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«Wir müssen uns der Bildproduktion selber annehmen»
Frau Winiwarter, wie wird ein Ort zu einer Sehenswürdigkeit?
Jemand behauptet, dass ein Ort sehenswürdig sei – Menschen, die das aus ihrem eigenen Erleben heraus so empfinden. Es ist eine Differenzfrage: Wir stellen Sehenswürdigkeiten her, indem wir sagen, dieser Ausschnitt der Landschaft hat mehr gute Eigenschaften als ein anderer. Die Konstrukteure der alpinen Sehenswürdigkeiten finden wir schon unter den englischen Reisenden im 18. Jahrhundert. Sie fuhren hin, wo die Infrastruktur passte und wo es etwas Besonderes gab. Das Sehenswürdige ist immer das Einmalige. Ob man etwas als sehenswürdig empfindet oder nicht, ist eine kulturelle Präferenz, die sich mit der Zeit wandelt. Und dann gibt es Konstruktionsprozesse, zum Beispiel stellen ökonomische Tourismusunternehmer Sehenswürdigkeiten her. Sie behaupten Einmaligkeiten, um diese entsprechend zu vermarkten.
Ist es der Blick von aussen, der etwas als sehenswürdig definiert, oder kann das genauso von innen kommen?
Sehen als dominante sinnliche Wahrnehmung kommt oft von aussen; es ist eine Form der Wahrnehmung für den Flaneur, für den Reisenden, für den Touristen. Für die Menschen, die in den Alpen leben, stellen sich andere Fragen: Ist dieser Weg lawinensicher, ist diese Alm produktiv, verletzen sich die Kühe leicht, ist das Wetter freundlich? Sie würdigen das Land aus der Perspektive der darin Lebenden, die das ganze Jahr mit der Landschaft leben und arbeiten müssen.
Welches sind die typischen Sehenswürdigkeiten der Alpen?
Wenn ich «Alpen» in eine Suchmaschine eintippe, bekomme ich in den ersten 15
Bildern alles zu sehen, was daran typisch ist. Es gibt zwei Wahrnehmungsmodi. Der eine ist Schnee, das sind die Winteralpen – unter den ersten 15 Bildern ist eines mit einem Sessellift. Was mich fasziniert, sind diese Bilder der Eroberung durch den Menschen: Schispuren, Trittspuren im frisch gefallenen Schnee. Und dann gibt es das Sommeralpenbild: Wanderer, Radfahrer, Alpenblumen. Ich nenne das die alpine Trikolore: Edelweiss, Almrausch, Enzian. Und wenn keine Blumen da sind, dann muss man sie reinkopieren. Irgendwann sind solche Bilder völlig losgelöst vom Ort. Exakt dieselben Blumenbilder finden sich auf Postkarten aus Schladming, Fieberbrunn oder Absam. Sehenswürdig ist also einerseits das Einmalige und andererseits der Idealtypus.
Wie werden diese Sehenswürdigkeiten den Gästen vermittelt?
Es existieren verschiedene touristische Bilderwelten: die Bilderwelt der Ansichtskarten, jene der Prospekte – diese Bilder sind allgegenwärtig. Selbst auf Schipässen, in jedem Pensionsprospekt oder auf dem Ortsplan findet sich ein Bild der Alpen. Alle diese Printmedien und auch die Tourismuswerbung im Internet folgen demselben Prozess: Das Bild, das sich durchsetzt, prägt die Wahrnehmung vieler Menschen und wirkt zurück auf diejenigen, die die Bilder produzieren. Irgendwann können auch die Fotografen die Alpen nur noch fotografieren, wie man die Alpen eben fotografiert, weil ihnen sonst keiner ihre Bilder abkauft. Im gebrauchsgrafischen Bereich müssen sich die Bildproduzenten dem vorformulierten Geschmack anpassen und rezitieren eine immer gleiche, völlig standardisierte Bildwelt.
Die Bildvermittlung folgt also immer derselben Logik?
Im Tourismus ist es so. Es gibt natürlich andere Alpenbilder, etwa in der Kunst oder in der Wissenschaft. Doch selbst die Kulturlandschaftsforscher sind von dieser dominanten touristischen Bilderwelt geprägt. Auch in der Sozialtopographie, also da, wo Menschen abgebildet werden, sind Bilder nach typischen Merkmalen konstruiert: Man beobachtet die autochthone rurale Bevölkerung in ihrem Habitat; und die Leute stellen sich in der Tracht vor typische Häuser, Kirchlein, Berge. Das wirkt auf diejenigen zurück, die Gegenstand dieser Bilder sind. Die Menschen in diesen Orten empfinden als Teil ihrer Identität, was ihnen durch die touristische Bildproduktion vorgeschlagen wird.
Ein anderes Alpenbild kommt in den Lokalzeitungen vor: Abgebildet wird dort, was für die Menschen bedeutsam ist, und das ist dann eher das neue Feuerwehrhaus oder die Lawinenverbauung. Also das, was im Alltag Relevanz hat.
Inwiefern beeinflusst die Wahrnehmung der Alpen die Selbstwahrnehmung der Bewohnerinnen und Bewohner?
Im Zuge meiner Forschung über Ansichtskarten ging mein Kollege im Sommer in Sankt Aegyd am Neuwalde ins lokale Wirtshaus und fragte die Wirtin, die auch Ansichtskarten verkaufte, ob es keine Sommerkarten gebe. Ihre Antwort: «Bei uns ist nur im Winter schön.» Das ist eine Form der Entfremdung von der eigenen Gegend, die ich darauf zurückführe, dass nur die ökonomisch in Wert gesetzte Landschaft für die Menschen «schön» ist. Wenn wir also eine nachhaltige Entwicklung der Alpen wollen, dann müssen wir auch auf die Bildwelt Einfluss nehmen. Solange aber der Tourismus von aussen diese Definitionshoheit über das Schöne hat, sind die Menschen immer mit dieser Aussenwahrnehmung konfrontiert.
Was hat sich bei den typischen Sujets im Laufe der Zeit verändert?
Nicht sehr viel. Postkarten aus den 1920er Jahren inszenieren bereits den beherrschenden Blick auf die Alpen von oben. Diese gibt es bis heute. Es gab schon damals Witzkarten, die weggehen vom Ort. Es gibt heute Karten mit einem Satellitenbild der Erde mit einem Pfeil, und da steht «Kitzbühel». Diese Virtualisierung des Bildes ist möglich geworden, weil man das Bild nicht mehr nach Hause schickt zur Dokumentation; Fotos macht man sowieso selber. Die grösste Veränderung sind die wesentlich zielgruppenspezifischeren Bildwelten. Eine grösser werdende Bildproduktion hat sich ausdifferenziert.
Andererseits gab es früher eine autochthone Bildproduktion. Die Bilder wurden von den Leuten gemacht, die in der Gegend wohnten. Ein Fotograf aus dem Bregenzerwald hat dort Postkarten hergestellt. Er hat diese vor Ort vervielfältigt und verkauft. Heute stellen Verlage solche Bilder her. Der Wandel besteht vielleicht darin, dass sich die Abstraktion des Ortes noch verstärkt hat.
Es gibt Destinationen, die versuchen, ein authentischeres Bild der Alpen zu vermitteln, etwa Biosphärenparks oder Naturparks. Gelingt ihnen das?
Die ökonomische Vermarktungslogik eines Parks zwingt diesen dazu, letztlich auch ein touristisches Angebot zu formulieren. Mit dem Angebot «Bleiben Sie hier weg und lassen Sie die Natur in Ruhe» können Sie den Nationalpark nicht finanzieren. Sie müssen die Leute herein lassen, auch aus didaktischen Gründen. Meine Beobachtung ist, dass auch die Nationalparks dieser dominanten touristischen Bildwelt, die schon festgelegt hat, wie ein schönes Stück Alpen auszusehen hat, erliegen und sich ihr unterordnen. Druck üben auch Film- und Fernsehwelten aus. Die Nationalparks geraten unter Zugzwang und setzen auf Erlebnistourismus. Ein Drama muss sich abspielen, auch wenn sich nichts tut. Vielleicht trifft man einen Bären. Oder wenn man nicht den Bären trifft, dann muss der Nationalpark-Ranger zumindest imstande sein, Bärenlosung auszumachen, und sagen: «Hier war der Bär!» Eigentlich müssten die Parks die Leute dazu bringen, über kleine Dinge zu staunen.
Gibt es in den Alpenländern Unterschiede in der Vermittlung der alpinen Landschaft?
Ganz deutliche. Die Schweizer Alpen sind voller Kühe und Alphörner. Die Schweizer haben viele Kantone mit vielen Wappen, und es gibt eine Zugänglichkeitssignalisierung, nämlich die Alpenbahnen. Auf vielen Postkarten fährt der Zug. Die österreichischen Alpen sind voller Blümchen, ganz wenige Kühe, manche Schafe, sie haben keine Bahnen, aber manchmal Bergstrassen. In Italien gibt es ein Zugeständnis an die Urbanität in den Alpen: Es gibt Seen mit Seeufer, Stadt mit Promenade und Palmen, und dahinter die Berge. Es entwickeln sich bestimmte regionale Muster, die dann dominanter sind als andere.
Wie würde denn eine ehrlichere Vermittlung ausschauen?
Im Sozialsystem, in dem diese Bilder gehandelt werden, ist Ehrlichkeit gar keine Anforderung. Die Postkarten sind retuschiert, aber das wissen alle. Wenn Sie 14 Tage in Schladming sitzen, wird das Wetter nicht jeden Tag so sein wie auf der Postkarte. Das überrascht die Konsumenten nicht. Wir haben uns damit arrangiert. Man muss die Frage anders stellen: Können wir Bilder zu einem anderen Zweck herstellen als zum Zweck, den weiteren Ausbau der alpinen Tourismusinfrastruktur, die weitere Kolonisierung der Alpen voranzutreiben?
Die ästhetischen Präferenzen zu ändern, ist aber sehr schwierig. Ich würde versuchen die Menschen zu ermächtigen, sich ihr eigenes Bild zu machen. Ich würde zum Beispiel in Tourismusorten Wettbewerbe ausschreiben für Bilder von Gästen, die von Einheimischen beurteilt werden, und für Bilder von Einheimischen, die von Gästen beurteilt werden. So können wir auch dem Bild der Einheimischen Raum geben. Ich übernehme Verantwortung für die Landschaft, wenn es nicht etwas ist, das ich konsumiere, sondern das ich selber produziere. Man kann einen Selbstreflexionsprozess in Gang bringen. Bemächtigen Sie sich der Bildproduktion, und zwar nicht, indem Sie am Handy das fotografieren, was typisch ist, sondern indem Sie das fotografieren, was für Sie selber bedeutsam ist. Das kann eine verkrüppelte Latsche (Bergkiefer, Anm. d. R.) sein, die einen für Sie bedeutsamen Wegepunkt markiert. Wenn wir Alternativen zu Disneyland-mässigen Outdoor-Themenparks wollen, brauchen wir andere, respektvolle Bilder. Wir müssen uns der Bildproduktion selber annehmen.
Bettina Hug (Interview) und
Lukas Schiemer (Bilder), Wien/A
Umwelthistorikerin mit Durchblick
Verena Winiwarter ist Österreichs «Wissenschaftlerin des Jahres 2013». Die gebürtige Wienerin lehrt an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt und ist massgeblich daran beteiligt, dass es eine wissenschaftliche Basis für die Umweltgeschichte Österreichs gibt. Sie machte sich einen Namen mit der Forschung zu Ansichtskarten der Alpen. Darüber hinaus ist es ihr ein Anliegen, die Umweltgeschichte in die Welt ausserhalb der Wissenschaft zu tragen. So entwickelte sie etwa thematische Unterrichtsmaterialien für die berufsbildenden höheren Schulen mit technischem, gewerblichem oder kunstgewerblichem Ausbildungsschwerpunkt.