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Kurzgeschichte: Gedankenspuren

28.12.2022 / Wolfgang Frommelt, Berge Lesen 2022
Zukunft als Veränderung, Alpabtrieb per Drohne, Menschen als Gedankenwesen, Hightech-Gesellschaft ohne Empathie, Wildtiere in einer Winternacht: Wir präsentieren die vierte von fünf Kurzgeschichten, die bei der Berge-Lesen-Veranstaltung 2022 in Schaan ausgezeichnet worden sind.
Bild Legende:

Suu schwebte über dem braunen Gras der Steppe. Bald schon würde irgendwo ein Feuer entstehen und sich rasend schnell über die ganze Ebene ausbreiten. Was nach Zerstörung und Vernichtung aussah, war der Beginn eines wiederkehrenden Lebenszyklus. Suu hatte das schon viele Male beobachtet. Anfangs versuchte sie etwas dagegen zu machen. Was ehrlich gesagt etwas hilflos wirkte, allein wie sie war. Dann bemerkte sie, dass nach dem Feuer die Steppe sich schnell erholte und frische Pflanzen nachwuchsen. Später fand sie heraus, dass viele Samenkapseln erst nach einer grossen Hitze aufsprangen. Das wiederkehrende Feuer war nicht schädlich, oder zerstörerisch, es war geradezu von eminenter Wichtigkeit für die Grasebene. Seitdem Suu das herausgefunden hatte, liess sie die Natur gewähren.

Endloses Grasland. Von Horizont zu Horizont in einer Ebene ohne jegliche Erhebung. Scheinbar. Suu wusste es besser. Sie kannte das Sperrgebiet Alpinus besser als jeder andere Mensch. Fast ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht und geforscht. Suu dachte dabei immer gross. In ihren Gedanken schmolzen Jahrmillionen zu Stunden, dann sah sie auch Zusammenhänge zu längst vergangen Zeiten. Suu fand es aufregend, dass an dem Ort, wo sie gerade schwebte, vor zwei galaktischen Jahren einmal ein riesiger Ozean war und vor etwa einem halben galaktischen Jahr sich ein Gebirge auftürmte, das über einen kurzen Zeitraum völlig mit Eis bedeckt war und danach langsam durch Erosion abgebaut wurde.

Für die meisten Menschen galt alles, was vor dem heutigen modernen Menschen war, rückständig und primitiv. Die Wissenschaft hatte damals einen Urstoff gefunden, der die menschliche Existenz mehr in ein geistiges Gedankenwesen verwandelte. Es hatte für den Einzelnen Menschen grosse Vorteile. Das Leben war weniger mühselig und länger, weil die Gefahr am Körper zu erkranken verringert wurde. Und es war auch für die gesamte Menschheit von Vorteil. Ein mehrheitlich geistiger Mensch benötigte weniger feste Nahrung und weniger Platz. Die Erdbevölkerung konnte weiter anwachsen, benötigte dabei aber weniger Raum. Die Natur profitierte ebenfalls davon. Das war damals der Anfang. Der weiter verbesserte Urstoff wird dem heutigen modernen Menschen bei der Geburt injiziert. Der moderne Mensch ist dadurch unabhängig von Nahrung. Durch seine feinstoffliche Leichtigkeit auch nicht mehr auf festen Boden angewiesen. Er schwebt durch sein Leben.

Die Bodenständigen hatten sich Damals gegen diese Neuerungen aufgelehnt und den Fortschritt, der alles besser machte, behindert, wo es nur ging. Aber der moderne Mensch gewann die Oberhand. Das alles war in Gedankenspuren der Regierung festgehalten und lernten die modernen Menschen von Kindestagen an.

Deshalb teilten nur wenige Suus Begeisterung für die Zeit vor der Gedankenaufzeichnung. Selbst die Regierung, die den Auftrag gegeben hatte, die Historie im Sperrgebiet Alpinus zu erforschen, schien nicht an ihren Ergebnissen interessiert zu sein. Vielmehr interessierte die Regierung, ob es Spuren von Siedlungen, oder andere Hinweise von intelligenten Lebewesen gab. Anfänglich war Suu nicht klar, weshalb die Regierung danach fragte.

Vor langer Zeit hatte die Regierung bekanntgegeben, dass die Bodenständigen vernichtet seien. Das stimmte aber nicht, wusste Suu heute. Die Regierung wusste das auch und machte grosse Anstrengungen das geheim zu halten.

Suu fand das gut. Also, nicht dass die Regierung die Menschen belog. Aber durch die Abschottung des Alpinus konnte sich im Sperrgebiet eine einzigartige Natur über viele Jahrtausende, ohne den Einfluss des modernen Menschen entwickeln und erhalten.

Wie die Ergebnisse ihrer Studie der Historie, notierte sie auch ihre Erkenntnisse über die Biologie das Alpinus exakt und präzise auf. Durch ihre Beobachtung der Natur, wurde Suu zu einer Expertin der Biologie im Sperrgebiet. So konnte sie auch Veränderungen feststellen, die sich über Jahre hinweg langsam entwickelten.

Suu fertigte auch immer einen Bericht für die Regierung an. In diesem betonte sie, dass sie immer wieder Gedankenspuren in den Grenzregionen feststellte. Auch, dass diese von Jahr zu Jahr tiefer ins Sperrgebiet vorstiessen. Gleichzeitig hielt sie auch ihre neusten Funde fest. Spuren, die auf intelligentes Wirken hinwiesen, wie Suu es von altertümlichen Menschen, die zu einer Zeit lebten, als die Menschen die Zeit nach dem Geburtstag eines einzigen Menschen rechneten, her kannte. Das war sehr ungenau. Weit weg von der Präzision der galaktischen Zeitrechnung des modernen Menschen.

Suu gab ihre Ergebnisse sehr dossiert an die Regierung weiter. Sie spielte mit der Angst der Regierung, dass die Menschen mit ihren Gedankenspuren ähnliches wie Suu herausfinden könnten. Damit wäre die Wahrheit, die die Regierung verbreitet in Gefahr. Oft erhöhte die Regierung den Schutz der Grenze zum Alpinus nach einem Bericht von Suu.

Suu liebte die einzigartige Natur des Alpinus. Und so konnte sie die Regierung dazu bringen das Sperrgebiet Alpinus weiter abzuschotten.

Suu war es aber auch bewusst, dass sie damit alle anderen Menschen ebenfalls belog.

Es gab auch einige Ergebnisse ihrer Forschung, die sie der Regierung völlig vorenthielt. Im Zentrum des Sperrgebietes gab es noch die letzten Reste des einstigen Gebirges. In den wenig verbliebenen Tälern lebten noch Bodenständige. Suu hatte über die Jahre ihr Vertrauen gewonnen, ihre Sprache, sowie ihre Schrift gelernt und ihnen zugehört. In ihren Geschichten und Archiven kamen Folter, Zwangsinjektionen, Nebenwirkungen und Mord vor. Es war eine andere Geschichte, als die von der Regierung genehmigten.

An Abenden, wenn die Bodenständigen ums Lagerfeuer sassen, schwebte Suu daneben. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich das anfühlt, das wärmende Feuer zu spüren und die Füsse auf den Boden zu stellen. Ihr geistig verkrüppelter Körper liess das aber nicht zu.

Suu wurde dann immer sehr traurig.

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