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Vernetzt! Ökologisches Kontinuum und Econnect

08.07.2010 / Tilman Wörtz
Die CIPRA versteht sich als Netzwerkerin. Auch im Naturschutz. Sie bringt Beamte, Behörden und WissenschaftlerInnen über Landesgrenzen hinweg zusammen, so zum Beispiel in der Region Berchtesgaden-Salzburg. Denn Tiere und Pflanzen machen ebenfalls nicht an Schlagbäumen halt.
Michael Vogel
Bild Legende:
Der Nationalparkdirektor von Berchtes­gaden, Michael Vogel, arbeitet an der alpinen Vernetzung von Tieren, Pflanzen und Menschen.
«Wer zwei Bauern an einen Tisch bringen will, muss erst einen von ihnen erschlagen», zitiert Josef Hohenwarter eine Volksweise seiner Heimat Weissbach im Salzburger Land und rückt eine Vase mit Schlüsselblumen in die Mitte des Tischs, als sei das Sträusschen der tote Bauer. Als Bäckermeister hat der 42-Jährige die nötige ironische Distanz, um den derben Satz lustig zu finden, als Bürgermeister von Weissbach weiss er um seinen wahren Kern – ganz besonders, wenn die beiden Bauern über Naturschutz reden sollen!
Auch sein Gegenüber lacht über den Spruch: Michael Vogel, Direktor des Nationalparks Berchtesgaden. Die beiden haben sich im Gasthof Hirschbichl direkt an der deutsch-österreichischen Grenze verabredet, eine rustikale Stube mit karrierten Tischtüchern und Gemsgeweihen an der Wand. Ein Sandstein­obelisk am Wegrand vor dem Eingang des Gasthofs markiert die Grenze zwischen zwei Staaten und gleichzeitig die zwischen einem Nationalpark, in dem die Natur sich strikt selbst überlassen bleibt, und den Almen der Bauern von Weissbach.
Josef Hohenwarter und Michael Vogel haben ehrgeizige Pläne: Ihre beiden Gebiete liegen im Herzen der zweitausend Quadratkilometer grossen Pilotregion «Berchtesgaden-Salzburg», in der ein radikales Umdenken im alpinen Naturschutz ausprobiert werden soll. Das Experiment heisst «Econnect» und wird von der EU in sieben Pilotregionen gefördert (siehe Kasten Seite 7). Econnect soll testen, wie sich ein «kohärentes ökologisches Kontinuum» in den Alpen herstellen liesse.
Der Grundgedanke: Es reicht nicht, einzelne Gebiete unter Schutz zu stellen; vielmehr müssen Tiere und auch Pflanzen zwischen den Schutzgebieten wandern können – über Grenzen und künstlich vom Menschen errichtete Barrieren wie Strassen, Felder und Siedlungen hinweg. Sonst bleiben die Schutzgebiete Inseln, die das Überleben der Arten nicht gewährleisten können. Die Biodiversität sinkt und damit die Stabilität des gesamten Öko-Systems.
Oft schon haben Michael Vogel und Josef Hohenwarter über Projekten gebrütet. Das erste: Die Linie des Almerlebnis-Busses, der Besucher durch den Nationalpark bis ins Salzburger Land bringt und auch am Gasthof Hirschbichl Halt macht. Das zweite: Eine Almkäserei mit einer kleinen Ausstellung. Der Kontakt zwischen den Menschen über die Grenze hinweg funktioniert. Nun müssen die Tiere folgen: «Wir wissen viel zu wenig über die Wanderungen von Amphibien, Reptilien und Insekten über die grüne Grenze hinweg», sagt Michael Vogel. «Wo sind Barrieren? Wo können wir ökologische Korridore wieder herstellen?»
Besucher im Nationalpark Berchtesgaden wundern sich, warum in den letzten Jahren so wenige Schmetterlinge zu sehen waren. Und Biologen, die auf deutscher Seite zwar Jahrzehnte alten Kot der Hufeisennasen-Fledermäuse gefunden haben, suchen vergeblich eine aktuelle Population. «Warum kommen die Hufeisennasen nicht mehr vom Salzburger-Land rübergeflogen?» fragt Michael Vogel.
Fledermäuse orientieren sich auf dem Flug vom Übernachtungsquartier ins Jagdrevier am Bewuchs entlang von Bächen und Flüssen. Sie stossen Ultraschall-Wellen aus, die von Bäumen und Sträuchern reflektiert werden. Haben Landwirte Gehölze am Flussufer entfernt, um ihre Ackerflächen auszudehnen, verlieren Fledermäuse die Peilung. Sie müssen Flug- und Jagd­radius einschränken. Im Extremfall kann die Verbindung zwischen zwei Fledermaus-Populationen abbrechen und jede für sich bleibt dem Inzest, letztlich dem Untergang überlassen. Da nützt es dann nichts, wenn Übernachtungsquartier und Jagdrevier in zwei Naturschutzgebieten liegen.
Amphibien brauchen Tümpel und Seen zum Laichen im Sommer und Unterholz für den Winterschlaf. Beide Biotope dürfen nicht zu weit auseinander liegen und sollten nicht durch viel befahrene Strassen getrennt sein. Igel und Neuntöter lieben Hecken und das Gebüsch am Waldrand. Wandern sie, tragen sie in ihren Stacheln und Federn Pollen und ermöglichen so auch Pflanzen die Ausbreitung. Die Natur braucht Brücken und Korridore.
Die Pilotregion Berchtesgaden-Salzburg ist zehn Mal grösser als der Nationalpark, für den Michael Vogel zuständig ist. Er muss die Gemeinden für die Kooperation begeistern, Landbesitzer, Landesämter für Umweltschutz auf deutscher und österreichischer Seite, Forstverwaltung, Umweltverbände, Bevölkerung. Und die Bauern von Weissbach. Ohne deren Zustimmung dürfen die Biologen zum Beispiel nicht über die Almen streifen und Schmetterlinge zählen. Gerade aber in Weissbach suchen Biologen nach Antworten auf die Frage, wie gut die ökologisch so wertvollen Wiesenflächen in der Grenzregion zusammenhängen oder wo zu stark gedüngte Wiesen eine Barriere darstellen: Viele Pflanzenarten gedeihen auf dem gedüngten Boden nicht, also bleiben auch die Schmetterlinge fern.
Wer Josef Hohenwarter fragt, warum denn die Erlaubnis für die Schmetterlings-Zählung ein Problem sein soll, der bekommt ein amüsiertes Lächeln geschenkt. Vor sechs Jahren hatten Biologen den ersten Versuch gemacht. Doch die Bauern von Weiss-bach schimpften: «Wir lassen uns von diesen Öko-Spinnern doch nicht in einen Zoo verwandeln!». Von drohender Enteignung war die Rede. Für einen zweiten Versuch ab Juni erteilten sie die Erlaubnis problemlos.
Was war geschehen? In zwei Dutzend Versammlungen hat Josef Hohenwarter «seine» Bauern davon überzeugt, dass sie ihre Almen durch die gesetzliche Anerkennung «Naturpark Weissbach» veredeln sollten und so bessere Preise für ihre Milch bekommen würden. Um als Naturpark anerkannt zu werden, dürfen die Bauern ihre Wiesen nur noch ein Mal im Jahr mähen, müssen auf Kunstdünger verzichten und Tümpel vor Rinderhufen schützen. 2007 wurde Weissbach als Naturpark anerkannt. Die Bauern verkaufen seither die Milch für 85 Cent den Liter – drei Mal so viel wie die Konkurrenz im Tal.
Josef Hohenwarter grinst stolz über seinen Kaffee im Gasthof Hirschbichl hinweg: «Heute gibt´s Wartelisten für die Bauern, die in den Naturpark aufgenommen werden wollen. Wir haben ihre Unterstützung gewonnen.» Und damit die Basis für neue Projekte. Barrierefrei soll das Land werden. Dazu dienen etwa Fischtreppen an Stauwehren, Unterführungen für Amphibien unter einer viel befahrenen Strasse hindurch oder die Überführung von Wild über Grünbrücken.
Es ist elf Uhr morgens. Michael Vogel muss los, steigt in seinen VW-Bus und fährt ein steiles Strässchen durch Fichtenwälder hinab, in denen umgestürzte Stämme vor sich hinmodern. Nebel verhängt den Gipfel des Watzmann, der sich hinter dem Königs-see erhebt. Am Aschauerweiher wartet bereits ein Dutzend jägergrün gekleideter Ranger. Sie führen Besuchergruppen durch den Nationalpark. Im Rahmen von Econnect sollen sie lernen, wie sie auf ihren Wanderungen Daten über das Vorkommen von Amphibien und Reptilien sammeln können. Ein Biologe vom «Artenhilfsprogramm Kreuzotter» weist die Ranger in die Lebensgewohnheiten von Schlangen, Schmetterlingen und Salamandern ein, versteckt laminierte Fotos entlang eines Bachs und lässt die Gruppe suchen. «Die Gelbbauchunke liebt Schilf», verrät er, «der Apollofalter die Blüten der weissen Fetthenne». Die Ranger schwärmen aus und suchen die Fotos. Wie später im Gelände sollen sie Funde in das Formular «Unbekannte Vielfalt im Nationalpark Berchtesgaden» eintragen, samt Koordinaten und einer genauen Beschreibung des Fundortes.
Am späten Nachmittag kehrt Michael Vogel nach Berchtes­gaden zurück und kurvt durch die engen Strassen bis zum Verwaltungsgebäude des Nationalparks, einem hellen Bau mit herrlichem Blick über die Dächer der Berchtesgadener Häuser bis hinüber zu den Hängen des Nationalparks. Ein Steinadler-Skelett thront auf Michael Vogels Schreibtisch. Zwei Mitarbeiterinnen des Nationalparks, die mit dem Projekt Econnect betraut sind, treten ein und berichten von einer Konferenz, wo sich Vertreter aus den sieben Pilotregionen von Econnect ausgetauscht haben. Das einhellige Feedback: Das Schwierigste am Projekt sei die Verknüpfung der lokalen Partner. Michael Vogel überrascht die Rückmeldung nicht. «Wir brauchen die alpine Ebene, um so ein Projekt überhaupt konzipiert und finanziert zu bekommen», sagt er, «und müssen es dann vor Ort mit den Partner umsetzen.»
Die Grundlagen für die politische und finanzielle Unterstützung von Econnect sollen über die Alpenkonvention gewährleistet werden. Auf der Plattform «Ökologischer Verbund» verständigen sich Naturschutzbehörden aller Alpenländer, dazu Organisationen wie die CIPRA. «Wir haben früher nur unseren Nationalpark gesehen. Die CIPRA hat uns bewusst gemacht, welche Vorteile die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im ganzen Alpenraum bietet», sagt Michael Vogel. «Wir schätzen vor allem deren Anregungen von Best-Practice-Beispielen aus anderen Pilotregionen sowie wissenschaftliche Daten und Methoden.»
Econnect greift bereits jetzt über die Pilotregionen hinaus: Michael Vogel trifft regelmässig Naturschützer aus den nahen Chiemgau-Alpen und dem Tauern Gebirge. Vogel bereitet eine Reise nach Südkorea vor. Die dortige Umweltbehörde ist fasziniert von der Vorstellung, dass es nicht so sehr auf den Schutz einzelner Reservate ankommt, sondern auf verbindende Wiesen, Büsche, Flussauen, Tümpel, Dachstühle. «Dieser Gedanke ist den Koreanern neu.»

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Vernetzt und verbunden
Seit 2002 setzt sich die CIPRA zusammen mit dem WWF-Alpenprogramm, dem Netzwerk Alpiner Schutzgebiete alparc und dem Internationalen Wissenschaftlichen Komitee Alpenforschung ISCAR für die Vernetzung von Lebensräumen ein. Durch die «Initiative Ökologisches Kontinuum» sollen Lebensräume aufgewertet, der Austausch zwischen ihnen erleichtert werden. Dazu regen die vier Partner Aktivitäten an, unterstützen und vernetzen diese. Die Initiative wurde 2009 von der schweizerischen MAVA Stiftung für Natur mit 384‘000 Franken (269‘000 Euro) finanziert. Econnect setzt die Ideen der Initiative Ökologisches Kontinuum in Projekte um, alpenweit in sieben Pilotregionen. Econnect wird von der EU von September 2008 bis August 2011 co-finanziert mit 4,86 Mio. Franken (3,2 Mio. Euro). Die Plattform «Ökologischer Verbund» der Alpenkonvention vernetzt politische Stellen, die für das ökologische Kontinuum relevant sind, u.a. die CIPRA.
www.alpine-ecological-network.org (en)
www.econnectproject.eu
Quelle: Jahresbericht 2009 CIPRA International www.cipra.org/de/CIPRA/cipra-international
abgelegt unter: Nationalparks, Schutzgebiete