürfnissen: einerseits im Bereich Beschäftigung, andererseits im Bereich alltäglicher Dienstleistungen, wie Haushalthilfe oder Kinderbetreuung. Hier setzt die soziale Wirtschaft ein. In der Folge entstehen zusätzliche Dienstleistungen, die verbunden sind mit einer Verbesserung des Lebensumfelds - Wohnungen, öffentlicher Nahverkehr, ortbezogener Handel, Energieversorgung, Tourismus, Wahrung der Kulturgüter und der Umwelt. Mehr Beschäftigung und Berufe in diesen Bereichen sind die Folge. Diese örtlichen Entwicklungen treiben das allgemeine Wachstum des gemeinnützigen Wirtschaftssektors voran.

Engagement für soziale und ökologische Ziele
Architekten und Bauhandwerker der Genossenschaft Caracol haben ein Projekt entwickelt, das soziale und ökologische Ziele miteinander verbindet. So setzen sie Lehm und Holz - die typischen Werkstoffe der Bausubstanz in der Region Grenoble - für Renovierungen und Neubauten ein. Sie rehabilitieren die alten Bautechniken und entwickeln gleichzeitig neue. Damit befriedigen sie die steigende Nachfrage der Bevölkerung nach ökologischen Häusern. Um ihre Erfahrung an möglichst viele Menschen weiterzugeben, bieten sie Kurse über die Nutzung dieser Materialien und über den Eigenbau an.
Was dieses Beispiel veranschaulicht: Ein Ort mit seinen Bewohnern und Netzwerken kann seine Probleme oft am besten selbst, mit seinen eigenen natürlichen, menschlichen oder technischen Ressourcen, lösen.

Typisch für die soziale Wirtschaft ist, dass sie sich hauptsächlich in Gebieten entwickelt, in denen die herkömmliche Wirtschaft in Schwierigkeiten ist - in Grossstädten, ausgesprochen ländlichen Regionen oder auch in Residenz-Zonen. So ist sie oft eine Begleiterscheinung hoher Arbeitslosigkeit oder an bestimmte Kategorien wie ältere Menschen gebunden. In Frankreich spielt sie zum Beispiel eine wichtigere Rolle in Gebieten mit Sommertourismus als in Wintersportorten.

Zwischen und mit öffentlicher Hand und Privatwirtschaft
Zwischen dem allgemeinen Interesse der öffentlichen Hand und den Privatinteressen der Wirtschaft ist die soziale und solidarische Wirtschaft als Ausgleichsfaktor zu sehen. Ihre Aktivitäten beginnen oft dort, wo Staat und Wirtschaft bei der Lösung bestimmter sozialer und struktureller Probleme an Grenzen stossen.
Die soziale und solidarische Wirtschaftstätigkeit hat sowohl dem öffentlich-rechtlichen als auch dem privatwirtschaftlichen Anspruch zu genügen. Sie muss einerseits finanziell unabhängig sein durch den Verkauf ihrer Dienstleistungen, und andererseits öffentliche Hilfen in Anspruch nehmen. Öffentliche Mittel erhält sie aber nur, wenn beweisen werden kann, dass sie einem sozialen Nutzen dient.

Ein Taxi, ein Berg und ein Büro für alle
Die Bewohner der ländlichen Region Oberösterreich verdanken ihr Gemeinschaftstaxi "mobiles Dorf" ehrenamtlicher Tätigkeit. Dieser Service war nur für die am Projekt beteiligten Haushalte eingerichtet, bevor sich dank öffentlicher Mittel der Kreis der Nutzniesser erweitern liess. Ein dauerhafter Bestand dieser Einrichtung ist damit nicht garantiert: Das Land kann die - leider in unserer Gesellschaft noch nicht selbstverständliche - Anerkennung des kollektiven Interesses und sozialen Nutzens auch wieder rückgängig machen.
Die Akteure des Fremdenverkehrs des Departements Hautes Alpes in Frankreich waren sich bewusst, dass das Tourismusangebot in ihrer Region besser kommuniziert werden musste. Daher beschlossen Politikerinnen und Politiker, Ämter und die Tourismusbranche - sonst oft Konkurrenten - innerhalb einer gemeinnützigen Genossenschaft zusammen zu arbeiten. Resultat waren eine Webseite und eine Reservierungszentrale für das gesamte Unterkunfts- und Veranstaltungsangebot dieser Gebirgsregion, die zu 90 % vom Tourismus lebt. Das Departement, das 20 % des Genossenschafts-Kapitals aufbringt, initiierte zudem gemeinsam mit dem Verband gelähmter Menschen in Frankreich (APF) die Einrichtung des Behindertenservice "Ein Berg für alle". Mit dieser Diversifizierung richtet sich das Angebot auf spezifische Zielgruppen aus.

Nützliche Netze
Die soziale und solidarische Wirtschaft organisiert sich in Netzwerken, was mobilisierend wirkt, etwa auf lokale Einrichtungen, regionale und nationale Dachverbände, Hilfsorganisationen, Stiftungen und Studienzentren. Die Basis für diese Art des kollektiven Handelns bilden persönliche Beziehungen und Vertrauen, die gemeinsame Nutzung von Informationen sowie, mit besonderer Motivationskraft, Kompetenz und Enthusiasmus. Der Erfolg von Netzwerk-Aktionen hängt weniger von der Anzahl ihrer Mitglieder oder ihrem wirtschaftlichen Einfluss ab, als von ihrer Fähigkeit, etwas zu bewegen. Ausserdem ist wichtig, dass über alle Grenzen hinaus gearbeitet und Fachwissen entwickelt wird.
Mit ihren transnationalen Gremien und Netzwerken passt gerade die Organisationsform der CIPRA besonders zu "ihrem" Territorium, den Alpen. Die CIPRA arbeitet für und mit verschiedenen Netzwerken, wie "Allianz in den Alpen" oder - ein neues Beispiel - NENA: Weil die CIPRA auch die Wirtschaft ins Boot holen will, ist sie daran, ein Netzwerk von Unternehmen aufzubauen. Das Engagement der CIPRA stützt sich auf die Informations- und Kommunikationstechnologie, was eine "unité d'action" auf internationaler Ebene fördert. Die CIPRA sorgt dafür, dass Initiativen aus unterschiedlichen Gegenden und unterschiedliches Know-how zusammenkommen, was zu einer stärkeren Wirkung und zu einem für alle wertvollen Erfahrungsaustausch führt.

Mit Strukturiertheit zu Sichtbarkeit, Schlagkraft und Anerkennung
Ein tragender Pfeiler des dritten Sektors ist die Beteiligung der Bevölkerung an der Gestaltung von Projekten der Regionalentwicklung. In der lokalen Demokratie gibt es zwar Mitbestimmungsmöglichkeiten. Um jedoch auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen zu können, benötigt dieser Sektor mehr und effektivere Strukturen. Wollen Bürgerinitiativen wirklich zur Demokratisierung der Wirtschaft beitragen, müssen sie in die neuen öffentlichen Räume auf europäischer und internationaler Ebene vordringen. Das wird den verschiedenen Bewegungen - und der sozialen und solidarischen Wirtschaft insgesamt - zu grösserer Visibilität verhelfen. Indem sie einer breiten internationalen Öffentlichkeit bekannt sind, können sie auch als Vorbild und Motivation für ähnliche, vielleicht mit Hindernissen kämpfende Bestrebungen in anderen Ländern dienen. Ein professioneller, selbstbewusster Auftritt ist eine Voraussetzung dafür, dass soziales Engagement nicht länger in die "Gutmensch"-Ecke gedrängt, sondern als wichtiger Wirtschaftsfaktor wahr- und ernst genommen wird. Mit klaren Strukturen sowie mess- und sichtbaren Erfolgen bei sozioökonomischen Innovationen, die zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen, werden die Organisationen des dritten Sektors die gleiche Legitimität erhalten wie Regierungen und Unternehmen der traditionellen Wirtschaft. Und die soziale und solidarische Wirtschaft wird endlich offiziell den Rang einnehmen, der ihr schon lange zusteht.

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Anders leben und arbeiten
In einer ländlichen Gebirgsgegend in Savoyen begann der Verein Oxalis 1987 mit seiner Arbeit in den Bereichen Umwelterziehung, Kulturveranstaltungen, ökologisches Bauen, Viehhaltung und Eselreiten. Später wurde eine Produktionsgenossenschaft daraus, was der vielseitigen Tätigkeit in mehreren Branchen - Landwirtschaft, Tourismus, berufliche Bildung, Handwerk und Kultur - besser entsprach. Heute hat Oxalis sich zu einer Beschäftigungsgenossenschaft entwickelt. Nicht verändert hat sich jedoch das Hauptziel: "anders leben und
arbeiten".
Die Beschäftigungsgenossenschaft schafft eine Grundlage für Beschäftigung, die sonst in dieser Region schwer möglich wäre. Die Genossenschaftsmitglieder haben eine gemeinsame Buchführung und Verwaltung, die Investitionen in Technik und Personal trägt die Genossenschaft. Jeder ist fest angestellt und hat dadurch ein geringeres Risiko. Die einzelnen Berufe aber sind voneinander unabhängig. Derzeit sind es rund 50, darunter Steinmetz, Konditor, Musiker, Landschaftspfleger, Psychoanalytiker oder Experte für nachhaltige Entwicklung.
www.oxalis-scop.org

SOL - eine soziale Währung zur Aufwertung der sozialen und solidarischen Wirtschaft
Drei französische Grossstädte experimentieren derzeit mit dem SOL, einer lokalen sozialen Währung zur Förderung lokalen Handels und lokaler Akteure. SOL stützt sich auf die Werte der gegenseitigen Hilfe und Solidarität sowie der sozialen und ökologischen Nützlichkeit. Die Initiatoren des Projekts, die Genossenschaft "Chèque Déjeuner", die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit MACIF und MAIF sowie die Genossenschaftsbank Crédit coopératif, haben seitens der europäischen Union starke Unterstützung erhalten. Die lokalen Komitees müssen die Anwendungsmöglichkeiten dieser sozialen Kreditkarte ausarbeiten. Sie kann von den "Komsum-Akteuren" wie eine Fidelity Card (Sol coopération) beim Einkauf von Bioprodukten und Produkten aus fairem Handel oder für die Bezahlung von Dienstleistungen sozialer Unternehmen benutzt werden. Mit der Karte kann man sich aber auch Zeit für ehrenamtliche Einsätze im Rahmen eines Projekts gutschreiben lassen (Sol engagement), womit man Zugang zu andere, ehrenamtlichen Diensten bekommt, die von Netzwerk-Mitgliedern angeboten werden. Der Sol kann ausserdem als Check-Service verwendet werden (Sol affecté). Er wird durch ein Unternehmen, einen Verein auf Gegenseitigkeit oder eine öffentliche Behörde unterstützt und ermöglicht ganz bestimmten Inhabern, im Voraus bezahlte Dienstleistungen zu beziehen, die von den Netzwerk-Mitgliedern zur Verfügung gestellt werden. Eine Gemeinde kann so Sozialhilfeempfängern die Möglichkeit geben, in einem sozialen Lebensmittelladen einzukaufen, Fahrräder zu mieten oder einen Computerkurs zu besuchen. Mit erfolgter Gutschrift stehen die SOLs drei oder sechs Monate lang zur Verfügung. Danach verlieren sie ihren Wert. Diese Regelung verhindert, dass die Karten gehortet werden und fördert einen raschen Umlauf dieser Währung. Die SOLs verfallen allerdings nicht völlig, sondern sie werden auf ein Konto überwiesen, das der Finanzierung von sozial nützlichen Projekten dient.
Das transnationale Projekt Eurosol vereint sechs nationale oder regionale Equal-Projekte aus vier europäischen Ländern: Das französische "Sol", das portugiesische "S. Bras Solidario", die zwei italienischen Projekte "NuoviStiliDiVita" und "Nuove Officine" und die zwei spanischen "Tesis" und "Eres Sevilla".
www.eurosol.info
abgelegt unter: Nachhaltige Entwicklung