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Soziale Innovation statt Wachstum

19.09.2017
Der Wachstumsmotor «Tourismus und Bauwirtschaft» stottert. Stattdessen braucht es neue gesellschaftliche Praktiken, institutionelle Veränderungen und partizipative Prozesse.
Gesättigter Markt: Es sind Alternativen zu Wachstum durch Neubau gefragt. © Pete Coleman, flickr
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Gesättigter Markt: Es sind Alternativen zu Wachstum durch Neubau gefragt. © Pete Coleman, flickr

Die alpinen Gebiete stehen unter permanentem Entwicklungsdruck. Manche Treiber der Entwicklung erstrecken sich über längere Zeit wie der demografische Wandel, die Globalisierung und der steigende Ressourcenverbrauch. Folgen sind Anpassungs-, Konkurrenz-, Wandlungs- oder Diversifikationsdruck. Andere Entwicklungen kommen schockartig und schrecken auf. In der Schweiz waren dies etwa das Wegbrechen der deutschen Gäste aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise – sichtbar auch am harten Franken – oder gesetzliche Veränderungen wie das Zweitwohnungsgesetz. Besonders herausfordernd wird es, wenn sich die Wirkungen der einzelnen Treiber rasch zeigen, aufschaukeln und zentrale Leitindustrien der alpinen Gebiete wie den kleinstrukturierten Tourismus oder die Bauwirtschaft treffen.
Ein solches Aufschaukeln liegt den ökonomischen Problemen vieler Destinationen zugrunde, sichtbar u. a. an sinkenden Logiernächten in der Ferienhotellerie oder am Stocken des bisherigen regionalen Wachstumsmotors «Tourismus und Bauwirtschaft». Bremsspuren entstehen u. a. wegen knappen bebaubaren Bodens. Parallel ist ein Wandel im Gästemix im Gange, weg von den Nahmarktgästen beispielsweise aus Deutschland hin zur unvollständigen Kompensation durch oftmals wertschöpfungsschwächere Fernmarktgäste aus Asien. Schliesslich wirken im Investitionsbereich auch schwache Wachstumsimpulse aus den Herkunftsgegenden der Gäste und aus dem Unterland. Die Perspektiven auf erneutes Wachstum im bisherigen Ausmass stehen schlecht, der Strukturwandel schreitet schnell voran und erfordert ein Umdenken.
Wie sehen zukunftsfähige Geschäftsmodelle von Tourismus und Bauwirtschaft mit geringerem Wachstum aus? An die bisherige Stelle quantitativer Entwicklung muss qualitative Entwicklung treten. Dazu braucht es Kreativität, Gestaltungswille und Integration der verschiedenen Bedürfnisse und Sorgen, kurz soziale Innovationen. In gemeinsamen Innovationsprozessen kann durch neue gesellschaftliche Praktiken, institutionelle Veränderungen und partizipative Prozesses neues Entwicklungspotenzial für Tourismus und Bauwirtschaft entstehen.

Vom Holzzentrum bis zum Personalsharing

Soziale Innovationen entstehen in der Schweiz beispielsweise im Projekt «Zukunft Hasliberg», das von der Gemeinde angestossen wurde: In einem gemeinsamen Prozess mit über 100 EinwohnerInnen und Zweitwohnungsbesitzenden entstanden Ideen, wie die regionale Entwicklung belebt werden kann, etwa durch ein Holzzentrum, ein Mehrgenerationenhaus oder Präsentationsmöglichkeiten des Kleingewerbes. In Adelboden ist die Stärkung des regionalen Wirtschaftskreislaufes angedacht, etwa indem BesitzerInnen renovationsbedürftiger Zweitwohnungen animiert werden, diese mit finanzieller und personeller Unterstützung der Gemeinde und des Kleingewerbes zu renovieren. Nach Abschluss der Umbauten sollen die Ferienwohnungen während eines Teils des Jahres auf dem Markt angeboten werden. Weiter: Bündner und Tessiner Hotelbetriebe teilen sich gut ausgebildetes Personal, um unterschiedliche saisonale Spitzen zu bewältigen. Durch solche Kooperationen verbessert sich der Personaleinsatz und das Personal kann sich zusätzlich qualifizieren, was gleichzeitig die Attraktivität der Arbeitgebenden stärkt.
Soziale Innovationen können Umsätze und Gewinne umverteilen und sie können ermöglichen, mit Ressourcen haushälterisch umzugehen. Sie bedeuten hohe Anforderungen an die Koordination und Kommunikation und sie stellen materielle und immaterielle Qualitäten in den Vordergrund. Insofern sind auch Aus- und Weiterbildung gefragt. Zudem senken solche Innovationen oft das Risikopotenzial, sie belasten die Landschaft weniger und zeigen mit einem integrierten Geschäftsmodell auch zukünftigen Generationen, wie sie zusammen mit den Gästen nachhaltig in alpinen Regionen leben können.

Monika Bandi Tanner, Universität Bern / CH,
Forschungsstelle Tourismus (CRED-T),
und Irmi Seidl, Eidg. Forschungsanstalt für Wald,
Schnee und Landschaft Birmensdorf / CH

Skitourismus wohin?
Es gibt wissenschaftliche Studien, die aufzeigen, welche Art von Bergbahnen wie viele Schulden aufweisen und wie viele Bergbahnen Subventionen erhalten – und was diese längerfristig bewirken. Ein entsprechender Beitrag zu Österreich wurde CIPRA International von einem Forschungsinstitut zugesagt, jedoch in letzter Minute zurückgezogen. Ausschlag gab laut Auskunft des Autors die Furcht, dass Konflikte provoziert und dem Institut Aufträge entzogen würden.
Auf Grund veröffentlichter Studien können indes Aussagen gemacht werden zur Entwicklung des Gästeverhaltens. Wie im CIPRA-Positionspapier «Sonnenwende im Wintertourismus» dargelegt, sind die Logiernächte in den Alpen seit etlichen Jahren rückgängig, und zwar auch in ehemals erfolgreichen Wintersport-Destinationen. Die Zahl der Ersteintritte der Skigebiete, die so genannten Skier Days, ist in allen Alpenländern seit fünf Jahren tendenziell rückläufig, ebenso die der Aufenthaltstage. Insbesondere junge Menschen üben Wintersport, wenn überhaupt, nur gelegentlich aus. Ein Drittel bis ein Viertel der Skigebiete in den Alpen arbeitet defizitär. Der Ruf nach Finanzierung von Marketingaktivitäten und Infrastrukturen durch die öffentliche Hand wird lauter, das Risiko an die Allgemeinheit ausgelagert.
Der gegenwärtige Trend zu Zusammenschlüssen von Skigebieten ist jedoch keine Garantie für zusätzliche Gäste, wie Studien belegen. Zwar zieht das erweiterte Angebot möglicherweise kurzfristig neue Gäste an. Sobald anderswo ausgebaut wird, sind diese schon wieder weg. Die Gesamtzahl der Skifahrer ist tendenziell rückläufig – es herrscht ein inneralpiner Verteilungskampf.

Barbara Wülser, CIPRA International