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Placebo oder Allheilmittel?

13.07.2012 / CIPRA Internationale Alpenschutzkommission
«Governance» ist in aller Munde. Territorial, local, urban, european, global, neuerdings auch ­climate Governance – partizipative Entscheidungsprozesse sollen die Welt besser machen. ­Was steht hinter diesem Begriff und welche Chancen und Tücken erwarten einen, wenn man sich auf den Prozess einlässt?
Placebo oder Allheilmittel?
Bild Legende:
Tüfteln an gemeinsamen Lösungen: In einer Bürgerwerkstatt in Vorarlberg/A arbeiten Betroffene an Strategien, wie der Verkehr auf einer örtlichen Landstrasse reduziert werden kann. © Frank Schultze / Zeitenspiegel
Seinen Einzug in die Politik und Verwaltung hielt das Thema Governance spätestens Anfang der 1990er Jahre durch die Weltbank, die «Good Governance» als Voraussetzung für eine positive ökonomische Entwicklung proklamierte. Sie geht davon aus, dass wirtschaftlicher Aufschwung ein Mindestmass an rechtsstaatlichen und demokratischen Institutionen braucht.
Das Governance-Konzept wurde von der Europäischen Union im Jahr 2001 im Rahmen eines Weissbuchs mit dem Titel «European Governance» der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgelegt. Ein Beweggrund war der Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in die politischen Institutionen und Parteien insbesondere auf europäischer Ebene. Vor dem Hintergrund der damals bevorstehenden EU-Osterweiterung sollte das Konzept einer «Good Governance» als Katalysator für die Reform der EU-Institutionen wirken.

Jedem seine Governance
Es gibt bislang keine allgemein gültige Definition für Governance (siehe Kasten). Der Begriff ist unscharf, was in erster Linie mit der Komplexität der Zusammenhänge und mit den unterschiedlichen Blickwinkeln zu tun hat, aus denen das Thema betrachtet wird. Auch die Praxisanwendung ist vielfältig.
Unter «Good Governance» im Sinne des EU-Weissbuchs versteht man ein Regierungs- und Verwaltungshandeln, das auf Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz beruht (siehe Kasten links). Alle Handlungen befinden sich in einem ständigen gegenseitigen Rückkoppelungsprozess mit der Politik, der Verwaltung, der Zivilgesellschaft und den Betroffenen.

Manche machen’s vor
In den letzten 15 Jahren wurden politische Steuerungsprozesse mehr und mehr von Ideen und Grundsätzen des Governance-Konzepts beeinflusst. Beispielsweise entwickeln immer mehr Gemeinden und Regionen sektorale oder räumliche Entwicklungskonzepte im Rahmen kooperativer Prozesse unter Einbindung der verschiedenen Interessengruppen, so auch die «Energiezukunft Vorarlberg» (siehe Seite 9), Flussverträge und Wasseragenturen in Frankreich (siehe Seiten 10 und 19) oder das Österreichische Raumentwicklungskonzept 2011.
Auch umstrittene Infrastruktur- und andere Vorhaben kommen heute kaum mehr ohne Konfliktaushandlungs- bzw. Mediationsverfahren aus. Beispiele dafür sind die Mediation Schutzwald Hinterstein in Deutschland oder das Hochwasserschutzprojekt Samedan in der Schweiz, das auch im 3. Alpenreport der CIPRA beschrieben ist. Vorzeigeprojekte für das Miteinander von Natur und Mensch bei der Konzeption von Schutzgebieten sind der Schweizer Park Ela (siehe Seite 11), das italienische Parknetz im Trentino und der slowenische Park Logarska dolina (beide siehe Seite 8). Nicht zuletzt kann auch die aktuelle Idee einer makroregionalen Strategie für den Alpenraum als Versuch gesehen werden, das Zusammenwirken der verschiedenen Alpen-Akteure im Sinne einer Good Governance zu verbessern.
Governance beginnt zunächst bei uns selbst. Es geht um unsere Bereitschaft, uns auf Kooperationen – und damit auch auf Kompromisse – einzulassen. Dabei stellt sich rasch die Frage nach der eigenen Haltung und der Fähigkeit, Vertrauen in andere zu entwickeln und das Vertrauen anderer zu gewinnen. Ich kooperiere dann mit anderen, wenn ich dadurch meine eigenen Ziele besser erreichen kann. Voraussetzung ist, dass ich meine Ziele überhaupt kenne und gegenüber anderen benennen kann.

Ein steiniger Weg
Dem Governance-Konzept zu folgen, heisst also mitmachen und kooperieren. Besteht dabei nicht die Gefahr, von der sanften Umarmung der Mächtigeren erdrückt und in Aushandlungsprozessen über den Runden Tisch gezogen zu werden? Gerade für NGOs und andere zivilgesellschaftliche Organisationen, die Beteiligung seit jeher vehement einfordern, stellt die Einbindung in kooperative Verfahren eine grosse Herausforderung dar, weil hier mit Protesthaltungen nichts zu gewinnen ist; es gibt Spielregeln, die man ­befolgen muss. Soll zum Beispiel der Verlauf einer Strasse in einem partizipativen Verfahren bestimmt werden, so ist für die Position, dass es auch ganz ohne neue Strasse geht, oft kein Platz.
Aus diesen Spielregeln ergibt sich nicht selten die Konsequenz, dass tatsächliche Streitfragen als scheinbar neutrale Sachfragen verhandelt werden, für welche es folglich ein klares «Richtig» oder «Falsch» geben müsse. Kritiker weisen darauf hin, dass dadurch der politische Gehalt einer Streitfrage geleugnet werde – und damit auch weiterhin bestehende Asymmetrien im Machtgefüge. «Weiche» Argumente des Umweltschutzes, zum Beispiel von Bürgerinitiativen, NGOs und ähnlichen Gruppierungen, haben gegenüber «harten» wirtschaftlichen Argumenten, die einen drohenden Arbeitsplatzverlust mit konkreten Zahlen untermauern, einen schweren Stand. Deshalb fahren solche Gruppierungen oft zweigleisig: Sie beteiligen sich einerseits aktiv im Rahmen organisierter Prozesse, verzichten jedoch nicht auf die Mobilisierung der Strasse, wenn ihnen dieses Mittel zweckmässig erscheint.
Damit die Bürgergesellschaft im Alpenraum vermehrt in Entscheidungsprozesse eingebunden werden kann, müssen die Beteiligten erst erkennen, dass dieses Engagement Ressourcen freisetzt und gewinnbringend für alle ist. Die Verantwortlichen müssen weiters befähigt werden, diese Prozesse zu steuern. Nicht zuletzt braucht es für die professionelle Begleitung Strukturen und Organisationen – und damit ausreichend personelle, finanzielle und geistige Ressourcen.



Die fünf Grundsätze von «Good Governance»
Offenheit: Freier Zugang zu Informationen über Umwelt­fragen, die Beteiligung an Verwaltungsverfahren zu Projekten mit Umweltauswirkungen und die Möglichkeit, Klage gegen Umweltbeeinträchtigungen zu führen sowie Transparenz des Verwaltungshandelns und Nachvollziehbarkeit von ­Entscheidungen.
Partizipation: Faire Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie NGOs, Bürgerinitiativen und betroffenen Personen in die Konzeptionen und Umsetzung von Plänen, Programmen und Projekten.
Verantwortlichkeit: Klare Verteilung der Rollen und Aufgaben bei der Gesetzgebung und bei der Vollziehung.
Effektivität: Delegieren der Verantwortlichkeit und Entscheidungskompetenz an die Betroffenen oder die nächstgelegene räumliche oder sachliche Ebene.
Kohärenz: Abstimmen von Handlungen von Verwaltung und Politik zwischen den verschiedenen Organen und hierarchischen Ebenen.

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Ineinander greifende Prozesse
Governance wird heute oft als Gegenbegriff zu Government verstanden. Government steht dabei–plakativ vereinfacht–für einen alten, verkrusteten und ineffektiven Verwaltungsstaat, in welchem Entscheidungen starr von oben nach unten und daher oft praxis- und bürgerfern gefällt werden. Dagegen sieht sich Governance als eine Tendenz hin zu einem schlanken, effektiven und vor allem demokratischeren Staat, in dem informelle und flexible Prozesse eine grosse Bedeutung haben. Governance sieht ein grosses Ausmass an Selbststeuerung vor, ist betont dezentral und forciert den Gedanken der ­(regionalen) Kooperation durch Konsensfindung.
Tatsächlich weist Governance auf einen generellen Wandel des Verwaltungs- und Regierungsverständnisses hin: Auch staatliche Institutionen begreifen sich zunehmend als Akteure in einem Netzwerk von Akteuren. Staatliche Aktivitäten verlagern sich vermehrt auf das Moderieren und das Managen zivilgesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Dabei wird davon ausgegangen, dass SprecherInnen aller relevanten gesellschaftlichen Interessensgruppen am Prozess beteiligt sind oder sich hätten beteiligen können. Aus einem solchen Staatsverständnis lassen sich ebenso die gegenwärtige Zunahme von öffentlich-rechtlichen Kooperationen oder die Auslagerung von Behörden in meist privatrechtlich organisierte Agenturen erklären.

aus: Szene Alpen Nr. 96 (www.cipra.org/de/alpmedia/publikationen/4960)