CIPRA Vertretungen:

Benutzerspezifische Werkzeuge

  Suchfilter  

News

Wo Ideen Kreise ziehen

06.09.2017
Die CIPRA ist eine kleine Organisation mit einem grossen Netzwerk. Es ermöglicht den Menschen, die Herausforderungen gemeinsam anzupacken und voneinander zu lernen. So auch Sandrine Percheval und Cassiano Luminati. An der AlpenWoche in Grassau/D haben sie sich zum ersten Mal getroffen.
Bild Legende:
Cassiano Luminati und Sandrine Percheval sind zwei Akteure von vielen im Netzwerk von CIPRA. © Caroline Begle

Ein kalter Oktobertag in Blau und Gold. Es ist Spätnachmittag. Das Ausflugsboot der Chiemsee-Schifffahrt schaukelt auf den Wellen, vertäut am Anleger von Prien, Deutschland. Rund 400 Menschen gehen über den Holzsteg an Bord. Sandrine Percheval und Cassiano Luminati stehen schon auf dem Schiff, Arme auf der Reling, und schauen den Einsteigenden zu: schicke Damen und Herren, tadellos im Anzug. Grüppchen junger Menschen mit gestrickten Schals und angesagt-zerrissenen Jeans. Frauen im Dirndl. Über den Köpfen wippen Gamsbärte auf den Hüten von Männern in bayerischer Tracht. Alle wenden die Köpfe: Die beiden deutschen Politikerinnen, die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks und die bayerische Umweltministerin Ulrike Scharf, betreten die Planken. Das Schiff legt ab.

Alle diese Menschen sind zur AlpenWoche in Grassau angereist, organisiert von Institutionen, Behörden und Verbänden, darunter die CIPRA. Zum Thema «Menschen und Alpen» kommen zahlreiche Initiativen, Kulturen, Sprachen, Organisationen und Lösungsansätze zusammen. In die Woche eingebettet ist die 15. Alpenkonferenz, das wichtigste Gremium der Alpenkonvention. Heute lädt der Deutsche Vorsitz zum Staatsempfang auf das Schloss Herrenchiemsee auf der gleichnamigen Insel.

Sandrine Percheval, 35, und Cassiano Luminati, 45, setzen sich einander gegenüber auf die Bänke am Heck. Die Französin und der Schweizer wirken beide im Umfeld der CIPRA. Erstmals treffen sie sich persönlich. Cassiano Luminati – dunkler Bart, verschmitztes Lächeln – ist im abgelegenen Valposchiavo – zu Deutsch Puschlav – nahe der lombardischen Grenze aufgewachsen. Mit 18 Jahren lockte ihn das Architekturstudium ins pulsierende Mailand. «Ich wollte Stadt, Stadt, Stadt!», ruft er. Sandrine wirft lachend ein. «Und ich wollte Sonne und Wärme, und bin zum Studium nach Südfrankreich gezogen.»

Was Cassiano Luminati in die Berge zurückgebracht habe, will sie wissen. «Die Musik», so seine Antwort. «1998 fragte mich eine Freundin, ob ich mit ihr in Valposchiavo ein Jazzfestival organisieren könne.» Er konnte. Es wurde ein Riesenerfolg – und Luminatis Neubeginn im Puschlav. Inzwischen ist er seit 15 Jahren Direktor des Polo Poschiavo, einem Kompetenzzentrum für Weiterbildung. «Zu unserer Philosophie gehört, bestehende Strukturen zu etwas Neuem zu verbinden», erklärt er. Aktuell sind dies grenzüberschreitende Berufsausbildungen. 2005 wurde der Polo Poschiavo im Rahmen des CIPRAProjekts «Zukunft in den Alpen» mit einem Hauptpreis ausgezeichnet.

Heimat neu entdecken aus der Ferne

«Arbeitest du auch mit Jugendlichen?» will Sandrine wissen. «Ja. Als Präsident der Region Valposchiavo habe ich zwischen 2011 und 2015 durch die Vermittlung der CIPRA mehrfach das Jugendparlament zur Alpenkonvention getroffen und die Wünsche der jungen Leute an Entscheidungsträger herangetragen – zum Beispiel für einen Nachtbus, der dann auch verwirklicht wurde.»

2012 holte er – mit Hilfe der Schweizer Bundesverwaltung und Beobachterorganisationen der Alpenkonvention wie CIPRA, Iscar oder Alparc – die AlpenWoche und die Alpenkonferenz ins Puschlav. Bei der Frage, was ihm bei seinen Aufgaben am meisten Spass mache, muss Cassiano nicht lange überlegen. «Menschen und Ideen zusammenbringen!» Ein Beispiel: Der Polo Poschiavo, die lokalen Museen und die Tourismusorganisation holten gemeinsam den Buchweizen nach Valposchiavo zurück und machten ihn für Gäste erfahrbar. Cassiano wäre nicht Luminati, wenn er nicht immer neue Ziele hätte: «Ich will für unser ganzes Tal ein Öko-Siegel erhalten – 100 Prozent
Bio smart Valley.»

Sandrine Percheval nickt, streicht ihr dunkles Haar aus dem Gesicht und fängt an zu erzählen: Sie liebe die grüne Landschaft der Alpen mit den kleinen Ortschaften und den wilden Naturräumen, vor allem im Süden Frankreichs. Doch
sie kennt auch den Preis für diese Ursprünglichkeit: «Die Abgeschiedenheit erfordert lange Wegstrecken.» Trotzdem schnell an Informationen zu kommen, sei für die ländliche Bevölkerung wichtig. Hierfür dienen die Einrichtungen des Verein Adrets, bei dem Sandrine Percheval seit 2014 arbeitet: die «Maisons de service public», Informations- und Betreuungsstellen, die kostenlos eine Art Erste-Hilfe bei allen möglichen Fragen leisten. Eine Versicherung ist nötig?
Ein Facharzt gefragt? Ein Behördendokument fehlt? «Anstatt von Pontius zu Pilatus zu laufen, wenden sich die Fragesteller an diese Büros, die meist in der Gemeinde angesiedelt sind», erklärt Sandrine Percheval. Ihre Aufgabe ist dafür zu sorgen, dass sich die Fachangestellten – meistens Frauen – untereinander austauschen und für diese breit gefächerten Aufgaben gut geschult werden.

Findig dank Anregungen

«Und was gefällt dir am besten bei deiner Arbeit?», fragt Cassiano Luminati. «Der soziale Aspekt», antwortet Sandrine Percheval, und strahlt. Die Betreuungsstellen seien für alle Einwohner da, aber besonders für benachteiligte Menschen, wie zum Beispiel die SaisonarbeiterInnen. Typischerweise helfen diese im Sommer und Herbst in der Landwirtschaft und arbeiten im Winter als SkilehrerIn oder am Skilift. Sie ziehen oft um, sind schlecht versichert, haben vor Ort kaum Freunde oder Familie, sind öfters krank. «Diese Menschen stehen immer mit einem Fuss in der Armut.» Vor einigen Jahren wurde Adrets Mitglied bei CIPRA Frankreich. «Das hat unsere Legitimität gestärkt», so Sandrine Percheval. Über die CIPRA erhalte sie viele inspirierende Ideen für Projekte und Kooperationen in verschiedenen Bereichen, zum Beispiel im Umweltschutz.

Ein langsameres Tuckern, ein sanfter Stoss. Die Überfahrt ist zu Ende. Schickes und Gestricktes wird enger um fröstelnde Körper gezogen. Die Passagiere gehen an Land, wandern im letzten Licht des Tages die Allee hinauf zum Schloss Herrenchiemsee. Man hört Deutsch und Schweizerdeutsch, Englisch und Französisch, Italienisch und Slowenisch. Mittendrin Sandrine Percheval und Cassiano Luminati, die sich weiter unterhalten – auf Französisch. Auf
einer Anhöhe lässt die junge Frau den Blick über die kleine Karawane bis hinunter zum Steg schweifen, wo das jetzt beleuchtete Schiff auf die Rückkehr seiner Fahrgäste wartet. «Wir kommen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Rollen und Hoffnungen», sagt sie, «aber wir sitzen alle in einem Boot.»

Margarete Moulin, freie Journalistin, München/D (Text) und
Caroline Begle, CIPRA International (Fotos)