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«Nachher steht das Dorf anders da»

22.11.2019
Weshalb die Integration Zugezogener auch in einem Dorf gut gelingen kann und warum Konflikte dazugehören. Im Gespräch mit Eva Grabherr, die seit bald zwei Jahrzehnten regionale Integrationsstrategien in Vorarlberg/A entwickelt.
Bild Legende:
Eva Grabherr (c) CIPRA International, Caroline Begle

Frau Grabherr, Migration wird heute in der Öffentlichkeit oft einzig mit geflüchteten Menschen verbunden. Woran liegt diese Verengung des Begriffs?

In Deutschland, Österreich, der Schweiz, eventuell Italien ist völlig klar, dass durch die Ereignisse der letzten Jahre das Thema Flucht stark im Vordergrund steht. Wer ein etwas längeres Gedächtnis hat und 20 Jahre zurückblickt, für den stimmt das nicht. Unsere Projektstelle «okay.zusammen leben» wurde nicht für die Fragen von Fluchtmigration gegründet, sondern für die Fragen der nachholenden Integration von Menschen, die schon länger hier sind.

Wir hatten in Vorarlberg eine starke Gastarbeitermigration; das gilt auch für die Schweiz und für Deutschland. Man ging davon aus, dass diese Menschen nicht auf Dauer bleiben und stellte sich entsprechend auch nicht darauf ein. Um das Jahr 2000 gab es in den deutschsprachigen Ländern einen Paradigmenwechsel: Man erkannte, dass viele Menschen geblieben sind, und auch deren Nachkommen. Aber Sie haben völlig Recht, die letzten drei Jahre zeigen in den Ländern Europas eine starke Fokussierung auf Fluchtmigration. Ich bin mir nicht sicher, dass das in fünf bis zehn Jahren noch so ist. Das ist sehr ereignisbezogen.

Wie unterscheidet sich Migration im Alpenraum von anderen Gebieten?

Historisch gesehen sind die Alpen ein Raum, der von Menschen über Jahrhunderte verlangt hat zu gehen, weil er nicht alle ernähren konnte. Es ist auch ein Raum, aus dem Menschen weggegangen sind, weil sie Fertigkeiten hatten, die anderswo gebraucht wurden. Aus diesem Kommen und Gehen konnten fruchtbare Prozesse entstehen. Zugleich mit der Industrialisierung wurden auch Teile des Alpenraums Zuwanderungsregionen. Andererseits gibt es Regionen, die bis heute Auswanderungsgebiete geblieben sind und darauf angewiesen wären, dass Menschen kommen.

Wo liegen die regionalen Unterschiede im Umgang mit Zuwanderung?

Die Region Vorarlberg zum Beispiel ist bis heute stark geprägt von Industrie. Das beeinflusst auch die Mentalität, man geht recht pragmatisch um mit Integrationsfragen. Unternehmerinnen und Unternehmer konnten eine prägende Kraft für die Deutung dieser gesellschaftlichen Prozesse entwickeln. Dieses Segment der Wirtschaft weiss, dass es ohne Migration nicht existieren würde. Das bedeutet aber nicht, dass diese Region keine Probleme hätte mit Integrationsprozessen. Wer darf hier bauen? Lebe ich nun in einem Land mit Muslimen? Was tue ich mit islamischen Organisationen, mit Minaretten, mit Moscheen? Alles, was klassisch ist für Integrationsprozesse – etwa, dass Zugewanderte und Ansässige in Reibung kommen miteinander –, das passiert auch in Vorarlberg. Wir haben aber eine Politik, die darauf achtet, dass die Bevölkerung nicht überfordert wird und es nicht zu konflikthaft wird.

Vor zwei, drei Jahren, zu Beginn der letzten grossen Fluchtmigration nach Österreich, habe ich Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Kärnten/A beraten. Dort habe ich gemerkt, welche Unterschiede es gibt zu ihren Vorarlberger Kolleginnen und Kollegen, die jahrzehntelange Erfahrungen haben mit solchen Prozessen. Erfahrung hilft. Erfahrung, dass man das bewältigt.

In einigen Regionen der Alpen polarisieren Heimat, Religion und nationale Identität stark. Hängt das mit dieser fehlenden Erfahrung zusammen?

Das Bild von Kultur und Zivilisation als «dünnes Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos», nach dem Philosophen Friedrich Nietzsche gesprochen, stimmt grundsätzlich für alle Menschen und sozialen Gruppen und damit auch für alle Regionen. Wir haben beides in uns, die Hölle und den Himmel. Die Rahmenbedingungen bestimmen, ob das eine oder das andere in grösserem Ausmass hervorkommt. Es ist eine Frage von Institutionen, von Stabilität, von Demokratie, von Verantwortungsträgern. Wenn sich politisch Verantwortliche nicht um Veränderungsprozesse kümmern, nicht auf eine lebendige Zivilgesellschaft, gute demokratische Strukturen und die wirtschaftlichen Fragen der Menschen achten, wenn sie Probleme schleifen lassen, dann öffnen sie Tür und Tor für Akteure, die auf der Ebene von Vorurteilen arbeiten. Es ist auch didaktisch wichtig zu sagen, dass niemand davor gefeit ist. Seien wir nicht allzu selbstzufrieden! Das Haus muss in Ordnung sein.

Wie geht es Ihnen mit der Aussage, dass sich Zugewanderte und deren Kinder gut integrieren müssen?

Sprachkritisch wie ich bin, mag ich gar nicht, dass man das so einseitig sagt. Wenn damit aber gute Integrationsmassnahmen und tolle Aufnahmeprogramme verbunden wären, dann hätte ich mit dieser Aussage kein grosses Problem. Ich kenne aber Menschen, die in zweiter oder dritter Generation hier leben, als Installateur eine eigene Firma haben, breiten Dialekt sprechen, im Fussballclub mitspielen und Vorstandsmitglieder in einem Moschee-Verein sind und das Wort «Integration» nicht mehr hören können. Denn sobald es irgendwo eine Debatte über Religion gibt, sind sie plötzlich «die Fremden». Wir können gewisse Dynamiken menschlichen Verhaltens nicht aushebeln. Das heisst, wenn jemand hier sitzt und jemand Neues kommt, wird es eine grössere Anstrengung für denjenigen sein, der kommt. Ich glaube sogar, dass wir etwas falsch machen, wenn wir den ankommenden Menschen die Integrationsanstrengung nicht zumuten. Wir machen es aber auch falsch, wenn wir sie ewig nicht ankommen lassen, ihnen keine Hilfestellung leisten oder sie bewusst auflaufen lassen.

Sie sprechen oft von «Zweiheimischen», die sich an mehr als einem Ort zuhause fühlen. Vor welchen Herausforderungen stehen diese Menschen?

Wenn wir den Integrationsprozess anschauen, dann geht es natürlich längerfristig auch um Angleichungsprozesse: im Bildungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt, im Wohnbereich. Die Prozesse sind geglückt, wenn wir keine grossen Gruppenunterschiede mehr sehen. Die emotionale Ebene ist kniffliger. Was haben wir da für Vorstellungen? Haben wir die Vorstellung, dass man sich als Zugezogener nicht mehr für die Politik seines Heimatlandes interessieren darf? Dass man dazu nicht mehr emotional Position beziehen darf, wenn man hier lebt? Muss man das vergessen, um wirklich hier anerkannt zu sein? Schauen Sie, wie die Debatten da manchmal laufen. Der islamische Friedhof in Vorarlberg wächst nur langsam, weil sich die erste Generation im Heimatland begraben lässt und sich erst die zweite Generation in grosser Zahl hier begraben lassen wird. Das wird sogar in Zeitungskommentaren als Zurückweisung von Beheimatung in Vorarlberg interpretiert. Menschen – auch in zweiter Generation –, die sich hier niederlassen, fühlen sich, sobald es konflikthaft wird, daran erinnert, dass es nur alles oder nichts gibt. Das wird keiner Identität gerecht, schon gar nicht dem Identitätsgefüge von Menschen, die natürlich nicht ihre Grosseltern verleugnen wollen, wenn sie sich hier niederlassen. Darum sind Begriffe wie «Zweiheimischkeit» oder «Mehrheimischkeit» wichtig.

Sie betonen, Konflikte dürfen nicht gescheut werden. Führt gelungene Integration zu mehr Konflikten?

Natürlich. Es gibt in offenen, freien Gesellschaften keinen Integrationsprozess ohne Konflikte. Wir brauchen einen anderen Zugang zum Thema Konflikt. Das bedeutet, robuster zu werden, mehr auszuhalten, aber auch zu sehen, welche Rahmenbedingungen es gibt. Es gibt eine These des deutschen Soziologen Aladin El-Mafaalani, das Integrationsparadox. Sie besagt, dass gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, weil nun neue Gruppen von Menschen mit am Tisch sitzen und mitreden wollen. Studien belegen zum Beispiel, dass Konflikte über Moscheebauten auf Dorf- und Gemeindeebene zu Veränderungen führen. Nachher kann das Dorf anders dastehen – und zwar besser in Bezug auf das Miteinander seiner Einwohnerinnen und Einwohner. Matthias Rohe, Islamwissenschaftler und Religionsrechtler, hat schon 2005 viele der heutigen Konflikte in Bezug auf die Integration des Islam als Religion vorhergesehen. Dass sich eine neue Religionsgemeinschaft organisatorisch integriert, betrifft auch Gesetzgebungen und Verordnungen.

Gelingt die Integration von Zuwanderern in einer Grossstadt einfacher als in einem Alpendorf?

Integrationspolitik wurde lange Zeit nur städtisch gedacht, das hat sich inzwischen geändert. Es ist gar keine Frage, dass kleine Räume ein unglaubliches Potenzial für die Integration haben. Man kann sich dort weniger zurückziehen, braucht von Anfang an viel mehr Kontakte – das beschleunigt die Prozesse enorm. Sich zurückzuziehen wäre einfacher, als sich gleich auf Menschen einzulassen, die die eigene Sprache nicht sprechen. Die Grossstadt gibt mehr Raum und Gelegenheiten auszuweichen.

In einer Grossstadt gibt es demgegenüber aber auch enorm viele Möglichkeiten, um seinen Weg gehen zu können mit dem, was man mitbringt. Sie bietet also deutlich mehr Gelegenheitsstrukturen. Und sie hat organisatorische Vorteile. Organisieren Sie einmal Sprachkurse im ländlichen Raum, wo in jeder Gemeinde vielleicht drei Menschen mit Migrationshintergrund leben und es kein gutes öffentliches Busverkehrsnetz gibt! Beide Räume haben Potenziale, Vor- und Nachteile.

 

Michael Gams, (Interview) und Caroline Begle (Fotos), Dornbirn/A


Quelle und weitere Informationen: www.cipra.org/szenealpen

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