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«Wir, inmitten der Natur»

23.07.2018
Naturnahe Lebensräume in der Gemeinde stärken die Mensch-Natur-Beziehung und bieten attraktive Begegnungsräume. Das Programm «Naturvielfalt in der Gemeinde» setzt Alltagsnatur in Szene.
Bild Legende:
© Johannes Gautier

Die BürgerInnen von Frastanz beklagten sich bei der Gemeindebehörde: «Die Bäume am Strassenrand sind zu hoch! Sie nehmen uns Licht weg und die Blätter verstopfen unsere Dachrinnen.» Diese Stimmen hörte Markus Burtscher, Umwelt- und Naturschutzbeauftragter der kleinen Gemeinde im Vorarlberg, Österreich.
Frastanz setzt sich schon lange für Natur- und Umweltschutzanliegen ein. Seit 1985 besteht ein Grünordnungsplan, der die Aktivitäten und Massnahmen für alles «Grüne» in der Gemeinde festhält. Vor 30 Jahren wurden auch die Bäume gepflanzt, die heute für Bäume zwar noch kein Alter haben, aber für die BürgerInnen teilweise schon zu gross sind. Die Massnahmen von damals haben also Auswirkungen auf den heutigen Lebensraum.

Planen für die Zukunft
Wie kann man solchen Klagen in Zukunft entgegenwirken? War es die richtige Art der Bepflanzung? Wurden sie am richtigen Ort gepflanzt? fragt sich Markus Burtscher. Der Ingenieur merkte, dass ein Grünordnungsplan kein statisches Instrument ist, das man in der Schublade verstauben lassen kann. Die Natur, der Mensch, eine Gemeinde als Lebensraum entwickelt sich weiter. Nun entwickelt Markus Burtscher zusammen mit einem Biologen und einem Raumplaner ein neues Instrument, das mitwachsen kann. Ein digitales Meisterwerk, das die Landschaftsentwicklung, das Verkehrskonzept, das Baumkataster, Biotope, Streuwiesen und Grünflächen gleichermassen aufnimmt. Mit dem Instrument soll die Natur im Siedlungsraum integriert gedacht werden.
Diese Initiative kann unter anderem umgesetzt werden, weil Frastanz sich im Programm «Naturvielfalt in der Gemeinde» des Landes Vorarlberg engagiert. CIPRA International und das Gemeindenetzwerk «Allianz in den Alpen» tragen diese Idee mit einem neuen Projekt in den Alpenraum hinaus. Mit «speciAlps» werden fünf Pilotregionen dabei unterstützt, ihre Naturschätze zu erkennen, zu pflegen und in Wert zu setzen. Mehr Biodiversität im Lebensraum des Menschen verspricht auch eine höhere Lebensqualität.

Siedlung und Natur als Einheit denken
Der Biologe Marco Moretti setzt sich für eine integrative Sichtweise von Natur und Siedlungsgebiet ein. Während die Bevölkerung in ländlichen Gebieten die traditionelle Kulturlandschaft bevorzuge, wünschten sich StädterInnen für die Berge eher die Rückkehr der Wildnis und romantisierten diese, stellt der Forscher am Institut für Wald, Schnee und Landschaft der ETH Zürich fest. Dieses Denkmuster zwischen Natur und Nicht-Natur, zwischen Stadt und Land gälte es zu überwinden. «Wir sollten uns entscheiden, Siedlungsräume und Städte als ein Ökosystem zu betrachten, als einen Naturraum, in dem einfach viele Menschen leben.» Betrachte man einen Wald, vergleiche man ihn auch nicht mit einer Wiese oder mit Ackerland.
Über zwei Drittel der Bevölkerung der Alpenländer leben im städtischen Raum. In ihrem Alltag ist Siedlungsgrün häufig der einzige Berührungspunkt mit Natur. Dieser soll so authentisch, so natürlich wie möglich sein, findet Marco Moretti. Ob Joggen oder die Ruhe an einem Bach geniessen, auf Bäume klettern oder in einem Tümpel Kaulquappen fangen, spiele keine Rolle. Gerade für Kinder sei es wichtig, dass sie draussen auch schmutzig werden können, damit sie ein nahes Verhältnis zur Natur entwickeln können.

Wo hört Natur auf?
Gut und vielfältig strukturierte Natur in Siedlungsgebieten kann eine höhere Biodiversität aufweisen als eine ausgeräumte Kulturlandschaft, wie sie bei extensiver Landwirtschaft vorkommen kann. Biodiversität ist essentiell für ein gutes Leben. Studien belegen, dass eine hohe Biodiversität einen direkten Einfluss auf die Lebensqualität und auf das Wohl der Menschen hat. Je mehr unterschiedliches «Grün» im Alltag vorkommt, desto glücklicher ist der Mensch. Grünlandschaften in Siedlungen sind aber für die Menschen nur bis zu dem Punkt attraktiv, an dem die Naturnähe anfängt, die Nutzbarkeit und Zugänglichkeit einzuschränken. Eine Wiese mit hohem Gras eignet sich nur bedingt zum Fussballspielen.
Die Natur im Siedlungsgebiet hat viele Funktionen. Beispielsweise entstauben Pflanzen die Luft und werfen Schatten. Damit regulieren sie die Temperatur. Grosse bebaute Flächen sind Wärmeinseln, Häuser können wie Felsen wirken. So kann der Temperaturunterschied zwischen dem Stadtzentrum und dem Stadtrand bis zu acht Grad betragen. Überreste von Pflanzen ernähren Organismen wie Bakterien, Pilze oder wirbellose Tiere. Unversiegelter Boden hilft Überschwemmungen zu vermeiden, indem Regenfälle aufgenommen werden und versickern können. In Gärten oder Beeten können Nahrungsmittel angebaut werden. Die natürlichen Komponenten im Siedlungsraum gestalten und verschönern das Gebiet und ermöglichen soziale Kontakte als Begegnungsorte in der Gemeinde. «Die Beziehung Natur und Mensch soll authentische sein, im Einklang und nicht im Gegensatz. «Wir hier, Natur da» müsse mit «wir, inmitten der Natur» ersetzt werden, findet Moretti.

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