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Alpenstadt - Alpenland: Aufbruch zu neuen Ufern!?

06.12.2005 / Wolfgang Pfefferkorn
In unseren Köpfen dominieren nach wie vor Bilder von den Alpen als ländliche Idylle, obwohl die Fakten mittlerweile bekannt sind: über 60% der EinwohnerInnen und der Arbeitsplätze in den Alpen liegen in Ballungsräumen der Täler und Becken, nur ein geringer Teil der Bevölkerung lebt über einer Seehöhe von 1.000 m. Auch das räumliche Gefüge der Alpen ist in Bewegung: die Gunstlagen erleben einen Einwohnerzuwachs und die Neuansiedelung von Betrieben; die Ballungsgebiete sind also mehr und mehr mit sozioökonomischen Problemen konfrontiert, während periphere Gebiete in eine Negativspirale aus Abwanderung, sinkendem Arbeitsplatz- und Serviceangebot schlittern.
Die Beziehungen zwischen Stadt und Land haben sich in diesem Zusammenhang gründlich geändert. So wie sich die räumlichen Grenzen mehr und mehr auflösen, verschwimmen auch die Begriffe: wo endet die Stadt, wo beginnt das Land? - und ausserdem, ländlicher Raum ist nicht gleich ländlicher Raum: es gibt dynamische Stadtumlandgebiete, erfolgreiche Tourismusregionen, daneben Schlaforte im Nahbereich der Städte und abgelegene Seitentäler, in denen eine massive Abwanderung stattfindet. Was also ist Stadt, was ist Land? Althergebrachte Denkmuster und Schemata sind nicht mehr geeignet, die komplexe Wirklichkeit und vor allem die rasante räumliche Veränderungsdynamik im Alpenraum - und auch ausserhalb - zu fassen.

Offene (Denk)-Räume
Diese Dynamik kann dazu führen, den Raum neu zu denken. Giovanni Bettini (Legambiente Valtellina) plädierte dafür, dass Stadt und Land gemeinsam neue "Milieus" schaffen: Orte, die mehr sind als nur ein Raum; Orte, die in der Lage sind, Emotionen und neue Identitäten zu erzeugen. Veränderungen sind dabei als Dauerzustand nicht nur anzunehmen sondern zu nutzen! Dafür braucht es aber mehr Dialogfähigkeit, offene (Denk)-Räume, neue Formen der Kooperation und Repräsentanz.
Ein Beispiel für diesen neuen Umgang mit Stadt und Land zeigte Sybille Zech (Büro stadland) anhand der "Vision Rheintal": In einem breit angelegten Kommunikations- und Planungsprozess versuchen die Beteiligten, Zukunftsbilder für diesen urbanen und in den Köpfen der BewohnerInnen zugleich ländlichen Raum zu entwerfen.
Joelle Salomon (Geographin und Stadtforschern) sieht die Möglichkeit, dass die Städte durch eine offensive und aktive Haltung in den nächsten Jahren die Motoren der nachhaltigen Entwicklung in den Alpen werden könnten. Giorgio Oliveti (Direktor Cittaslow - Internationale Vereinigung "città del buon vivere") hingegen plädiert für mehr Langsamkeit und für eine Neudefinition dieses Begriffs: Langsamkeit als positive Eigenschaft, als Alternative zum gehetzten und homogenisierten Mainstream, Langsamkeit als Zeichen für Bedächtigkeit und wohlüberlegtes Handeln im Hinblick auf die Zukunft - und auch als Antwort auf die Bedrohungen der Globalisierung.

Vernetzungen trotz Hindernissen
Andreas Weissen (Jurymitglied der Interessensgemeinschaft "Alpenstadt des Jahres") zeichnete die Geschichte des Netzwerks der Alpenstädte nach: was vor fast 10 Jahren in Villach begann, hat mittlerweile breitere Kreise gezogen: Alpenstädte, die auf Qualität der räumlichen Entwicklung und auf enge Kooperationen mit ihrem Umland setzen, z.B. beim Nahverkehr, bei der Naherholung und bei der Energieversorgung. Allerdings sind die Städte derzeit in der Alpenkonvention zu wenig verankert sind - sie kommen de facto gar nicht vor!
Transnationale Kooperation der Alpenstädte ist nicht einfach: Zum einen gibt es oftmals keine gemeinsamen alpenweiten Interessenslagen, und der Alpenraum zerfällt im Hinterland der grossen ausseralpinen Metropolen in Teilgebiete, wie Friedrich Schindegger (Österreichisches Institut für Raumplanung) meint. Zum anderen sind politische Programme, die eine stärkere transnationale Zusammenarbeit fördern sollen, mit hohen administrativen Hürden verbunden, sodass gut gemeinte Versuche und innovative Ansätze oftmals nicht den gewünschten Erfolg verbuchen können. Dies zeigten Bojana Omersel (Hosting Consulting Slovenia) und August Lenar (Landschaftspark Logarska dolina d.o.o.) am Beispiel Sloweniens.

Aus den Vorträgen an diesem ersten Teil der Konferenz wurden folgende Punkte deutlich:

* Mit "Stadt" werden Begriffe wie Arbeitsplätze, Motor, Macht und Verantwortung in Verbindung gebracht, mit "Land" Landwirtschaft, Landschaft, Naherholung, Tourismus, 'Schlafgegend'.

* Die Beziehungen zwischen Stadt und Land sind vor dem Hintergrund sich auflösender Grenzen und Begriffe neu zu definieren, neue Kooperationsformen sind zu finden. Dabei ist der permanente Wandel als Faktum anzunehmen. Er ist nicht nur als Bedrohung sondern auch als Chance zu begreifen.

* Die Kooperation der Alpenstädte ist kein Luxus sondern im Hinblick auf die Gesamtverantwortung der Städte für den Alpenraum ein Muss: hier konzentrieren sich die grössten ökonomischen, sozialen und kulturellen Potenziale, hier gibt es kritische Massen. Wer, wenn nicht die Städte soll im Alpenraum etwas bewegen und Impulse setzen können?

* In der Kooperation der Städte untereinander aber auch zwischen Stadt und Land rückt das Thema "Governance" mehr und mehr in den Vordergrund: Wer übernimmt welche Rolle, welche Verantwortung? Wie gestalten wir Planungs- und Entscheidungsprozesse möglichst fair und transparent? Es mangelt nicht an guten inhaltlichen Ideen, sondern am Umsetzungs-Knowhow, am "Wissen über das Tun" denn das Wissen über die Etablierung intelligenter und flexibler Strukturen für neue Formen der Zusammenarbeit steckt in vielen Gebieten noch in den Kinderschuhen. Zur wichtigsten Handlungsebene wird dabei die Region. Sie bildet den gemeinsamer Rahmen für die neuen Kooperationsformen zwischen Städten und ländlichen Gebieten.

* Die neuen Kooperationsformen müssen bestehende Politiken und Instrumente nutzen. Wer darauf wartet versorgt zu werden oder einzeln kämpft, zieht eher den Kürzeren als diejenigen, die die Zusammenarbeit mit anderen suchen. Letztere haben reale Chancen, ihre Position im Wettbewerb der Regionen zu verbessern.

Alpenbrache oder Impulsgeber?
Die Diskussion am Samstag begann mit einem Beitrag von Christian Schmid (ETH Studio Basel), der die Resultate der Studie "Die Schweiz - ein städtebauliches Porträt" präsentierte. Schmid stellte dabei die gesamte Schweiz als urbanen Raum bestehend aus verschiedenen Raumtypen dar. Das Bild ähnelte im Wesentlichen den Ergebnissen anderer Projekte der aktuellen Alpenforschung, allerdings wollte Schmid keine planerischen oder politischen Konsequenzen aus seiner Analyse ableiten. Insbesondere betreffend der "Alpinen Brache", wie eine grosse Fläche im Süden der Schweiz tituliert wurde, wäre eine klarere Positionierung wünschenswert gewesen. Angesichts der Globalisierung, so Schmid, müsse man das Paradigma einer ausgewogenen Besiedlung des Raumes aufgeben. Das Recht auf "Gleichheit im Raum" sei fatal und nicht aufrecht zu erhalten.

Kein Wunder also, dass ein Bewohner der "Alpinen Brache", Gion A. Caminada (Architekt und Professor an der ETH Zürich), diesen Einschätzungen nur zum Teil zustimmen konnte und den Spiess insofern umdrehte, indem er gerade die Peripherie auch als Impulsgeber für die starken Regionen des Alpenraums hervorhob, etwa bei soziokulturellen Themen. Caminada präsentierte 9 Thesen, wie die Peripherie gestärkt werden könnte: etwa durch raumplanerische Massnahmen, durch geeignete Bewirtschaftungsmethoden in der Berglandwirtschaft, durch eine neue Architektur, die Ästhetik der Nutzung. Als grosse Herausforderung sah er das Konzept der Naturparke, da die Gefahr bestehe, dass "die Bewohner zu Dienern des Zentrums" werden. Er appellierte an die Menschen in der Peripherie, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, stärker zu kooperieren und die Zukunft nicht den Städten allein zu überlassen.

Mario Broggi (Berater ETH Rat) betonte in der Diskussion, dass das Brachfallen gerade in den mittleren Höhenlagen ein Faktum sei. Verstädterung und "Verwälderung" sind also zwei parallele Prozesse und machen die Polarisierungstendenzen in den Alpen deutlich. Auf diese, mit der Globalisierung zusammenhängenden Prozessen, gibt es nach wie vor keine regionale Antworten. Dennoch besteht Hoffnung, dass Gebiete aus ihrer Not heraus erfolgsversprechende Wege beschreiten. Manche der 571 Projekte, die im CIPRA-Wettbewerb im Rahmen des Projekts "Zukunft in den Alpen" im Sommer dieses Jahres eingereicht wurden, können als Wegweiser in Richtung einer selbstbewussten Regionalisierung dienen. Die Innovationen entstehen dabei vermutlich nicht im Zentrum einzelner Wirtschaftssektoren, sondern an deren Rändern, in der Grenzüberschreitung zu anderen Sektoren, durch neue sektorale und regionale Partnerschaften - sie entstehen zwischen ländlichen Regionen, zwischen den Städten, und insbesondere auch zwischen Stadt und Land.