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Kurzgeschichte: Sichtweise

29.12.2022 / Giulia Bricci, Berge Lesen 2022
Zukunft als Veränderung, Alpabtrieb per Drohne, Menschen als Gedankenwesen, Hightech-Gesellschaft ohne Empathie, Wildtiere in einer Winternacht: Wir präsentieren die letzte von fünf Kurzgeschichten, die bei der Berge-Lesen-Veranstaltung 2022 in Schaan ausgezeichnet worden sind.
Bild Legende:

Schnee rieselt den Baum herunter. Im Wald ist es still. Leise schreitet ein Reh vorbei und nagt an einer freigelegten Wurzel herum. Es raschelt im Dickicht, das Reh reisst schlagartig den Kopf hoch und stellt die Ohren auf. Gebannt schaut es in das Dunkel hinein und verschwindet ebenso lautlos wie es gekommen ist. Der Jäger bewegt sich, nicht ganz so lautlos, und pirscht dem Reh hinterher zum Bach hinunter. Zusammen verbringen sie ihre Zeit: Das Reh trinkend, der Jäger wartend. Dann, in einem Augenblick, der ihm passend scheint, lässt er den Schuss los. Blut strömt in den Bach. Das klare Wasser ist rot gefärbt. Das Reh kracht in sich zusammen und bleibt reglos liegen. Die Augen schauen gen Himmel. Der letzte Atemzug tanzt mit der Winterluft in die Höhe und auch die Seele geht ihren Weg, stakst weiter. Leise hört man das letzte Glocken läuten, nur geübte Ohren können es vernehmen, und das Reh ist tot. Der Jäger nähert sich, fast behutsam, das Gewehr hat er um den Rücken gehängt. Er schaut sich das Tier kalt an. Es ist nicht allzu gross, so zieht er es aus dem Wasser. Die sauberen Hände wäscht er sich und haucht sie an. Das Reh birgt er so wie es ist. Er hievt es sich auf den Rücken und geht den ganzen weiten Weg zum Lager zurück. Der Wolf streift durch die finsteren Teile des Waldes und nutzt die Verwirrung der Dämmerung. Geübt bewegt er sich zwischen den Bäumen. Auf leisen Pfoten schreitet er voran. Dem Licht kommt er immer näher. Leise, aufmerksam, stellt er seiner Beute nach. Am Rande des Lagers bleibt er stehen und beobachtet mit scharfen Augen das Geschehen. Menschen, die reden und übers Feuer greifen, Kinder die schreien und einander in die Haare fassen, bellende Hunde. Wohin man sieht: Chaos, Trubel, eine ungeordnete Meute an Menschen. Das Reh, aufgehängt an einem quergelegten, zwischen Bäumen hängenden Ast, blutet noch immer. Unter ihm liegt eine Schale, die den roten Saft auffängt. Neben dem Reh hängen kleinere Tiere: Marder, Hasen, Füchse. Sie hängen an ihren Schlingen und drehen sich langsam um ihre eigene Achse. Der Rabe sitzt auf dem Ast und pickt an den Leichen. Die Hunde scheuchen ihn immerfort weg. Geräuschlos winkelt der Wolf seine Hinterbeine an und nimmt Stellung ein. Er hält inne, lauscht und mit einem Satz ist er am Ast, reisst einen Hasen runter und verschwindet wieder im Schutz des Waldes. Ein Schuss ist zu hören, erneutes Hundegebell geht los. Er rennt weiter, die Beute fest zwischen seinen Fängen. Der Tumult des Lagers liegt immer weiter zurück. Der Rabe stösst sich vom Ast ab und fliegt über dem Licht des Lagerfeuers. Seine schwarzen Schwingen verschmelzen mit der aufkommenden Finsternis. Das Lachen der Menschen ist leise zu hören, doch er fliegt weiter der Nacht entgegen. Höher und höher schwingt er sich in den Himmel. Das Lagerfeuer mit den Kadavern liegt immer weiter unter ihm, die Menschen werden kleiner. Er kreist über den Baumkronen bis nichts Sichtbares übrig bleibt. Es leuchten die ersten Sterne. Nun gleitet er durch die Leere und beobachtet was unten vorgeht, über sich vernimmt er die ewige Weite. Die Nacht ist für ungeübte Ohren leise, doch nicht für ihn. Die kriechenden Tiere und die rufenden Eulen vernimmt er nur zu gut. Er treibt weiter und verliert an Höhe, segelt knapp über den Baumkronen, bevor er sich auf einen Ast niederlässt und sein Nest aufsucht. Weich schmiegt er sich in die Wärme hinein, legt schützend den Schnabel unter seinen rechten Flügel und schliesst die Augen. Die Fledermaus erwacht. Es ist Jagdzeit. Lautlos flattert sie durch die Luft. Kreuz und quer bewegt sie sich in ihrem Element. Die Nacht gehört zu ihr wie die Blätter zu ihren Bäumen. Sie ruft in die Stille hinein, die wenigsten können es hören. Durch ihre Laute sieht sie wie sich der Wald vor ihr formt, sieht die raschelnden Baumkronen, wie sie sich sanft in der Brise winden. Kleine Insekten surren durch die Luft, diese schnappt sie sich ohne weitere Mühe. Erneut und immer wieder schickt sie Wellen raus, tastet sich in der Nacht voran. Sie sieht sie, die Beute, wie sie in der Luft schwirrt: Einen Falter, halb so gross wie sie. Er fliegt immer näher zum Licht heran. Die Fledermaus holt auf, verschwimmt mit dem Dunkel der Nacht und bevor der Falter reagieren kann, erbeutet sie ihn im Flug. Es ist eine erfolgreiche Jagd. Die Wächterin schaut ins Feuer und spitzt die Ohren bei jedem Geräusch. Sie ist sich den Wald noch nicht gewohnt. Im Dunkeln hat sie meistens Angst, aber die Sterne verleihen überall Hoffnung. Sie schaut in den Himmel, der klarer ist als sonst. Tagsüber ist er oft mehr grau als blau, aber hier, in der Nacht, scheinen die Sterne nur für ihre Augen. Sie facht das Feuer erneut an, stachelt es an höher zu brennen, wilder. Die Glut springt ihr zu Füssen, spritzt regelrecht in die Nacht hinaus, wie kleine Falter, die sich zu nah ans Feuer gewagt haben. Sie schaut gebannt hinein, schaut dem Tanzen der Flammen zu, wie sie sich im Dunkeln schlängeln, wie die Bäume schwarz im Kontrast dazu stehen. Wie kraftvoll so ein Feuer ist, wie durchdringend. Sie steht auf, nimmt einen Krug kostbares Wasser und dämmt die Flammen ein. Erschöpft setzt sie sich wieder auf den Baumstamm. Bald würde die Sonne aufgehen und der Rest der Gemeinschaft würde wieder erwachen. Die tägliche Betriebsamkeit würde erneut starten, wie Bienen in ihrem Stock. Die Sterne erinnern sie an ein entferntes Vielleicht. Sie schimmern ihr Trost spendende Worte zu. Bald ist die Nacht vorüber und sie würde schlafen, so lange wie möglich.

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