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«Wir wollten dasselbe wie ihr heute»

21.06.2022 / Michael Gams, CIPRA International
Was denken Menschen aus verschiedenen Generationen über die Gegenwart und über die Zukunft der Alpen? Was verbindet sie, was trennt sie? Und wie finden wir einen gemeinsamen Weg? Sofia Farina und Stefan Witty im Dialog der Generationen.
Bild Legende:
Jugendvertreterin Sofia Farina und Vize-Präsident Stefan Witty von CIPRA International diskutieren über die Klimakrise. (c) Caroline Begle, CIPRA International

Sofia und Stefan, welcher ist euer Lieblingsplatz in den Alpen?

Stefan: Mein liebster Ort ist das Lechtal in Österreich. Ich mag es, weil ich dort oft Skitouren gehe. Ausserdem kamen meine Vorfahren aus diesem Tal, also habe ich auch eine persönliche Verbindung dazu. Ich mag es, weil es so wild und natürlich ist und es dort kaum Industrie gibt.

Sofia: Ich liebe die Brenta, eine Gebirgsgruppe ganz in der Nähe von Trient, Italien. Ich habe wunderbare Erinnerungen an einen Gipfel dort, der Piz Galin heisst, was im Trentiner Dialekt «Hühnergipfel» bedeutet. Es ist ein sehr wilder Gipfel, auf dem ich einen wunderbaren Sonnenuntergang gesehen habe und dann bin ich nachts mit den Skiern heruntergefahren. Es war unglaublich.

Was motiviert euch, für ein gutes Leben in den Alpen einzutreten?

Stefan: Meine Familie, meine Kinder und Enkelkinder. Es motiviert mich, etwas wiederherzustellen, das unsere Generation in der Vergangenheit zum Teil zerstört hat. Ich möchte am Ende sagen können, dass ich etwas getan habe, auf das ich stolz sein kann. Die nächste Generation soll auch noch gute Lebensbedingungen vorfinden. Ich klettere seit 45 Jahren. Für mich ist aber nicht nur der Sport wichtig, sondern auch die Menschen zu treffen, etwas über ihre Kultur zu erfahren und zu sehen, wie sich die Berge in den letzten 100, 1’000 oder 10’000 Jahren entwickelt haben. Ein gutes Leben bedeutet für mich, dass ich mit den Umständen, unter denen ich lebe, zufrieden bin. Es bedeutet auch genug Zeit für mich und für meine Familie zu haben – und eine gesunde Umgebung ohne Lärm und verschmutzte Luft.

Sofia: Ich bin in Mittelitalien nahe am Meer aufgewachsen. Für mein Studium bin ich nach Bologna gezogen. Ich habe immer in Städten gelebt. Als ich zum ersten Mal jemanden aus den Alpen traf, war das für mich wie eine Offenbarung. Die Menschen hier haben so eine hohe Lebensqualität – jeden Tag und nicht nur sonntags nach einer vierstündigen Autofahrt. Meine Motivation ist, diese Lebensqualität zu bewahren. Zum Beispiel gibt es selbst an entlegenen Orten in den Alpen immer mehr internationale Ladenketten anstelle von kleinen Geschäften – und ich möchte nicht, dass diese verschwinden.

Ihr lebt in unterschiedlichen Regionen in oder nahe der Alpen — welche Probleme und Herausforderungen erlebt ihr dort?

Stefan: In meiner Region ist das grösste Problem, dass grosse Städte wie München, Augsburg, Stuttgart und vielleicht auch noch Nürnberg vor den Alpen liegen. Weil dort sehr viele Menschen leben, gibt es einen immensen Freizeitdruck auf die Alpenregion, die nur wenige Autostunden entfernt liegt. München wächst zum Beispiel jedes Jahr um etwa 30’000 Menschen. Viele sind gekommen, weil die Alpen so nah an der Stadt sind und es eine fantastische Gegend ist zum Wandern, Radfahren, Klettern oder Skifahren.

Sofia: Im Vergleich mit der Region um München ist das Trentino sehr dünn besiedelt. Trotzdem haben wir ein Verkehrsproblem. Eine zweispurige Autobahn und eine Bahnlinie verlaufen durch das Etschtal, die Österreich, Venetien und den Rest Italiens miteinander verbinden. Es wird ständig über die Notwendigkeit diskutiert, die Autobahn und die Bahnstrecke auszubauen. Die Bevölkerung in der Region ist natürlich nicht glücklich darüber. Das zweite Problem in einigen Tälern im Trentino ist meiner Meinung nach der Druck, immer mehr Skipisten und andere Infrastruktur für den Tourismus zu bauen. Vor allem jetzt, wo die Olympischen Spiele von Mailand-Cortina 2026 in Italien anstehen.

Stefan: In Bayern ist das mit den Skipisten kein so grosses Problem, weil wir seit fast 30 Jahren eine Raumplanung haben, den «Alpenplan». Er unterteilt das Gebiet in drei Zonen und in der Zone C darf man keine neuen Seilbahnen oder Pisten bauen. Die meisten höher gelegenen Regionen liegen in der Zone C.

Heute ist natürlich die Klimakrise das grosse Thema. Welche UmweltThemen haben dich in deiner Jugend bewegt, Stefan?

Stefan: Vor 30 Jahren war das Waldsterben aufgrund der Luftverschmutzung das grösste Thema in Deutschland. Das Positive daran ist, dass die Industrie sauberer wurde. Wir haben aber auch gegen Atomkraftwerke demonstriert. Eine Sache war damals wohl anders als heute: Wenn man für Ökologie kämpfte, war man für viele Leute ein Linker, so etwas wie ein Kommunist. Es gab mehr Verbindungen zwischen politischen Strömungen und unseren ökologischen Ideen, die eigentlich absolut unpolitisch waren. Dabei wollten wir auch einfach nur eine gute Zukunft, ein besseres Leben, ein gutes Leben. Wir wollten dasselbe wie ihr heute. Als ich noch Biologie studierte, sagte einer unserer Professoren, dass wir ein grosses, weltweites Experiment erleben, indem wir immer mehr CO² produzieren. Als ich 20 war, wurde das also schon diskutiert und jeder wusste es.

Sofia, deine Generation wirft den Älteren Untätigkeit beim Klimaschutz vor. Was denkst du darüber?

Sofia: Ich stimme natürlich zu. Aber ich bin auch Wissenschaftlerin und sehe das vielleicht auch von einem eher wissenschaftlichen Standpunkt aus. Für mein Examen in Klimatologie habe ich die Geschichte des globalen Klimawandels studiert. Es ist verrückt, dass Wissenschaftler:innen vor 30, 40 Jahren schon darüber gesprochen haben und niemand etwas unternommen hat. Ja, meine Generation ist wütend auf die Älteren, aber besonders auf die Politiker:innen. Sie treffen die Entscheidungen und haben nicht auf die Wissenschaft gehört.

Was frustriert euch und was gibt euch Hoffnung, dass sich die Dinge doch noch zum Guten wenden?

Sofia: Es gibt so viele Leute, die sich mit diesen Themen beschäftigen. Wenn ich an die Menschen um mich herum denke, erkenne ich tatsächlich eine Veränderung in ihrer Denkweise. Viele meiner Freunde sind Vegetarierin oder Veganer. Viele stellen auch ihre Reisegewohnheiten in Frage und nehmen den Zug anstatt des Flugzeugs. Ich glaube nicht, dass vor drei oder vier Jahren jemand gesagt hätte: Nein, okay, ich fliege nicht mit diesem Fünf-Euro-Flug nach London. Ich glaube, dass zumindest in meiner Generation ein Umdenken stattgefunden hat.

Stefan: Einerseits bin ich frustriert, wenn ich zum Beispiel an die Corona-Pandemie denke und wie schwierig es ist, die Menschen zur Impfung zu bewegen. Obwohl es wissenschaftlich erwiesen ist, dass wir kein Problem mehr hätten, wenn 80 oder 90 Prozent der Bevölkerung geimpft wären. Beim Klimawandel ist es viel komplizierter zu verstehen, was da passiert. Wenn man Corona hat, wird man krank und bekommt hohes Fieber – man spürt es wirklich. Aber was sich da draussen verändert, das spürt man nicht direkt. Hoffnung gibt mir, dass es in den Köpfen der Menschen so etwas wie einen Kipppunkt gibt. Dann wird es normal, wenn viele Menschen ökologisch denken.

Sofia: Wenn man einmal einen bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung erreicht hat, dann wären diejenigen, die sich nicht ökologisch verhalten, in der Minderheit.

Stefan: Vor einigen Wochen habe ich einen Artikel in der Zeitung gelesen, in dem gefragt wurde, was Leute am ehesten dazu bewegt, ihren Lebensstil zu ändern. Das Ergebnis war: Es ist nicht das Wissen darüber, was Klimawandel bedeutet. Das soziale Umfeld ist das Überzeugendste. Wenn dein Nachbar seinen Lebensstil geändert hat und Vegetarier wird, mit dem Zug anstatt mit dem Auto fährt und so weiter, dann überzeugt dich das viel mehr als alles, was du selbst liest. Also muss es einen Kipppunkt geben, ab dem viele Leute sagen: Okay, dann mach ich es wie die anderen. So wie viele Leute heute noch ein grosses Auto fahren wollen. Vielleicht fühlt man sich in Zukunft besser, wenn man mehr Kilometer mit dem Fahrrad fährt als der Nachbar.

Was können oder sollten die Alten von den Jungen lernen und umgekehrt?

Sofia: Ihr habt die Zusammenhänge im Blick und selbst erlebt, wie sich die Dinge entwickelt haben.

Stefan: Wir können von euch jüngeren Leuten lernen, dass ihr mit neuen Lebensstilen experimentiert. Nicht nur beim Essen und Reisen, sondern auch beim Zusammenleben. Wir haben diese vielen Einfamilienhäuser produziert. In Zukunft müssen wir lernen, wieder in kleineren Einheiten zu wohnen, ähnlich wie in alpinen Dörfern. Da gibt es eine soziale Gemeinschaft. Das wird in Zukunft auch für Städte und grössere Gemeinden gelten, vieles entwickelt sich in diese Richtung.

Sofia: Damit würde man in gewisser Weise eine traditionelle Lebensweise neu aufgreifen.

Stefan: Vielleicht wird der persönliche Besitz von Dingen in Zukunft weniger wichtig als für meine Generation. So wie andere wichtige Punkte, beispielsweise mehr Raum für eigene Ideen und mehr Zeit zu haben. Vielleicht ist es heute nur ein kleiner Teil der jüngeren Menschen, die so leben, aber es sind jedenfalls schon viel mehr als zu meiner Jugendzeit.

Sofia: Ja, aber ich denke, dass ich vielleicht auch voreingenommen bin. Ich bin nicht sicher, wie viele tatsächlich so leben. Denn man neigt ja dazu, sich mit Personen zu umgeben, die der eigenen Denkweise nahe stehen. Zum Beispiel kenne ich viele junge Leute, die Vegetarier:innen sind. Das ist eine Frage, die mir manchmal in den Sinn kommt: Lebe ich in einer Blase oder nicht?

Ergänzt bitte abschliessend diesen Satz: Die Alpen in 70 Jahren sollten ...

Sofia: …autofrei sein, abgesehen von Elektroautos. Ich hoffe, dass es nicht noch mehr Strassen, Autos, Verkehr und Umweltverschmutzung geben wird. Stattdessen soll es in die andere Richtung gehen und wir versuchen, nachhaltigeres Reisen in den Alpen zu erreichen. Das ist in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Punkt, der Auswirkungen auf die Landschaft, die Luftverschmutzung, die Lärmbelästigung und den Umgang mit Tieren hat.

Stefan: Die Alpen sollen in 70 Jahren noch existieren (lacht). Und vielleicht gibt es noch etwas Eis auf höheren Bergen. Wir leben dann hoffentlich mit der Natur und nicht mehr gegen sie. Wir müssen die Gemeinschaft stärken, von Gesundheit über Bildung bis hin zu den Schulen. Es muss eine Veränderung in der Wertschätzung und in der Bezahlung für diese Bereiche geben. Und diese Dienstleistungen sollten auch in den Tälern abseits der Städte vorhanden sein. Die Menschen sollten in Bergregionen leben können, ohne zur Arbeit pendeln zu müssen.

 

Sofia Farina, 25, lebt in Trient/I und absolviert an der dortigen Universität ihr Doktoratsstudium in Umweltwissenschaft. Sie lernte die CIPRA im Rahmen des Projekts «Youth Alpine Interrail» kennen und ist nun Mitglied im CIPRA-Jugendbeirat. Seit 2021 ist sie als Jugendvertreterin im Vorstand der CIPRA.

Stefan Witty, 60, lebt in Utting am Ammersee/D und hat Biologie in Bayreuth/D studiert. Den ersten Kontakt zur CIPRA hatte er vor 30 Jahren im Rahmen seiner Arbeit beim Deutschen Alpenverein, später war er selbst als Geschäftsführer von CIPRA Deutschland tätig. Seit 2021 sitzt er als Vizepräsident im Vorstand von CIPRA International.