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Volksbefragung im Pustertal und Schutzwald-Sanierung in Hinterstein - Wir reden mit! AlpenbewohnerInnen wollen nicht mehr zuschauen, sondern aktiv mitgestalten

20.03.2007 / Swantje Strieder
In den letzten Jahren haben kooperative Planungsprozesse durch Vorgaben der EU oder der nationalen Regierungen an Gewicht gewonnen. Auch von der Basis, von BürgerInnen, GrundeigentümerInnen und Interessengruppen wird Partizipation im Sinne von mehr Mitsprache und Mitentscheiden gefordert.
Mitsprache
Bild Legende:
Allen neuen Entscheidungsformen gemein sind die Mitsprache der BürgerInnen und Zusammenarbeit mit Planern und Umsetzerinnen. © Comitato referendum consultivo Val Pusteria
In kürzester Zeit durchleben die Alpenstaaten einen starken Wandel ihres politischen und ökonomischen Umfelds: der Staat wird schlank, öffentliche Zuschüsse schrumpfen, in den benachteiligten Regionen gehen Arbeitsplätze verloren. Mit dem Trend zur Zivilgesellschaft stehen die BewohnerInnen immer mehr vor der Aufgabe, die politischen Prozesse zu verstehen und sich möglichst effektiv einzubringen. Gerade weil Politikerinnen, Entscheidungsträger und Planerinnen vor Ort die Beteiligung der Öffentlichkeit oft als Einmischung in ihre ureigensten Angelegenheiten empfinden, ist die Suche nach neuen Formen der Entscheidungsfindung eine grosse Herausforderung.

Qualifizierte Mitsprache gewünscht
Bei vielen internationalen Abkommen ist politische Mitsprache bereits vorgesehen, in der Präambel der Alpenkonvention etwa wird die Bevölkerung aufgefordert, die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Alpen mitzugestalten. Auf lokaler Ebene gibt es jedoch noch immer verkrustete Strukturen, die eine Mitwirkung der Betroffenen erschweren. Dennoch wächst die Zahl der BürgerInnen, die nicht mehr passiv zuschauen wollen. Ob als Haus- oder Grundeigentümer, Landwirtin, Bahn- oder Autofahrer, Umweltschützerin, als Mitglied der Bäckerinnung oder des Schützenvereins, die Menschen möchten mitreden und mitentscheiden.

Die CIPRA unterstützt diese Entwicklung; sie fordert, dass bei künftigen Projekten kooperative Planungs- und Entwicklungsansätze verstärkt eingesetzt werden. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Akteure wissen, wie diese Ansätze funktionieren. Deshalb müssen die Handelnden aus Gemeinden, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen entsprechend ausgebildet werden. Insbesondere von den Gemeinden und Regionen erwartet die CIPRA, dass Kräfte, die sich für den Alpenschutz und eine nachhaltige Entwicklung einsetzen, verstärkt einbezogen werden in die politische Entscheidungsfindung - für die grundsätzlich die Kriterien von "Good Governance" gelten müssen: demokratische Legitimität, Effektivität, Transparenz, Subsidiarität und Partizipation.

Wie neue Entscheidungsfindungen aussehen können, haben die ExpertInnen in der von der CIPRA beauftragten "Zukunft in den Alpen"-Studie anhand von folgenden Fragen untersucht:

o Welches sind die wichtigsten Konflikte und Probleme bei der Entscheidungsfindung in den Alpen?
o Wie laufen Entscheidungen ab, wie könnten die Prozesse verbessert werden?
o Welche Rahmenbedingungen braucht man, damit eine nachhaltige Entwicklung im Planungsprozess berücksichtigt wird?
o Wie können die Betroffenen besser zu Wort kommen?
o Wie können die Erfahrungen der Vorzeigeprojekte umgesetzt werden?

Ziel war es, anhand der Vorzeigeprojekte neue Wege der Entscheidungsfindung in den fünf Bereichen Regionale Wertschöpfung, Soziale Handlungsfähigkeit, Schutzgebiete, Mobilität und Politische Strategien aufzuzeigen. Die Lösungsstrategien für die folgenden Kernfragen hängen nicht zuletzt von einer erfolgreichen, allgemein akzeptierten Entscheidungsfindung ab.

Regionale Wertschöpfungsketten als erfolgreiche Kooperationen aufbauen und führen
In den Alpenländern wird der Unterschied zwischen wohlhabenden und weniger begünstigten Gebieten immer grösser. Bisher konnten regionale Ausgleichszahlungen die Kluft mildern. Aber in Zeiten, wo sich die politische Landschaft neu ordnet und Zuschüsse für Soziales oder Landwirtschaft zu versiegen drohen, sind andere Lösungswege gefragt. Die Regierungen konzentrieren ihre Investitionen auf Ballungsräume, so dass abgelegene, dünn besiedelte Gegenden das Nachsehen haben. Deshalb ist es besonders für die benachteiligten Gebiete wichtig, nachhaltige Wertschöpfungsketten aufzubauen, vielleicht auch Gütesiegel einzuführen und den Verkauf von örtlichen Spezialitäten mit sanftem Tourismus zu kombinieren.
Der europaweite Reformprozess trägt zusätzlich zur Verunsicherung der Betroffenen bei. Als kleine regionale Anbieter sehen sie sich einer ständig wachsenden Zahl von internationalen Gegenspielern gegenüber: Beim Export ihrer Produkte müssen sie sich mit mächtigen Großabnehmern wie Carrefour, Spar, Lidl, Aldi, Migros und Coop auseinandersetzen. Markenzeichen können zum Exporterfolg beitragen. Oft wird die Zertifizierung für kleine Anbieter wegen des großen Aufwands aber zum Hindernis. In Italien etwa konkurrieren zwei Markenzeichen DOC (denominazione d'origine controllata) und IGP (indicazione geografica protetta) miteinander, was Verwirrung stiftet. Und Käse ist eben heute nicht einfach Käse, sondern ein Markenprodukt, bei dessen Produktion verschiedenste Auflagen berücksichtigt werden müssen. Im Tourismus sehen sich die lokalen Anbieter durch die großen Reiseveranstalter häufig einem Druck zur Kostensenkung und Standardisierung ihrer Dienstleistungen ausgesetzt. Für die ExpertInnen in der CIPRA-Studie ist dies Teil einer allgemeinen Entwicklung: Wer erfolgreich seine Produkte und Dienstleistungen verkaufen will, muss auf mehr Faktoren achten als früher. Um die richtigen Enscheidungen zu treffen, muss er stärker ökonomische, politische und juristische Rahmenbedingungen auf nationaler, manchmal auch internationaler Ebene berücksichtigen. Regionale Akteure müssen diese zunehmende Komplexität in der Entscheidungsfindung beherrschen lernen. Förderprogramme sollten laut den ExpertInnen daher den Informationsaustausch zwischen den Akteurinnen stärken. Sie sollten Netzwerke und Kooperationen fördern, und sie sollten die Aushandlungskompetenzen der regionalen Akteure verbessern.

Staatliche Dienstleistungen durch Eigeninitiative der BewohnerInnen ergänzen und die Identität der AlpenbewohnerInnen bewahren
Was die soziale Handlungsfähigkeit betrifft, so sind Auflösungserscheinungen in Teilen der Gesellschaft unübersehbar. Durch weltweite Trends wie Globalisierung, wirtschaftliche Konzentration, Fragmentierung und Alterung der Gesellschaft und nicht zuletzt durch schwierige topographische Verhältnisse ist der soziale Zusammenhalt der AlpenbewohnerInnen gefährdet. Öffentliche Zuschüsse versiegen, öffentliche Dienstleistungen wie Schulen, Kindergärten, Post oder Nahverkehr werden eingestellt oder müssen auf lokaler Ebene eigenverantwortlich neu organisiert werden. Dazu kommt die Abwanderung von jungen qualifizierten Leuten, die oft mit Auflösung der traditionellen Familienverbände einhergeht.
Fazit des ExpertInnenteams: Nur durch ein verstärktes Miteinander zwischen Einheimischen und Zugereisten, zwischen Alten und Jungen und mit neuen Modellen der Entscheidungsfindung lässt sich die soziale Handlungsfähigkeit in Zukunft verbessern.

Einrichten von Schutzgebieten nach effizienten Naturschutz- und Management-Konzepten und unter Einbeziehung der Betroffenen
Auch im Hinblick auf die Einrichtung und das Management von neuen Schutzgebieten, also Planung, Verwaltung und Monitoring, müssen bessere Formen der Zusammenarbeit mit den Bewohner gefunden werden. Natürlich sollten zuerst die Bodennutzungs- und Besitzverhältnisse vor Ort geklärt werden. Um jedoch einen positiven Langzeiteffekt zu sichern, müssen Konflikte in und um die Schutzgebiete professionell ausgehandelt werden. Da gibt es immer wieder Kompetenzstreitigkeiten zwischen den politischen Ebenen und auch offensichtliche Fehler beim Park-Management. Dazu kommen Interessenskonflikte zwischen Land- und Forstwirten, Jägerinnen und Umweltschützern, die neue Parks meist nur unter dem ökologischen Gesichtspunkt und nicht als Aktivposten für eine nachhaltige regionale Entwicklung sehen.

Beitrag neuer Formen der Entscheidungsfindung zu nachhaltiger Verkehrsplanung
Auch bei der Diskussion über Mobilität können neue Formen der Entscheidungsfindung nicht hoch genug bewertet werden. In den Alpenregionen zeigen sich zwei gegenläufige Trends: Einerseits wird der öffentliche Nahverkehr immer mehr zurückgeschraubt, was gerade die ältere Generation, Frauen und Jugendliche ohne eigenes Auto benachteiligt. Andererseits entstehen durch den hohen Pendler- und Freizeitverkehr immense Umweltschäden, und die BewohnerInnen leiden unter Lärm und Abgasbelästigung. Hier fehlt es nach Meinung der AutorInnen in der CIPRA-Studie sowohl am politischen Willen wie am Instrumentarium, um sanfte Mobilitätskonzepte zu fördern. Es gibt auch viel zu wenige Kooperations-Plattformen, im Rahmen derer ein fairer Ausgleich zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden könnte.

Vorbereitung und Umsetzung politischer Strategien
Bei der Entwicklung von politischen Strategien und Konzepten zeigt sich, dass die Einbindung verschiedener Interessengruppen in die Vorbereitung dazu beiträgt, dass Programme geschärft und besser auf die Bedürfnisse der Zielgruppen abgestimmt werden. Dies gilt sowohl für den Bereich der Forschung als auch für lokale, regionale und nationale Konzepte. Beispiele dafür sind etwa örtliche Entwicklungskonzepte, in deren Erstellung die Bevölkerung eingebunden wird, Open-Space Konferenzen für die Formulierung von Zielen oder etwa das LEADER-Programm der EU, das in regionalen Bottom-Up-Prozessen erstellt und auch umgesetzt wird.

Checkliste für eine erfolgreiche Entscheidungsfindung
Es gibt keine "ideale" Methode der Entscheidungsfindung, aber es gibt allgemein gültige Prinzipien wie Transparenz, Vertrauenswürdigkeit, Respekt vor gegnerischen Meinungen und die Bereitschaft zu Kompromissen.
Bei der Abwicklung von Prozessen zur Entscheidungsfindung sollten folgende Schritte berücksichtigt werden:
1) Ausgangspunkt klären: Zu einem frühen Zeitpunkt sollten die Prozessverantwortlichen das Vorhaben bzw. den Anlassfall, dessen Vorgeschichte, Ziele und Inhalte, den Zeitplan, die Kosten und die möglichen Auswirkungen untersuchen.
2) Lage einschätzen: Die Prozessverantwortlichen sollten die Entwicklungstrends und die treibenden Kräfte hinter den Kulissen analysieren, die Positionen und Interessen der einzelnen Beteiligten sowie allfällige Konflikte und Allianzen einschätzen.
3) Handlungsmöglichkeiten überlegen: Hier geht es um folgende Fragen: Was passiert, wenn alles weiterläuft wie bisher? Welche neuen Optionen tun sich auf? Wie kann man neue Chancen erkennen und auch nutzen?
4) Aushandlungsprozess vorbereiten: Wenn die Handlungsmöglichkeiten geklärt sind, geht es um die Feinabstimmung des Prozesses: die Präzisierung des Verhandlungsgegenstandes (was genau bearbeiten wir, was nicht?), der Ziele, des Ablaufs (was geschieht wann?), der Strukturen (wer ist wofür zuständig?) und der Rahmenbedingungen (Prozessbegleitung, Zeit, Geld, Verbindlichkeit der Ergebnisse).
5) Geeignete Methoden auswählen: Die jeweils "richtige" Methode hängt von mehreren Parametern ab: vom Verhandlungsgegenstand, dem Verhandlungsspielraum, der Konfliktintensität, der Zahl der TeilnehmerInnen, von Zeit und Geld.
6) Aushandeln und Entscheidungen treffen: Verschiedene Verhandlungsphasen vom Kennenlernen der Beteiligten, Informationsaustausch, Vereinbaren der Spielregeln, Abstecken der Positionen, Definition der Konfliktbereiche, Klärung der Verantwortung bis zum Abschluss, in dem Ergebnisse, Kontrollfunktion und Evaluierung festgelegt werden.
7) Ergebnisse umsetzen: Die eigentliche Durchführung kann schwierig sein oder sogar scheitern. Häufige Ursache: die Vereinbarungen waren nicht präzise genug.
8) Umsetzung überprüfen: Eine kleine Gruppe von unterschiedlichen AkteurInnen sollte die Durchführung der Vereinbarungen gemeinsam überwachen. Das schafft Vertrauen und hilft beim Aufdecken von Fehlerquellen.
9) Öffentlichkeitsarbeit spielt bei neuen Formen der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle. Sie motiviert die Betroffenen und schafft eine Vertrauensbasis sowohl nach innen wie nach aussen. Spezielle Formen der Öffentlichkeitsarbeit wie Tage der offenen Tür, gemeinsame Exkursionen, spezielle Einführungen für Kinder und Migranten oder künstlerische Interventionen können dabei sehr wertvolle Beiträge leisten.

1. Beispiel Südtirol Italien
www.dirdemdi.org/pustertal
Preisträger CIPRA-Wettbewerb "Zukunft in den Alpen", 2005

"Ich rede mit" -Volksbefragung zum Verkehr im Pustertal
300 Südtiroler, parteipolitisch nicht gebunden, quer durch alle Volksgruppen, Sprachen und sozialen Schichten, gründeten im Jahr 2000 die "Initiative für mehr Demokratie". Ziel ist es, Bürger direkter an der Entstehung von Gesetzen zu beteiligen, z.B. per Volksentscheid. Eine "Beobachtungsstelle" schaut den Politikern und dem etablierten Politikbetrieb auf die Finger. Eine "Demokratiewerkstatt" entwirft selbst Gesetzesvorschläge, entwickelt Ideen und Projekte, um mit Öffentlichkeitsarbeit und in den Schulen mehr Menschen dafür zu begeistern, sich politisch einzumischen. Das Projekt will eine Kultur der Gleichberechtigung entwickeln, und es stärkt das Bewusstsein vom Wert der direkten politischen Beteiligung.

Zum Beispiel beim Thema Verkehr. Obwohl die Brenner-Autobahn mit ihrem Lastwagenverkehr die Menschen im Eisack-Tal stark belastet, plante die Regierung Südtirols weitere Transit-Strecken. Die "Initiative für mehr Demokratie" warb um Unterstützung bei Verbänden, um eine selbst verwaltete Volksbefragung zur Verkehrspolitik zu Wege zu bringen. Volksbefragungen sind in Italien auf lokaler Ebene nicht üblich. 200 Freiwillige sammelten 2900 Unterschriften, der erste Schritt zur Volksbefragung. Widerstände bei LokalpolitkerInnen gab es genug, doch bei der Bevölkerung kam der heitere Stil der Umfrage gut an. Am 20.März 2005 sprachen sich schliesslich 80 Prozent der Personen, die an der Volksbefragung teilnahmen, für den Vorrang für Bahn und Bus vor dem privaten Autoverkehr aus.


2. Beispiel Allgäu Deutschland

Schutzwaldsanierung in Hinterstein
Hinterstein, ein idyllisches Bergdorf bei Bad Hindelang, schmiegt sich in ein enges Hochtal. Darüber liegt der Wald auf bis zu 40 Grad steilen Hängen. Der Borkenkäfer hat ihm zugesetzt, er ist krank und ausgedünnt. Ohne einen starken Bergwald ist Hinterstein jedoch von Lawinen und Steinschlägen bedroht. Eine Million Euro flossen seit 1986 in die Sanierung, mit wenig Erfolg. Die Jungbäume wuchsen nicht nach, weil Gemsen und Hirsche die Triebe abfrassen. In einem bislang einzigartigen Projekt haben die ForstwissenschaftlerInnen der TU München ab 2003 ein Mediationsverfahren durchgeführt, in dem alle Betroffenen, Jäger, Forst- und Gewässerwirte, Gemeindevertreterinnen und Vereine einen Vertrag miteinander geschlossen haben: Die Jäger verpflichten sich, Aufforstungs-Zonen von Rotwild und Gemsen freizuhalten, die Forstwirtinnen sorgen dazu für optimale Einzäunung der neuen Pflanzungen. Waldbesitzer verzichten auf Rodungen und Ski-Touristinnen werden um die gefährdeten Gebiete herumgeleitet. Die Mediation war anfangs nicht einfach und von tiefem Misstrauen der TeilnehmerInnen geprägt. Aber wenn sich alle Betroffenen an den Pakt halten, gibt es auf das alte Eichendorff-Lied "Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben" - bald eine ganz neue Antwort: Alle miteinander.
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