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Im Gespräch mit Martine Rebetez - "Was noch nie passiert ist, glaubt man nicht"

04.11.2009 / Serena Rauzi
Die schlimmsten Klimaprognosen bewahrheiten sich, stellt die Schweizer Klimaexpertin Martine Rebetez fest. Die Professorin der Universität Neuenburg vermisst einen klaren politischen Willen. Doch sie verzweifelt an ihrer Aufgabe als Mahnerin nicht: Jedes Zehntel Grad, das vermieden werde, sei gut für das Leben auf diesem Planeten.
Martine Rebetez
Bild Legende:
Martine Rebetez - Eine Expertin für das Klima der Zukunft © CIPRA International
Frau Rebetez, die mittlere Jahrestemperatur hat in den Alpen in den letzten 130 Jahren um zwei Grad zugenommen. Wie sehen die Alpen um 2050 aus?
In den Alpen werden die Temperaturen noch etwas steigen. Das wird sich zum Beispiel auf die Schneehöhe, aber besonders auf die Gletscher auswirken. Die Gletscher schwinden mit einer bisher nicht gekannten Geschwindigkeit. Und das ist es vor allem, was sich in der alpinen Landschaft bis 2050 verändern wird. Die Gletscher könnten noch 75 Prozent ihrer aktuellen Fläche verlieren. Diese Prognose ist durchaus im Rahmen des Möglichen. Die Landschaft wird sich also dramatisch verändern. Auch in der Vegetation wird es Veränderungen geben. Sichtbar wird dies vor allem nach extremen Ereignissen, wie zum Beispiel dem Sommer 2003, als in bestimmten Alpenregionen ein starker Borkenkäferbefall an Fichten zu beobachten war. Wenn es plötzlich einen extrem heissen Sommer gibt, kommt es in bestimmten Höhenlagen zu einem starken Fichtensterben. Dort, wo es reine Fichtenwälder gibt, verändert sich die Landschaft auf einen Schlag, weil in einem ganzen Höhenabschnitt die Vegetation komplett verschwindet. Diese wird anschliessend durch Laubwälder ersetzt. Aber in den Bergen dauert es einige Zeit, bevor eine neue Vegetation Baumhöhe erreicht.

Klimaprognosen sind extrem fehleranfällig. Wie wollen Sie sicher sein, dass Ihre Vorhersagen stimmen?
Das war vor zehn Jahren der Fall, aber die Qualität der Klimamodelle hat sich enorm verbessert, vor allem weil die Leistungsfähigkeit der Computer stark erhöht wurde. Und so haben wir heute eine Vorhersagequalität, die weitaus besser als vor zehn Jahren und sogar besser als vor fünf Jahren ist. Wenn man sich aber die allgemeinen Vorhersagen von vor zehn Jahren anschaut, stellt man gleichzeitig fest, dass sie dieselben geblieben sind oder sich sogar verschlechtert haben. Heute wird immer deutlicher, dass sich die schlimmsten Prognosen von damals bewahrheiten könnten.

Man sagt, der Vegetationsgürtel werde sich um 400 bis 700 Meter nach oben verschieben. Was bedeutet das für die Alpenbewohner-Innen?
Es bedeutet, dass sich die Landschaft verändern wird, und zwar die natürliche Landschaft und folglich die spontane Vegetation. Für die Kulturpflanzen kann das von Vorteil sein, denn die AlpenbewohnerInnen hatten schon immer mit einem zu kalten Klima und einem zu kurzen Sommer zu kämpfen. Jetzt verlängert sich die Anbau- und Erntezeit und die Temperaturen steigen. Eine negative Folge können allerdings häufigere Trockenperioden sein. Und wenn das Wasser der Gletscher für die Bewässerung fehlt, kann es zu Problemen kommen. Eine weitere negative Folge können Schädlinge sein, die ebenfalls die Wärme lieben und plötzlich Pflanzen befallen in Gebieten, in denen sie früher nicht hätten überleben können.

Durch das Projekt cc.alps haben wir sehen können, dass schon viel gemacht wird, um den Klimawandel in den Alpen abzubremsen oder aufzufangen. Reichen die Massnahmen aus, damit unsere Nachkommen in 100 Jahren einen gleichwertigen Lebensraum haben wie wir heute?
Was die Anpassung betrifft, wird in den Alpen häufig zu spät gehandelt. Denn erst wenn eine Katastrophe eintritt, passt man sich an. Aber wir sprechen hier von Ländern, die reich und kompetent genug sind, um Lösungen für die Anpassung an den Klimawandel zu finden. Das wird viel Geld kosten, aber man wird es gezwungenermassen tun. Wenig getan wird dagegen bei der Verringerung der Treibhausgasemissionen. Und das gilt für alle Länder in Europa, die zwar Massnahmen ergreifen, aber leider auch oft von der Möglichkeit Gebrauch machen, Vereinbarungen mit Entwicklungsländern abzuschliessen und die Bemühungen zur Reduzierung der Treibhausgase auf diese abzuwälzen. Die Treibhausgase müssen aber in den entwickelten Ländern, in Europa und in den Alpen verringert werden, weil die Pro-Kopf-Menge hier zu hoch ist. Was immer man in den Entwicklungsländern tut, die Emissionen müssen hier reduziert werden.

Wieso wird nicht mehr getan, um die Emissionen hier zu reduzieren?
Jede Veränderung setzt einen politischen Willen voraus. Viele Menschen haben Angst vor Veränderung. Aus wirtschaftlicher Sicht kann es Verlierer geben, auch wenn die Gemeinschaft insgesamt von diesen Massnahmen profitiert. Die Interessen derjenigen, die kurzfristig etwas verlieren, verhindern jedoch häufig die Veränderung.

Nicht alle Massnahmen sind nachhaltig, sei es umweltfreundlich oder aus sozialer oder wirtschaftlicher Sicht erträglich. Warum wird dem nicht mehr acht gegeben?
Das ist nicht einfach. Wir haben es hier mit einem Bereich zu tun, der immer komplexe Konsequenzen in einer Vielzahl von Bereichen nach sich zieht. Wir brauchen deshalb Projekte wie cc.alps, die alle diese Konsequenzen analysieren, damit man sie berücksichtigen kann.

Wie aus cc.alps hervorgeht, wird zwar einiges für die Verminderung, aber sehr wenig für die Anpassung an den Klimawandel getan. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich glaube, dass man Massnahmen tatsächlich erst dann ergreift, wenn ihre Notwendigkeit nachgewiesen ist. Es ist sehr schwierig, Mittel zu erhalten, um etwas gegen eine Katastrophe zu tun, die bisher noch nie eingetreten ist. Man glaubt Ihnen einfach nicht. Die Menschen leben seit Jahrhunderten hier, und etwas, was noch nie passiert ist, glaubt man nicht; man hält es nicht für möglich. Wenn die Katastrophe aber da ist, dann erst bekommt man die erforderlichen Mittel.

Klimaveränderung bringt nicht nur Risiken, sondern auch Chancen wie mehr Sommertourismus, kürzere Heizperioden usw. Müssen wir nicht einfach lernen, damit zu leben und das Beste daraus zu machen?
Bis zu einem gewissen Punkt ja. Aber es gilt das Prinzip, dass man sich an einen Temperaturanstieg von bis zu zwei Grad ohne allzu problematische Konsequenzen anpassen kann. Darüber hinaus wären die Anpassungskosten extrem hoch - und zwar die Kosten im allgemeinen Sinne, d.h. nicht nur finanziell, sondern auch für die Menschen und die Entwicklung unserer Gesellschaften.

Wie effizient ist die aktuelle Klimapolitik der Schweiz, Ihrem Heimatland?
Das hängt davon ab, ob man das Glas halb voll oder halb leer sieht. Es gibt eine bestimmte Politik, die wirksamer wäre, wenn man darauf verzichten würde, nämlich einen Teil unserer Treibhausgasreduktion auf die Entwicklungsländer zu übertragen. Letztlich ist die vorgesehene Verminderung sehr gering. Immerhin hat man die Treibhausgasemissionen stabilisiert und das ist angesichts der wachsenden Bevölkerung bereits ein positiver Schritt. Aber es gelingt nicht, die Emissionen effektiv zu verringern.

Nach dem G8 in L'Aquila haben wir einmal mehr gesehen, dass sich die Staaten nicht einig sind in Sachen Klimapolitik. Jetzt steht der Klimagipfel in Kopenhagen vor der Tür. Welche konkreten Massnahmen müssen auf globaler Ebene unbedingt ergriffen werden, um die Erderwärmung zu bremsen?
Die Treibhausgasemissionen in den entwickelten Ländern müssen bis 2020 unbedingt um 20 bis 30 Prozent verringert werden. Das ist das, was wir Wissenschaftler fordern.

Wo sollen die Emissionen eingespart werden?
Am einfachsten ist das beim Bauen möglich. Bei der Heizung bzw. bei der Wärmedämmung von Gebäuden können Massnahmen schnell, einfach und kostengünstig durchgeführt werden. Ein zweiter Bereich, in dem es ebenfalls relativ einfach ist und den man oft vergisst, ist der Konsumbereich und insbesondere der Konsum von Lebensmitteln. Denn der Verzehr von frischen, lokal erzeugten Produkten ohne langen Transportweg und von saisonalen Produkten, die nicht im Gewächshaus angebaut werden, hat enormen Einfluss auf die Treibhausgase. In der Schweiz gibt es eine Aktion - ich weiss nicht, ob sie international ist - mit dem Namen "Ras la fraise" oder "Solche Erdbeeren sind wir satt". Sie setzt sich für den Verzehr von saisonalen und lokalen Produkten ein. Das ist also der zweite Bereich, in dem man relativ einfach etwas tun kann. Vermutlich haben die Alpenländer keine ausreichend grosse Landwirtschaft, um die gesamte Bevölkerung zu ernähren. Aber man könnte die Dinge verbessern, indem man das, was fehlt, aus möglichst nahe gelegenen Ländern importiert. Der dritte Bereich ist die Raumplanung. Hier ist es schwieriger, Massnahmen zu ergreifen, weil sie mehr Zeit erfordern. Wenn es um Mobilität und Verkehr geht, bieten sich Lösungen im öffentlichen Verkehr usw. Aber gerade in der Raumplanung ist die Wirksamkeit häufig begrenzt und um etwas zu ändern, braucht es viel Zeit.

Was ist das Absurdeste zum Thema Klimawandel, das sie seitens der Politik bis jetzt gehört haben?
Da gibt es vieles… Es ist schade, dass die Politik die Probleme des Klimawandels oft abstreitet, um nicht handeln zu müssen. Wenn Sie ein Produkt verkaufen, das nicht mehr verkauft werden sollte und von dem Sie aber leben, dann ist klar, dass Sie alle Argumente finden, um es so lange wie möglich auf dem Markt zu halten. So hört man allerlei Argumente, auch die absurdesten.

Gibt es noch Leute, die behaupten, der Klimawandel sei eine Erfindung der Öko-Fundis?
Das hört man so nicht mehr, denn immerhin hat man den Beweis erbracht, dass es den Klimawandel gibt. Aber dieselben Personen, die früher den Anstieg der Temperaturen bestritten haben, sind nun zu Phase 2 übergegangen und behaupten, dass dieser Anstieg nicht vom Menschen verursacht wird. Sie sagen, er habe natürliche Ursachen, er werde durch die Sonne verursacht und solche Dinge. Das ist die Phase 2 und darauf folgt die Phase 3, wo die Leute sagen: Sicher erwärmt sich die Erde und sicher ist der Mensch daran schuld, aber es ist besser, nichts tu tun, weil es weniger kostet.

Verzweifeln Sie manchmal an Ihrer Aufgabe angesichts der Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln?
Obwohl ich weiterhin alles mir Mögliche tun werde, habe ich als Wissenschaftlerin doch zunehmende Zweifel, ob es gelingen wird, den Temperaturanstieg unter der anvisierten Zwei-Grad-Schwelle zu halten. Das bedeutet aber nicht, dass ich das Handeln oder den Handlungsbedarf in Frage stelle, denn jede Aktion trägt dazu bei, dass die Temperaturen etwas weniger ansteigen - mehr, als wenn wir nichts tun. Und jedes Zehntel Grad Erwärmung, das wir vermeiden können, ist gut für unser Leben auf diesem Planeten.


Eine Expertin für das Klima der Zukunft

Martine Rebetez ist Professorin an der Universität Neuenburg/CH und leitende Wissenschaftlerin an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Die Bergliebhaberin ist eine international anerkannte Fachfrau für die Bereiche Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Wälder.
Mehrere Institutionen berufen sich auf ihre Kompetenz. Unter anderen ist Rebetez Gutachterin für den Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC und für den Bericht "Klimaänderung und die Schweiz 2050", den das Beratende Organ für Fragen der Klimaänderung OcCC und das Forum für Climate und Global Change der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften ProClim vor kurzem herausgegeben haben. Für die CIPRA wirkt Rebetez als Expertin im internationalen cc.alps-Expert-Innenteam.
abgelegt unter: Klimawandel, Klimapolitik