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Ein gestaltbarer Prozess

05.11.2019
Manche betrachten Zuwanderung als Bedrohung für die Identität lokaler Gemeinschaften. Andere fürchten um ihr Überleben, da viele aus alpinen Regionen abwandern. Wie lassen sich diese Sichtweisen vereinbaren?
Bild Legende:
Ort der Begegnung: Auf dem Marktplatz treffen verschiedene Menschen aufeinander und verhandeln ihr Zusammenleben. (c) Heinz Heiss

Im Hochmittelalter wandern die Walser aus dem Schweizer Rhonetal aus und besiedeln hoch gelegene Talstufen im Piemont, Liechtenstein, Vorarlberg und Tirol. Engadiner Zuckerbäcker suchen im 15. Jahrhundert Lohn und Brot in Italien. Arbeiterinnen aus Trentino weben Ende des 18. Jahrhunderts Stoffe in Vorarlberg/A, während sogenannte Winterschwalben aus Savoyon, Bauern meist aus Val d’Isère, im Winter im Piemont und Südfrankreich hausieren.

Zu- und Abwanderung in den Alpen und zwischen und aus alpinen Regionen lassen sich bis ins Mittelalter verfolgen. Immer wieder suchten und suchen Menschen in den Alpen Arbeit und Auskommen in der Fremde, in Städten und Metropolen. Die sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt von heute zeigt, dass der Alpenraum als Zentrum Europas seit Jahrhunderten Besiedlungsraum für verschiedene Menschen war und ist (S. 11). Wenn sich die Gesellschaften wandeln, eröffnen sich neue Möglichkeiten des Wirtschaftens, Austauschs, Miteinanders, Entwickelns. Voraussetzung ist die Offenheit für neue Ansätze und Denkweisen und die Fähigkeit, mit mehrdeutigen Situationen und widersprüchlichen Handlungsweisen umzugehen.

Gekommen um zu bleiben

Menschen kommen heute in die Alpen, weil sie einen neuen Job oder eine neue Liebe haben, weil sie in der alpinen Umgebung ihren Lebensabend verbringen oder Sport treiben möchten, weil sie im Dorf günstig wohnen und leben und trotzdem in der Stadt arbeiten können. Sie bleiben, weil sie nette Nachbarn haben, den Austausch mit Andersartigen im Dorf schätzen, ihre Kinder hier verwurzelt sind. Oft sind «harte» Faktoren entscheidend für den Entschluss, sich in einer Alpenregion niederzulassen, während «weiche» Faktoren fürs Dableiben sprechen. Dies gilt für Zugezogene, Rückkehrende und Dagebliebene gleichermassen.

Insgesamt nimmt die Bevölkerung in den Alpen zu. Das liegt vor allem daran, dass sich immer mehr Menschen aus dem Ausland in der Alpenregion ansiedeln. Diese Entwicklung verläuft regional und auf Gemeindeebene sehr unterschiedlich. Wer, wohin und warum wandert, hängt unter anderem von der landschaftlichen Attraktivität, Arbeitsmöglichkeiten, Wohnraum, soziale Kontakte und staatlichen Verteilungsmechanismen ab. Vor allem die westlichen Alpenregionen, urbane Zentren, grosse Täler und Verkehrskorridore ziehen neue EinwohnerInnen an. Viele ostalpine Regionen, ländliche Gebiete und Täler kämpfen dagegen mit Abwanderung (S. 8).

Eine starke Zivilgesellschaft

Wegen dem Krieg in Syrien flüchten 2015 Hunderttausende Menschen nach Europa und in die Alpen. Dies war und ist eine grosse Herausforderung für die europäischen Staaten und für Gesellschaften. Die Ankunft der vielen Flüchtlinge überforderten die Behörden, führten zu Versorgungsengpässen und warfen Fragen der Sicherheit und Wirtschaftlichkeit auf. Auch im Alpenraum wird die Zuwanderung, insbesondere durch Fluchtmigration, kontrovers diskutiert. Die Gesellschaft zeigt sich gespalten.

Gleichzeitig engagieren sich viele Menschen, Vereine, NGOs und Gemeinden freiwillig, um den Geflüchteten Schutz und Unterkunft zu bieten. Besonders BürgermeisterInnen spielen beim Aufbau einer aktiven Willkommenskultur in der Gemeinde eine zentrale Rolle. Es zeigt sich gerade in kleinen Gemeinden, dass sich dadurch das Stimmungsbild gegenüber Zugewanderten massgeblich verbessert. Dieser Einsatz von lokalen Gemeinschaften ist für den Umgang mit kultureller Vielfalt und den sozialen Veränderungen im Alpenraum von grosser Bedeutung.

Anderes Denken bringt neue Ideen

Wie können Neuankommende in den Arbeitsmarkt und in die lokale Gesellschaft integriert werden? Kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt benötigen schon immer einen Aushandlungsprozess zwischen Bevölkerung und EinwanderInnen. Doch Zuwanderung bietet auch eine Chance für die Entwicklung von Alpenregionen. Die Forschung zeigt: Kulturelle Vielfalt kann Innovationen fördern. Voraussetzung dafür ist eine gute Integration von Zugezogenen in die lokalen Gemeinschaften und ein interessierter, offener Umgang miteinander (S.18).

Gibt es Arbeit und Wohnmöglichkeiten in einer Gemeinde? Funktioniert die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur? Wie ist das soziales Umfeld? Gibt es Austausch zwischen lokaler und zugewanderter Bevölkerung? Offenheit für andere Lebensweisen und der Wille zur Teilhabe entsteht nicht von selbst, sondern es braucht entsprechende Rahmenbedingungen. Nur so können Berührungsängste abgebaut und Begegnungen stattfinden.

Lokale Gemeinschaften machen es vor

Der Alpenraum ist sehr heterogen: Es gibt ländliche und städtische Landschaften, Ballungsräume und kleine Dörfer sowie unterschiedliche nationale und regionale Rechtsrahmen. Migration und Vielfalt sind Querschnittsthemen, die in viele Politikbereiche hineinwirken. Umso wichtiger ist es, dass sich die alpenweiten Gremien wie die Alpenkonvention oder die europäische Strategie für den Alpenraum den Themen Migration und kulturelle Vielfalt stärker annehmen.

Geburtenrückgang, Abwanderung, Überalterung fehlende Arbeitskräfte und brachliegende Kulturlandschaften: Viele Regionen in den Alpen sind auf Zuwanderung angewiesen. Trotzdem hat das Thema in der Alpenpolitik nur wenig Aufmerksamkeit und wird vor allem national verhandelt. Lokale Gemeinschaften in den Alpen sind da oft schon ein Schritt weiter, und gestalten ihre Zukunft mit Herz und Hand - gemeinsam mit Zugewanderten. Nun muss die Alpenpolitik nachziehen.

 

Ingrid Machold, Forscherin an der Bundesanstalt für Agrarökonomie, Land- und Bergforschung in Wien/A


Quelle und weitere Informationen: www.cipra.org/szenealpen