CIPRA Vertretungen:

Benutzerspezifische Werkzeuge

  Suchfilter  

News

Nachhaltige Entwicklung: Ein neuer Blick auf die Alpenstädte

06.12.2005 / Joëlle Salomon Cavin
"In wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen sowie in Natur- und Umweltbelangen spielen die Alpenstädte eine zentrale Rolle. Vor dem Hintergrund einer nachhaltigen Entwicklung ist es nötig, die Alpenstädte stärker in die Alpenpolitik einzubeziehen."
Diese Einleitung zur CIPRA-Jahrestagung zeigt deutlich, dass die zunehmende Beachtung des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung einen Bruch mit der bisherigen Betrachtungsweise der Verstädterung und der Beziehungen zwischen Stadt und Land bedeutet.
Wiewohl die Städte in der Alpenkonvention von 1991 noch gar nicht vorkommen, werden sie nun im Namen der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung stärker in die Alpenpolitik einbezogen. Diese Entwicklung wird auch in der Raumordnungspolitik des Bundes in der Schweiz sichtbar. Mit Blick auf eine nachhaltige Raumentwicklung wurde hier nämlich 2001 eine "Agglomerationspolitik" lanciert, während der Begriff "Stadt" im Raumplanungsgesetz von 1979 noch gar nicht erwähnt ist.
Inwiefern führt nachhaltige Entwicklung zu einer Weiterentwicklung des Bildes von der Stadt und davon ausgehend der Beziehungen zwischen Stadt und Land? Hier lassen sich drei Entwicklungslinien verfolgen.

Die Frage nach der Rolle der Stadt bekommt neue Substanz
Zunächst verleiht die nachhaltige Entwicklung der Frage nach der Rolle der Stadt wieder neue Substanz. Sowohl Alpenpolitik als auch Raumordnungspolitik hatten in erster Linie zum Ziel, ländliche Gebiete bzw. Naturräume vor den Attacken einer zerstörerischen Verstädterung zu schützen. Diese Verteidigungshaltung trug dazu bei, die urbane Realität im Raum auszublenden und die Städte aus den jeweiligen Politiken auszuklammern. Die Nichterwähnung der "Stadt" in der Alpenkonvention zeigt dies deutlich. Mit der Vorstellung, dass in der nachhaltigen Entwicklung die Städte mitenthalten sind, ist die Abwendung von einer negativen Betrachtung der Städte hin zu einer Sichtweise vollzogen, die auch Positives aufzeigt und die städtischen Gebiete ihrerseits als integrierenden Bestandteil des Alpenraumes und des Schweizer Territoriums ansieht. Indem sie sich auf ökologische ebenso wie auf soziale und wirtschaftliche Prinzipien beruft, kann eine Politik, deren Ziel die nachhaltige Entwicklung ist, ein Gebiet in dem mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung lebt (60% der Bevölkerung des Alpenraumes und 70% der gesamtschweizerischen Bevölkerung leben in städtischen Gebieten) nicht ausser Acht lassen.

Verbesserung des Stadtimages
Des Weiteren verbessert die nachhaltige Entwicklung das Image der Stadt. Insgesamt scheint die nachhaltige Entwicklung dem negativen Bild der Stadt als Aggressor gegenüber Natur und ländlichem Raum zu widersprechen, jenem Bild, das seit der industriellen Revolution in der kollektiven Vorstellungswelt ununterbrochen präsent war und in den Handlungsmustern im Raum sichtbar geworden ist1. Die traditionelle Darstellung von Stadt und Land, insbesondere in der Schweiz, aber auch in einer Reihe westlicher Staaten, entspricht einer Schwarzweissmalerei, die verkürzt und realitätsverzerrend einem absolut idealisierten ländlichen Raum ein feindselig gezeichnetes Bild der Verstädterung gegenüberstellt. Schlussendlich wurden das Bild der Stadt, ebenso wie jenes des Landes, von einer Wirklichkeit losgelöst, die weit komplexer ist. Diese Bilder sind beispielsweise abgekoppelt von der tatsächlichen Entwicklung der Urbanisierung, die zu einer Zunahme städtisch-ländlicher Hybridformen im Raum geführt hat. Bei der Idee der nachhaltigen Stadt geht es nun nicht darum, zu verkünden, die Verstädterung sei immer nur positiv - durchaus nicht - sondern einfach darum, auch die damit verbundenen Vorteile in den Blick zu nehmen und im Rahmen konkreter Projekte abzuschätzen, inwieweit sie zur Teilhabe an einer nachhaltigen Entwicklung befähigt ist. So wird die Verstädterung nicht mehr ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt der von ihr verursachten Umweltschäden, sondern auch als Quelle der wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwicklung der Schweiz und der Alpenregionen betrachtet.

"Versöhnung" zwischen Stadt und Land
Nachhaltige Entwicklung gibt schliesslich den Anstoss zu einer ganzheitlichen Betrachtung des Raumes, die dessen gesamte ökologische, soziale und ökonomische Komplexität miteinschliesst: die Beziehung Stadt-Land wird neu gedacht - nicht mehr als Gegensatz, sondern als komplexes System von Wechselbeziehungen. Damit führt sie zur "Versöhnung" zwischen Stadt und Land im Rahmen eines Modells, das die Beziehungen und den notwendigen Zusammenhalt zwischen Räumen in den Vordergrund stellt und nicht deren Gegensätzlichkeit.

1 Vergl.: J. Salomon Cavin, La ville mal-aimée, PPUR, 2005