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Landschaft liegt im Auge des Betrachters

23.04.2019 / Norman Backhaus
Warum versteht jeder unter Landschaft etwas Anderes? Welche Prägungen dominieren die Betrachtungsweise? Das 4-Pole-Modell veranschaulicht die unterschiedlichen Zugänge.
Bild Legende:
Barfuss am Moor: Landschaften bieten körperlich-sinnliche Erfahrungen. (c) Eric Vazzoler Zeitenspiegel

Die meisten von uns haben ein mehr oder weniger klares Bild im Kopf, wenn wir nach schönen Landschaften gefragt werden. Die Bilder, die vor dem inneren Auge auftauchen, sind wohl eher Idyllen mit Bergen, Wäldern, Fliessgewässern, traditioneller Landwirtschaft und schmucken Siedlungen als städtische Landschaften. Diese Bilder kommen nicht von ungefähr, ist doch unsere Wahrnehmung von Landschaft von romantischen Vorstellungen und Gemälden alpiner Landschaften des 19. Jahrhunderts geprägt, in denen das Erhabene und die Idylle kombiniert wurden. Mit der modernen Landschaftsfotografie wurden diese Vorstellungen global verbreitet. (Berg-)Landschaften sind so zu einer internationalen Marke geworden, die sich touristisch vermarkten lässt.

Jenseits von Idylle

Doch wir leben nicht nur in idyllischen Landschaften, und bei deren Entwicklung stehen nicht immer ästhetische Aspekte im Vordergrund. Oft gehen die Vorstellungen darüber auseinander, wie sich eine Landschaft entwickeln soll und was sie leisten kann. Je nach Fokus, Interesse und Einstellung der Betrachterin, des Betrachters rücken andere Aspekte des landschaftlichen Ensembles in den Vordergrund. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diese Wahrnehmungen wissenschaftlich zu fassen. Eine davon ist das sogenannte 4-Pole-Modell (Abb. S. 8).

Darin stehen sich einerseits die natürliche Basis von Landschaften und ihre kulturellen Bedeutungen gegenüber, andererseits das Individuum und die Gesellschaft. Zwischen diesen vier Polen findet die Wahrnehmung statt, je nach Interesse und Fokus näher an dem einen oder dem anderen Pol. Dabei haben wir es jedoch immer mit einem Zusammenspiel der vier Pole zu tun. Natürliche Phänomene lassen sich nicht ohne die Zuweisung kultureller Bedeutung betrachten, und die betrachtende Person kann zwar eigene Vorlieben haben und Schwerpunkte setzen, bildet ihre Sichtweisen aber auch als Mitglied der Gesellschaft heraus.

Im durch die Pole aufgespannten Feld werden sechs sich überlappende Dimensionen verortet, die spezifische «Brillen» für die Landschaftsbetrachtung darstellen. Bei der körperlich-sinnlichen Dimension geht es um die Wahrnehmung der Landschaft mit allen Sinnen, bei der identifikatorischen Dimension stehen Heimatgefühle im Vordergrund und bei der ästhetischen Dimension geht es um die Schönheit von Landschaften und ihren Elementen. Bei Diskussionen um die Entwicklung von Landschaften steht oft die ökonomische Dimension im Vordergrund, zumal Land auch jemandem gehört. Eng damit verknüpft ist die politische Dimension, da Landschaftsentwicklung meist auch mit Aushandlungsprozessen verknüpft ist. Die ökologische Dimension schliesslich konzentriert sich auf die natürlichen Aspekte wie z.B. die Biodiversität.

Damit wird deutlich, dass je nach Interesse und Situation andere Ansprüche an die Landschaft gestellt werden, die nicht immer im Einklang miteinander stehen. Sichtbar wird dies in Diskussionen um Energieprojekte wie Wind- oder Wasserkraftwerke und regionale Natur- oder Nationalparks (Essay S. 17). Sollen diese Gebiete und ihre Landschaften beispielsweise eine Regionalentwicklung oder die Förderung einer grossen Biodiversität ermöglichen? Wirtschaftliche Argumente stehen dann oft naturschützerischen gegenüber, und beide beeinflussen die Möglichkeiten zur Identifikation mit einer Landschaft. Dazu kommt, dass Landschaften in den wenigsten Fällen eine politische Einheit darstellen. Ebenso heterogen sind die Besitzverhältnisse.

«Landschaft» als allgemeinverständliches Konzept

Trotz dieser Herausforderungen kann es sinnvoller sein, über Leistungen, Potenziale oder Defizite von «Landschaften» zu sprechen, als von Ökosystemen oder Räumen, die Leistungen erbringen oder bestimmte Eigenschaften aufweisen. Denn Landschaft ist ein allgemein verständlicher Begriff, über den leicht diskutiert und verhandelt werden kann. Dies bringt aber mit sich, dass bei geplanten Veränderungen nicht nur unterschiedliche Interessen, sondern auch Blickwinkel und Befindlichkeiten der beteiligten Akteure berücksichtigt und aktiv abgeholt werden müssen. Projekte mit landschaftsveränderndem Charakter im alpinen Raum – wie Schutzgebiete, Tourismusinfrastruktur oder Anlagen zur Energiegewinnung – werden oft als Ideen aus dem «Flachland» wahrgenommen, welche die Selbstbestimmung der «Bergbevölkerung» einschränken. Es gilt, (wieder) einen Ausgleich herzustellen, bei dem unterschiedliche Wertvorstellungen unter gegenseitiger Anerkennung von Verdiensten und Ansprüchen verhandelt werden können. Das Konzept «Landschaft» kann hier als geeignetes Mittel wirken.

Norman Backhaus, Universität Zürich/CH

 

Quellen und weiterführende Informationen:

www.normanbackhaus.ch (en)

Backhaus, N., Reichler, C. & Stremlow, M., 2007. Alpenlandschaften: Von der Vorstellung zur Handlung – Thematische Synthese zum Forschungsschwerpunkt I «Prozesse der Wahrnehmung» des NFP 48, Zurich: vdf.

www.cipra.org/szenealpen