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Die Ruinen von Turin

16.11.2010 / Francesco Pastorelli
Berggebiete zahlen Zeche für Olympische Winterspiele - Olympische Winterspiele bringen den Regionen Ruhm und Aufschwung. Für zwei Wochen. Zurück bleiben überdimensionierte Infrastrukturen, Schulden und kalte Betten. Ein Fazit zu Turin, vier Jahre nach den XX. Winterspielen.
Olympische Spiele Turin
Bild Legende:
Olympische Spiele Turin © CIPRA Italien Francesco Pastorellli
Im Februar 2006 waren die Augen der Welt auf Turin gerichtet: Die Hauptstadt des Piemonts in Italien war Austragungsort der XX. Olympischen Winterspiele. Die meisten Wettbewerbe fanden jedoch relativ weit von Turin entfernt in kleinen Bergorten statt.
Die Olympischen Winterspiele sollten den peripheren Regionen eine komplette Neuausrichtung des Fremdenverkehrs ermöglichen. Das bisherige, auf Zweitwohnsitze und Wochenend-urlauber ausgerichtete System hatte sich nämlich als unrentabel erwiesen. Es sollten Hotelbetten entstehen und der Gross-event sollte zur Etablierung eines Qualitätstourismus beitragen, der weniger saisonabhängig ist. Es wurde betont, dass auch die umliegenden Gemeinden in den Bergen, die nicht unmittelbar an den Spielen beteiligt waren, langfristig davon profitieren würden. Heute, vier Jahre später, hat sich in den Tälern rund um Turin die grosse Ernüchterung breit gemacht. Auf den ersten Blick hat sich nicht viel verändert: lange Autoschlangen an den Wochenenden, in Zweitwohnsitze umgewandelte olympische Dörfer, Touristenboom zum Jahresende. Den Rest des Jahres werden die Bewohner in den Bergen mit ihren «olympischen Kathedralen» und den Folgekosten allein gelassen.

Schuldenlast oder Abbruch?
Wenn man von einer sportlichen Grossveranstaltung – mit allen Nebenerscheinungen davor, während und danach – spricht,dann muss man unterscheiden zwischen dem, was sich in einer grossen Stadt wie Turin abspielt, und dem, was in den umliegenden Berggebieten geschieht. Eine grosse Stadt ist eher als ein kleiner Ort in der Lage, eine sportliche Grossveranstaltung zu verkraften. Deutlich wird das bei vielen eigens für die Olympischen Winterspiele errichteten Sportstätten. So können die Anlagen für die Eissportwettbewerbe in Turin nach den Spielen für andere Sportereignisse oder Musik- und Kulturveranstaltungen genutzt und ohne Verlust betrieben werden, weil sie in einer Metropole mit einem grossen Einzugsgebiet liegen.
Auf die in den Bergorten errichteten Sportstätten trifft das hingegen nicht zu. Die Anlagen für die Skisprung- oder Bobwettbewerbe – Sportarten, die in Italien und vor allem in den Westalpen keine Tradition haben und nur von sehr wenigen Sportlern ausgeübt werden – werden kaum genutzt oder sind gar dem Verfall preisgegeben. Die enormen Betriebskosten lasten schwer auf den Berggemeinden, in deren Gebiet sie liegen. Weil die Gemeinden die Kosten für den Unterhalt nicht aufbringen können, droht der Abbruch. Dies ist die weniger glanzvolle Seite der Olympischen Spiele.

Millionen in den Sand gesetzt
Bei den Sportstätten handelt es sich um Infrastrukturen, die sehr viel Geld gekostet haben und weiterhin kosten werden. 35 Millionen Euro kosteten allein die Skisprungschanzen. Die Bobbahn schlägt mit über 60 Millionen zu Buche. Deren Unterhalt verschlingt jährlich 1,6 bzw. 2,2 Millionen Euro. Die Folgekosten durch die Beeinträchtigung der Umwelt sind nicht eingerechnet.
Auch der Betrieb der Eisstadien in Torre Pellice und Pinerolo – zwei am Eingang der Täler Susa und Chisone liegende Orte – ist nach den Olympischen Spielen alles andere als rentabel. Ganz zu schweigen von der Biathlon-Schiessanlage. Diese hat 25 Millionen Euro gekostet und schlummert jetzt unter einer Schneedecke vor sich hin. Auf der Skilanglaufloipe – 20 Millionen Euro – haben schon lange keine offiziellen Wettkämpfe mehr stattgefunden; sie fungiert heute als einfache Touristen-Loipe. Zwar haben die Täler, die neben der Stadt Turin Aus-tragungsort der Spiele waren, von der Verbesserung des Strassennetzes profitiert. Manche der Massnahmen waren aber ohnehin dringend notwendig. Insgesamt aber hat sich das öffentliche Verkehrsangebot in den Tälern nicht verbessert. Die Ortschaften in den Tälern Susa und Chisone sind weiterhin nur sehr schwer mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar –obwohl während der zweiwöchigen Spiele bewiesen wurde, dass ein öffentliches Verkehrssystem auch in den Bergen effizient sein kann. Aber bekanntlich funktioniert bei solchen Grossveranstaltungen alles perfekt, solange die Welt zuschaut. Sobald der Vorhang fällt, die Fernsehkameras aus sind, die Athleten und Journalisten abgereist sind, ist wieder alles wie vorher. Von den Hunderten von Millionen Euro, die in den Sand gesetzt wurden, und den Missständen, die die Region während der jahrelangen Bauarbeiten erduldete, spricht niemand.

aus: Szene Alpen Nr. 94 (www.cipra.org/de/alpmedia/publikationen/4542)