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«Raum als Beziehungssystem begreifen»

14.10.2016
Jahrzehntelang dachte man, dass nur Städte von engen Platzverhältnissen betroffen seien. Doch auch in den Alpen wird man sich langsam bewusst, dass Raum eine begrenzte Ressource ist. Es muss ein neuer Weg eingeschlagen werden, ist Gianluca Cepollaro, Direktor der Schule für Raum- und Landschaftsordnung Step in Trento/I, überzeugt.
Bild Legende:
Gianluca Cepollare plädiert für eine Raumplanung, die den sozialen Zusammenhalt fördert. (c) Jot Tagliavini

Wenn wir die Alpen von oben betrachten, sehen wir Talböden mit zerstreuten und ungeordneten Siedlungen und fast ausgestorbene oder sogar verlassene Bergdörfer. Ist die Raumplanung gescheitert?

Schieben wir nicht die gesamte Verantwortung auf die Raumplanung! Zwei Dinge sind gescheitert oder, besser gesagt, nicht mehr tragbar. Erstens die Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur hinsichtlich Beherrschung und Manipulation verstanden wird: Wir haben die Natur auf kindliche Weise verändert, bis wir gemerkt haben, dass es so nicht weitergehen kann. Zweitens ist der sektorale Lösungsansatz für komplexe Probleme gescheitert. Diese können nicht nur durch die Lupe einer einzigen Disziplin betrachtet werden.

Was sind die Gründe für dieses Scheitern?

Gescheitert ist ein Planungsmodell, das auf einer falschen Beziehung von Mensch und Natur gründet: das Modell des isolierten Planers, der die Verwandlung von Räumen von oben plant und beschliesst. Gescheitert ist das Modell, das lineare Prozesse vorgibt: Einige Personen an der Spitze entscheiden für die Basis.

Warum wird gerade jetzt damit begonnen, von Raumknappheit zu sprechen?

In den Alpen, wo Raum schon aus morphologischen Gründen eine knappe Ressource ist, werden wir uns der Tatsache bewusst, dass wir ein Problem eines nicht mehr tragbaren Raumverbrauchs haben. Heute sind die Menschen wesentlich sensibler für Themen wie Bodenverbrauch oder Landschaftsqualität. Aber bevor von Bodenverbrauch gesprochen wird, sollte über den Begriff Boden nachgedacht werden und über die Dienstleistungen, die dieser erbringt, wie Regulierung oder Bereitstellung von Annehmlichkeiten. Sie gehen verloren, wenn wir bauen. Die Situation wird nicht nur für Talböden untragbar, sondern auch für Täler, die an einen intensiven Tourismus gebunden sind, bedingt durch die Vorstellung von einer als grenzenlos geglaubten Entwicklung.

Welche Bedürfnisse hat die Bevölkerung heute in Bezug auf die Raumnutzung?

Es besteht die Notwendigkeit einer sozialen Raumnutzung. Der Wegfall der sozialen Bindung wirkt sich auf die Raumqualität aus. Es reicht nicht, einen öffentlichen Platz anzulegen, damit die Leute ihn nutzen. Man muss analysieren, was zum stark individualistischen Verhalten der Menschen geführt hat. Wie können wir die Fäden der Solidarität wieder zusammenführen und neue knüpfen? Wie können wir verständlich machen, dass die Menschen die Freude an einer gemeinsamen Planung wiederentdecken können?

Inwiefern muss die Beziehung zwischen Bevölkerung und Raum überdacht werden?

Wer hat gesagt, dass in jeder Gemeinde ein Schwimmbad und ein Baseballfeld gebaut werden muss?  Später merkt man, dass nicht genug Geld für den Unterhalt des Schwimmbads da ist und dass der Boden, auf dem es gebaut wurde, unnötig verbraucht wurde. Man kann auch gemeinsame Einrichtungen bauen. Früher wurde Raum als etwas betrachtet, das nicht zu uns gehörte. Es reicht jedoch nicht, einen Behälter zu bauen, um die Beziehungen zwischen dem Raum und den Menschen wieder zu aktivieren. Wir müssen damit beginnen, den Raum als ein Beziehungssystem zu begreifen – erst dann wird es zu einem Perspektivenwechsel in der Raumplanung und im Raummanagement kommen. Dies passiert jedoch nur, wenn die Menschen sich in gemeinsamen und geteilten Werten wie Landschaft, Umwelt und Raum wiedererkennen: Menschen treffen sich, wenn sie gleiche Interessen haben. Raum kann das verbindende Thema sein, um mit einem gemeinsamen Projekt zu beginnen.

Wie können Raumplanungsexperten auf diese Bedürfnisse eingehen?

Die Raumplaner und Fachleute für Raumordnung sind heute nicht mehr die einzigen, die sich mit dieser Frage befassen müssen. Sie haben Beziehungen zu anderen Personen und tauschen sich mit diesen aus, zum Beispiel mit solchen aus Bildung. Wenn Landschaft als Lebensraum verstanden wird, dann fällt sie nicht mehr ausschliesslich in den Zuständigkeitsbereich der Raumplaner. Jeder muss ein wenig auf seine Spezialisierung verzichten, um Teil eines grösseren Ganzen zu werden.

Hat sich also das Verständnis von Raumplanung verändert?

Die Rolle der Raumplanung hat sich dahingehend verändert, dass alle darin eingebunden sind, nicht nur die Experten. Ein Kind, das ein Stück Papier nicht einfach auf den Boden fallen lässt, gestaltet die Landschaft, eine Familie, die den Müll trennt, beeinflusst Lebensräume genauso wie der Raumplaner, der damit beginnt, seine Arbeit nicht mehr losgelöst vom Kontext zu begreifen und die Multifunktionalität von Räumen zu berücksichtigen. Wir müssen mit Verwaltern, Fachleuten und Technikern, vor allem aber mit Schulen zusammenarbeiten.

Was wird gebraucht, um die laufenden Veränderungen zu bewältigen?

Wir brauchen eine grosse und breit angelegte Investition in die Bildung, um einen kulturellen Qualitätssprung zu schaffen. Heute fangen Politiker langsam an zu begreifen, dass es auch einen politischen Wert hat, an diese Themen zu glauben. Man muss erklären, dass alle – Bürger, Techniker und Verwalter – ein gemeinsames Interesse an der Aufwertung des Raums haben, in dem sie leben. Dann sieht man, dass die Politiker anfangen, langfristiger zu denken, dass die Bürger bereit sind, Verzicht zu üben, um einen einfacheren Lebensstil zu pflegen, und dass die Techniker anfangen zu verstehen, dass das «Warum» der Projekte nie vom «Wie» ihrer Umsetzung getrennt werden kann.

Wie kann die Raumordnung aus den Lehrstühlen an den Hochschulen und den Behörden herausgeholt und der Bevölkerung näher gebracht werden?

Die Raumplanung befasst sich mit verbreiteten Themen, deshalb ist die eigene Erfahrung so wesentlich. Bei diesen Themen sind wir alle Lehrer und Ausbildner zugleich. Bildung muss in den Zwischenräumen stattfinden. Wie? Erstens indem schulmeisterliche didaktische Ansätze aufgegeben werden. Denn der menschliche Verstand lernt nicht auf Befehl und durch Kontrolle. Zweitens durch die Aufgabe übermässig spezialisierter Ansätze, die alleine nichts bewirken. Die Natur verhält sich nicht so wie in den Studiengängen an den Universitäten. Also muss der Graben zwischen getrenntem und in Disziplinen unterteiltem Wissen auf der einen Seite und globalen, bereichsübergreifenden Problemen auf der anderen überwunden werden. Drittens durch die Anerkennung der Gefühls- und Beziehungsdimension in jedem Lern- und Veränderungsprozess. Wir müssen eine Beziehung zu den Köpfen der anderen aufbauen.

Werden wir es schaffen, einen Raum der Kooperation anstelle der Konkurrenz aufzubauen?

Wir müssen es schaffen, uns gemeinsam an einen Tisch zu setzen mit dem Ziel, zu einer Lösung kommen zu wollen und uns selbst als Teil eines Ganzen zu erkennen. Es können Lösungen gefunden werden, die Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt und angemessene Entwicklungsformen miteinander verbinden. Der Konflikt sollte sich an diesen drei Polen orientieren. Allein sich auf den Konflikt einzulassen ist ein grosser Schritt, denn oft werden Konflikte tendenziell eher verdrängt. Ein Grossteil des verantwortungsbewussten Umgangs mit der Landschaft und der Nutzung des Lebensraums hängt mit einer Konflikterziehung zusammen.

Wo liegen die Grenzen eines partizipativen Planungsprozesses?

Was ist Partizipation? Es ist der Austausch über unterschiedliche Meinungen, die legitim und konfliktträchtig sind. Partizipative Prozesse, die folglich konfliktgeladene Prozesse sind, können zu suboptimalen Lösungen führen, d. h. sie führen nie zum Optimum, aber sie können kreative Entscheidungen fördern. Oft ist Partizipation eine vorbeugende Rhetorik, um Projekte und schon getroffene Entscheidungen voranzutreiben. Das ist dann kosmetische Partizipation. Kosmetische Partizipation ist voller Rhetorik, sie ist voll von «Ja» und «Okay, wir sind uns alle einig».  Sie ist sich des Erzielens einer Einigung sicher und lässt dem Konflikt nur sehr wenig Spielraum. Richtige Partizipation hingegen hat eine eigene Methode, einen eigenen Raum. Und sie kann wirkungsvoll sein, wenn sie eine vertikale Dimension, also die der Macht und Führung, mit einer horizontalen Dimension des Zuhörens und der Aufmerksamkeit verbindet. Wenn ich mich beteiligen will, muss ich informiert sein, ich muss zuhören können und es schaffen, in einen Konfliktbereich zu gelangen, um Verhandlungsprozesse auszulösen.

In Italien wird momentan davon gesprochen, wie wichtig es ist, die Autonomie der Regionen zu garantieren, um deren Vitalität zu fördern. Kann eine autonome Region ihren Raum besser planen?

Ja, davon bin ich überzeugt. Ich meine damit die Selbstverwaltungsfähigkeiten einer Region, die über die institutionellen Prozesse hinausgehen und in einigen Alpengebieten ausserordentlich erfolgreich waren. Raum, Landschaft und Umwelt müssen die Hauptthemen sein, mit denen sich die Gebietsautonomie befasste. Dies erfordert Verantwortungsbewusstsein. Die Autonomie fordert das Engagement der Gemeinschaften, das es nur dann gibt, wenn man sich in gemeinsamen Werten und in gemeinsamen Zukunftsprojekten wiedererkennt.

Wie stellen Sie sich den Alpenraum in zehn Jahren vor?

Ich stelle mir vor, dass es eine andere Fähigkeit gibt, die verfügbaren Ressourcen wiederzuverwenden, umzustrukturieren und zu regenerieren. Ich stelle mir vor, dass ein grösseres Augenmerk auf dem Aufbau von Synergien zwischen den Themen liegen wird, die heute getrennt behandelt werden. Ich stelle mir vor, dass viele Kinder und junge Menschen die Dinge anders angehen werden als die Generationen vor ihnen.

Cristina Dalla Torre (Interview), Jugendbeirat von CIPRA International und Vorstand von CIPRA Italien



EIN BODENSTÄNDIGER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTLER

Gianluca Cepollaro ist seit 2009 Direktor der Schule für Raum- und Landschaftsordnung Step an der Trentino School of Management. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Neapel hat er sich beruflich auf die Bildung und Forschung zur Entwicklung von Organisationen konzentriert. Von 1999 bis 2008 war er Dozent an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Triest. Gianluca Cepollaro befasst sich überwiegend mit dem verantwortungsbewussten Umgang mit Landschaft, Raum und Umwelt, dem Management von Bildungseinrichtungen und mit Entwicklungsprozessen von Arbeit und Organisationen.

www.tsm.tn.it (it)