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Warum der Tourismus den Naturschutz (noch) braucht

14.09.2017
Tourismus und Naturschutz sind oft im Konflikt. Und doch aufeinander angewiesen. Gibt es in ferner Zukunft einen dritten Weg, der Schutzgebiete überflüssig macht?
Auf der Suche nach Abenteuer, Naturerlebnis und sportlicher Herausforderungen: Naturnaher Tourismus im regionalen Naturpark Baronnies Provençales, Frankreich. © Parc naturel régional des Baronnies provençales
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Auf der Suche nach Abenteuer, Naturerlebnis und sportlicher Herausforderungen: Naturnaher Tourismus im regionalen Naturpark Baronnies Provençales, Frankreich. © Parc naturel régional des Baronnies provençales

Skigebietserweiterungen vervielfachen sich: Riedberger Horn in Deutschland, der Bereich les Vans in Chamrousse oder das Vallon du Lou in Saint Martin de Belleville, Frankreich. Hinzu kommt das Scheitern des Nationalparkprojekts Adula in der Schweiz (siehe unten): Die Landschaften und Naturräume der Alpen befinden sich wieder einmal im Brennpunkt wirtschaftlicher, ökologischer und gesellschaftlicher Interessen. Das ist nichts Neues für den dicht besiedelten und touristisch am stärksten genutzten Hochgebirgsraum der Welt. Was neu ist, ist die Mediatisierung der Konflikte über die lokalen, regionalen und sogar nationalen Grenzen hinaus.

In diesem Gefüge von Interessen und Überzeugungen prallen zwei unterschiedliche wirtschaftliche Modelle aufeinander: Das eine Modell baut traditionell auf der (sektoralen) Trennung von Tourismus und Naturschutz auf, mit der wirtschaftlichen Wertschöpfung als oberstem Ziel. Mit Strömungen wie der Green economy und des naturnahen Tourismus und deren Interpretation erhält dieses auf (kurzfristigem) Wachstum basierende Modell seit einigen Jahren neue Möglichkeiten. Es geht darum, die natürlichen und kulturellen Ressourcen zu schonen und gezielt für den Tourismus zu nutzen. Ein gänzlich anderes Modell kann heute in zahlreichen lokalen Initiativen beobachtet werden. Diese Strategien rücken das langfristige Wohl von Mensch und Natur in den Mittelpunkt aller heutigen wirtschaftlichen Bestrebungen und stellen die alleinige touristische Orientierung der Wirtschaft in Frage.

Im ersteren, weit verbreiteten Modell versuchen die wirtschaftlichen AkteurInnen, den Veränderungen am Markt mit bewährten Geschäftsmodellen und damit verbundenen Produkt-Innovationen zu begegnen. Im Zentrum steht die Inwertsetzung von alpiner Natur, Kultur und Landschaft und ihren Ökosystemdienstleistungen für Einheimische und Gäste. Deren Konsum soll wirtschaftlichen Mehrwert generieren. Für die Alpenregionen bedeutet das Wachstumsorientierung, teils extremer interregionaler Wettbewerb zwischen Destinationen und das Bedürfnis nach kontinuierlicher (technischer) Innovation.

Der Markt bestimmt

Im naturnahen Tourismus geht es darum, durch neue Angebote und Leistungen potenzialstarke Marktsegmente zu erschliessen, z. B. die «Silver Agers» oder die «Generation Y». Das wirtschaftliche Potenzial des naturnahen Tourismus wird als sehr gross eingeschätzt, da er die aktuellen Bedürfnisse und emotionalen Wünsche der urbanen Gesellschaft nach Abenteuerlust, sportlicher Leistung oder Freiheit, aber auch nach Entschleunigung, Gesundheit und Rückkehr zur Natur anspricht. Nicht jede Alpenregion verfügt allerdings über dasselbe naturtouristische Potenzial. Der naturnahe Tourismus ist daher nicht das Allheilmittel für peripher-ländliche Alpenregionen, als den er von vielen gesehen wird.

Den über 1’000 alpinen Schutzgebieten kommt in den aktuellen, auf Wachstum basierten Strategien eine entscheidende Rolle zu. Sie schützen den Naturraum vor (zu) starken wirtschaftlichen, infrastrukturellen und touristischen Einwirkungen und garantieren damit die Bereitstellung der natürlichen und kulturellen Alleinstellungsmerkmale für die touristische Vermarktung und Nutzung (Schlagwort «Unique Selling Proposition»). Auch wenn der naturnahe Tourismus weniger investitions-, ressourcen- und infrastrukturintensiv ist, so muss auch dort ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Schutz und Nutzen ausgelotet werden. Gegenwärtige Trends und neue Angebote könnten zu Massenphänomenen werden, wie zum Beispiel in den letzten Jahren das Skibergsteigen.

Gemeinwohl im Fokus

Mancherorts in den Alpen keimt ein anderes wirtschaftliches Modell auf: Lokale Initiativen überbrücken die sektorale Trennung von Tourismus und Naturschutz. Sie begegnen aktuellen Herausforderungen mit einer weitsichtigen, ethisch respektvollen Sicht auf Natur, Wirtschaft und lokale Gemeinschaften. Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht das Gemeinwohl (siehe Seite 10). Dabei gibt es kein allgemeingültiges und übertragbares Modell für Entwicklung, sondern eine Vielfalt von lokalen, demokratischen und partizipativen Ansätzen und Prozessen. Für den Tourismus heisst das, Vermarktung und Angebotsentwicklung zu entschleunigen, aber auch an Bedeutung zu verlieren zu Gunsten anderer Wirtschaftszweige. Eine solche gesellschaftliche Transformation könnte Schutzgebiete in (ferner) Zukunft entbehrlich machen. Allerdings wird die Verbreitung des Gemeinwohl-Modells vor allem dadurch gehemmt, dass Leistungen und Effekte heute generell an den Indikatoren des herkömmlichen Wachstumsmodells gemessen werden, wie z. B. die Anzahl der Nächtigungen. Daher vermag es bisher nur vereinzelt politisch zu überzeugen.

Dominik Cremer-Schulte, Alparc

Parc Adula: Gescheitert oder Etappenziel?

Im November 2016 haben sich acht von 17 Tessiner und Bündner Gemeinden gegen das Projekt eines zweiten Schweizer Nationalparks ausgesprochen. Er hätte als erster demokratisch legitimierter Nationalpark weltweit Geschichte schreiben können. Am Ende fehlten aber Mehrheiten vor allem in den Gemeinden mit Kernzonen-Anteil. 16 Jahre intensiver Vorbereitung waren damit zunichte. Dominiert haben in der 14’000 EinwohnerInnen zählenden Region um den Piz Adula Ängste vor Einschränkungen, vor Bevormundung, vor Veränderung. Als partizipatives Projekt war der Parc Adula sowohl Initiative als auch Instrument aus der Zukunft, in dem ein neuer, voluntaristischer Naturschutz von Seiten der Einheimischen hätte zum Ausdruck kommen sollen. Das Projekt scheiterte an seinem Label und an Vorstellungen von gestern. Doch das Votum kann als Etappe eines langen Prozesses gesehen werden, in dem sich das gesellschaftliche Verständnis vom Verhältnis zwischen Natur und Wirtschaft wandelt.

www.umweltgeschichte.uni-klu.ac.at