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Die Alpen der kommenden Generation

20.12.2004 / CIPRA Internationale Alpenschutzkommission
240 Teilnehmende aus allen Alpenländern haben sich vom 22. bis 25. September 2004 in Kranjska Gora in den Slowenischen Alpen anlässlich der "Alpenwoche" getroffen. Die Behandlung des Tagungsthemas "Die Alpen der kommenden Generation" war eine Herausforderung. Die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekte wurden durch ReferentInnen thematisiert und im Rahmen von Workshops intensiv diskutiert.
Die nachhaltige Entwicklung ist per Definition ein langfristiger Prozess. Die zukunftsorientierte Denkweise bei so einer komplexen Angelegenheit benötigt Methoden, die von Bernard Debarbieux von der Universität Genf im Einstiegsreferat präsentiert worden sind. Um das Handeln auf die Nachhaltigkeit auszurichten, ist es wichtig, prospektiv, das heisst zukunftsorientiert zu denken.
Die Komplexität und die Forderung, die Bedürfnisse der nächsten Generationen zu berücksichtigen, führen dazu, dass EntscheidungsträgerInnen schnell überfordert sind. In einer Zeit der Ungewissheit ist das prospektive Denken ein Muss, um den Weg zur Nachhaltigkeit so effizient wie möglich zu gestalten. Erst wenn eine Vision oder ein gewünschter Zustand identifiziert und von den Betroffenen getragen ist, kann eine Gesellschaft oder eine Gruppe die Schritte, die dazu führen, umsetzen. Die präsentierten Referate boten vielfältige Visionen und Szenarien, die zeigten, was auf die Alpen zukommt.

Differenzierte Entwicklungsstrategien für die Alpenregionen
Ein Phänomen, das in mehreren Beiträgen auf der Alpenwoche besondere Erwähnung fand, ist die räumliche Polarisierung. Martin Boesch von der Universität St. Gallen zeigte, wie der globale Prozess der fortschreitenden Arbeitsteilung und der zunehmenden wirtschaftlichen Spezialisierung von der kleinregionalen Subsistenzwirtschaft letztendlich zu einer weltweiten Standortkonkurrenz geführt hat.Bei diesem Wettstreit sind städtische Gebiete und Gebiete mit besserer Erreichbarkeit im Vorteil. Boesch stellte die Frage, wie sich vor dem Hintergrund dieser Polarisierung die "Alpen-Wirtschaft" zukünftig weiterentwickeln kann. Im Spannungsfeld von Markt und Politik sind verschiedene Strategien denkbar. Eines scheint jedoch sicher zu sein: Aufgrund der kleinräumigen strukturellen Unterschiede im Alpenraum kann es keine einheitliche Gesamtstrategie geben, es braucht vielmehr sehr flexible und an die unterschiedlichen Anforderungen angepasste Instrumente.

Umgang mit der räumlichen Polarisierung: eine zentrale Herausforderung
Die Auswirkungen der Polarisierung auf die Raumstruktur und die Kulturlandschaft im Alpenraum waren Gegenstand mehrerer Beiträge, z.B. von Axel Borsdorf, Österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien, Mario Broggi von der WSL in Birmensdorf/CH, Karl Buchgraber, Bundesanstalt für alpenländische Landwirtschaft Gumpenstein in Österreich und Wolfgang Pfefferkorn, Rosinak in Wien. Diese Auswirkungen können wie folgt zusammengefasst werden:

- Boom der Ballungsgebiete:
Über zwei Drittel der 13 Millionen Alpenbewohner leben heute in Ballungsgebieten in den Becken und Tallagen der Alpen. Die Wohn- und Gewerbegebiete, die Strassen und Schienenwege, die Einkaufszentren und Freizeitanlagen verbrauchen die besten landwirtschaftlichen Böden und drängen naturnahe Landschaftselemente mehr und mehr zurück. Wegen der Morphologie der alpinen Täler und Becken sind negative Umweltwirkungen wie Lärm oder Schadstoffeintrag in den Alpen oftmals stärker spürbar als ausserhalb der Alpen. Wir können davon ausgehen, dass die Gunstlagen in den Alpen auch in der näheren Zukunft ein starkes Wachstum verzeichnen werden.

- Räumliche Konzentration des Tourismus:
Die Gebiete mit Intensiv-Tourismus umfassen derzeit zwar kaum 10% aller Alpengemeinden, sie bilden aber den zweiten Wachstumspol der Alpen. Der Tourismus ist hauptverantwortlich für die wirtschaftliche Erfolgsstory der Alpen in den letzten 100 Jahren - und die Grundlage für diese Erfolgsstory ist sicherlich in erster Linie die alpine Landschaft. Die Auswirkungen des Tourismus auf die Kulturlandschaft sind ambivalent: einerseits sind damit grosse Eingriffe in die Landschaft und hoher Flächendruck verbunden - und das meist auf grosser Seehöhe in sensiblen Ökosystemen, andererseits kann die extensive Landwirtschaft vom Tourismus profitieren, indem dieser zum Beispiel einen Absatzmarkt für lokale Produkte bietet.
In den nächsten Jahrzehnten werden der Klimawandel und der damit verbundene Schneemangel sowie der zunehmende Konkurrenzkampf zwischen den Destinationen zu räumlicher Konzentration führen: Die grossen und kapitalstarken alpinen Tourismusgebiete werden überleben, Gebiete in geringerer Höhenlage und mit schlechterer Kapitalausstattung werden hingegen in diesem Wettbewerb auf der Strecke bleiben.

- Krise der "Zwischenräume":
das sind jene Regionen ausserhalb der Ballungsgebiete, aus denen heute schon viele Beschäftigte auspendeln, Gebiete, die Arbeitsplätze einbüssen und an Wirtschaftskraft verlieren - sie entwickeln sich immer mehr zu reinen Wohn- und Schlafgemeinden. Da die Wohnungsnachfrage zumeist gross ist, schreitet die Zersiedelung voran. In diesen Regionen gibt es derzeit schon besonders viele Nebenerwerbslandwirte. Wird auch die nächste Generation noch zum belastenden Nebenerwerb bereit sein? Wir müssen jedenfalls damit rechnen, dass arbeitsintensive Tätigkeiten aufgegeben werden: Die Landwirtschaft zieht sich auf die Gunstlagen zurück; steile und schwer erreichbare Flächen werden nicht mehr bewirtschaftet. Sie verbuschen und verwalden im Laufe der Zeit.

- Rückkehr der Wildnis:
In etwa der Hälfte der Alpengemeinden haben in den letzten Jahren die Bevölkerungs- und Arbeitsplatzzahlen abgenommen. Meist handelt es sich um periphere Gebiete, hochgelegene und schwer erreichbare Seitentäler. In Zukunft müssen wir mit einer Negativspirale rechnen: Wo Arbeitsplätze weniger werden und Bevölkerungszahlen sinken, verschwindet auch die Nahversorgung, öffentliche Dienste und der Nahverkehr werden abgebaut. Die Folge ist weitere Abwanderung und die Verödung ganzer Ortschaften. Heute spielt in diesen Regionen die Land- und Forstwirtschaft immer noch eine vergleichsweise wichtige Rolle, weil es nur wenige Einkommensalternativen gibt.
In Zukunft müssen wir damit rechnen, dass die steilen und schwer erreichbaren Flächen nur mehr extensiv und schließlich gar nicht mehr bewirtschaftet werden. Die Folge: Der Wald erobert sich weite Flächen zurück. Oft wird aber auch der Wald nicht mehr ausreichend bewirtschaftet und gepflegt und kann gemäss der Meinung verschiedener ReferentInnen seine Schutzfunktion nicht mehr ausreichend erfüllen.

Geeignete politische Rahmenbedingungen erwartet
In mehreren Beiträgen wurde deutlich, dass diesen großräumigen Entwicklungstrends nur schwer begegnet werden kann. Auf der anderen Seite wurde klar, dass es von Seiten der Politik dringend gut abgestimmte Programme und Instrumente braucht, damit zumindest die "negativen Spitzen" dieser Entwicklungen abgemindert werden können. Es gibt derzeit bereits einige positive Beispiele im Alpenraum wie etwa das österreichische ÖPUL-Programm, mit dessen Hilfe die alpine Kulturlandschaft erhalten und weiter entwickelt werden kann.
Die Themen "Verwaldung" und "Verwilderung" liefern derzeit im gesamten Alpenraum viel Diskussionsstoff. Die einen sehen durch den Rückgang der offenen Kulturlandschaft die Grundlagen für die alpine Landwirtschaft und auch für den Tourismus in Gefahr und leiten daraus - zumindest in besonders prekären Gebieten - auch eine weiterführende Gefährdung der menschlichen Besiedelung an sich ab, andere wiederum können dem Rückzug des Menschen aus manchen Teilgebieten der Alpen auch etwas Positives abgewinnen. In jedem Fall wird deutlich, dass im Hinblick auf die (Kultur)Landschaft ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Die Gesellschaften in den Alpenländern sind heute zum ersten Mal in ihrer Geschichte in der (Zwangs)Lage, sich bewusst für bzw. gegen verschiedene Erscheinungsbilder der Landschaft entscheiden zu können bzw. zu müssen: Welche Landschaft wollen wir? Wer soll dafür zuständig sein, dass die Landschaft so aussieht, wie wir sie haben wollen? Wer bezahlt dafür? Wieviel?
Diese Auseinandersetzung lieferte spannende weiterführende Fragen: wie kann ein so vielschichtiges Thema in einer Gesellschaft ausgehandelt werden? Sind bestehende Diskussions- und Entscheidungsmodelle noch adäquat? Oder brauchen wir andere Formen, die eine Beteiligung der breiten Öffentlichkeit ermöglichen? Die Frage nach neuen gesellschaftlichen Aushandlungsmodellen, auf der EU-Ebene derzeit unter dem Schlagwort 'good governance' breit diskutiert, betrifft nicht nur die Themen "Landschaft" und "Naturschutz". Auch in Fragen der zukünftigen Mobilität und im Hinblick auf die zukünftige touristische Entwicklung nimmt die Einbindung der Öffentlichkeit einen immer grösseren Stellenwert ein.

Zapping zwischen Tourismusangeboten
Ein besonderer thematischer Schwerpunkt der Alpenwoche in Kranjska Gora war der Tourismus. Vor dem Hintergrund eines stagnierenden Wintertourismus und deutlicher Rückgänge im Sommertourismus präsentierten Philippe Bourdeau und Jean Corneloup, IGA in Grenoble jene ökonomischen, sozialen und umweltbezogenen Aspekte, die für den zukünftigen Alpentourismus entscheidend sind.
Eines der wichtigsten aktuellen Phänomene ist die Diversifikation. Während die Alpen früher von wenigen Sportarten dominiert wurden, herrscht heute eine kaum mehr überblickbare Vielfalt: Einerseits gibt es eine immer grössere werdende Anzahl neuer Sportarten, andererseits nimmt auch die Vielfalt der Orte, an denen die einzelnen Sportarten ausgeübt werden, immer mehr zu.
Von grosser Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass viele Trendsportarten ihren "Veranstaltungsort" nicht in der hochalpinen Zone haben, sondern dass viele dieser neuen Sportarten auf mittlerer Seehöhe und in Ortsnähe ausgeübt werden. Das könnte einerseits bedeuten, dass die höher gelegenen Gebiete entlastet werden, dass aber andererseits der Nutzungsdruck in den ohnehin hoch belasteten alpinen Tallagen auch von Seiten der Sportaktivitäten weiter zunimmt. Angesichts des Klimawandels orientieren sich die aktuellen touristischen Gross-Erschliessungsvorhaben gegenwärtig wieder ganz nach oben - dorthin, wo auch in Zukunft mit genügend Schnee zu rechnen ist.
Francesco Pastorelli stellte die Frage, welchen Weg jene Gebiete einschlagen sollen, die damit rechnen müssen, dass sie in Zukunft vom Kuchen des Massentourismus nichts mehr abbekommen werden. Liegt ihre Alternative im sanften Tourismus? In sektorübergreifenden Kooperationen? Wird die regionale Wertschöpfung den BewohnerInnen für ihre Existenzsicherung ausreichen? Vielleicht kann es einigen dieser Gebiete gelingen, durch geschickte Innovationen aus der Not eine Tugend zu machen und zukunftsfähige regionale Entwicklungspfade einzuschlagen.
abgelegt unter: Regionalentwicklung