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Zukunftsperspektiven für "unrentable" Räume - Die alpine Peripherie aus ökonomischer Sicht

28.11.2007 / Martin Boesch
Alpenwelt - heile Welt? Mitnichten: Die Welt ist ein Dorf im Zeitalter der Globalisierung, und die Regeln der ökonomischen Weltordnung haben selbst in den hintersten Winkeln Einzug gehalten. Noch fehlen soziale und ökologische Leitplanken für eine gerechte, nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Überholte Theorien, realitätsfremde Konzepte und vor allem die verschiedensten Eigeninteressen verhindern eine gedeihliche und auch regional ausgewogene Entwicklung.
Tenna
Bild Legende:
Noch gelten in der Wirtschaft die Spielregeln der Metropolen - durch erfolgreiche naturnahe Entwicklungskonzepte von Peripherien könnte sich der Wind drehen. Im Bild: Tenna im Safiental, Schweiz. © Christoph Püschner/Zeitenspiegel
Die Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrzehnte hat entgegen den Erwartungen - und Versprechungen - nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer erzeugt. Dies gilt nicht nur für Personen und Gruppen, wie zum Beispiel die "Working Poor", sondern vor allem auch für Regionen, Länder und ganze Erdteile. Die UNDP (United Nations Development Programme)-Statistiken belegen dies auf eindrückliche Weise.
Es ist die Rede von einer "globalen Spaltung", von einer Entwicklung mit "zwei Geschwindigkeiten". Auf den ersten Blick scheint der wirtschaftliche Fortschritt von der Verfügbarkeit neuer Technologien - besonders im Informations- und Kommunikationssektor - abhängig zu sein. Als Lösungsansatz wird daher ein massives Technologie-Transferprogramm vorgeschlagen. Ein zweischneidiges Schwert, wie sich bei genauerer Betrachtung offenbart.

Globalisierungs-Argumente von vorgestern
Wenn Globalisierungsideologen von einer win-win-Konstellation durch globale Arbeitsteilung sprechen, belegen sie dies mit dem altbekannten Argument von den "komparativen Vorteilen", das sich auf das zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte so genannte Ricardo-Modell stützt. Dieses besagt, dass die Arbeitsteilung für jeden Partner von Nutzen sei. Denn Kapital und Arbeit - bzw. der Boden im Falle landwirtschaftlicher Produktion - würden überall produktiver eingesetzt. Bei dieser Argumentation wird aber unterschlagen, dass unter den aktuellen Rahmenbedingungen erhöhter bis vollständiger Faktor-
mobilität das Ricardo-Modell gar nicht mehr anwendbar ist. Faktormobilität heisst, dass die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit nicht standortgebunden sind, sondern sich nach dem Gefälle von Produktivitäts- und Renditegewinnen richten und überall hin "davonfliessen", das heisst den "unrentablen" Räumen total entzogen werden. Ja, das gilt selbst für den Boden, wandert doch die bodenbewirtschaftende, also landwirtschaftliche Produktion in jene Regionen ab, welche die höchste Produktivität aufweisen. Im Unterschied zum Ricardo-Modell geht es also heute oft nicht mehr darum, die vergleichsweise beste Produktion zu wählen, sondern es geht um alles oder nichts. Die "Neue Wachstumstheorie" zeigt zudem auf, dass gerade Technologie-Innovationen nicht zu Konvergenzprozessen, d.h. zum Abbau von Produktivitäts- und Wohlstandsunterschieden zwischen Regionen führen. Denn technologische Innovationen haben gerade den Zweck, die Produktivität immer wieder neu anzuheben - und sie werden meist zuerst in Wachstumszentren eingesetzt.

Globalisierungsmodell mit Konstruktionsfehlern
Das dargelegte systematische Ungleichgewicht zu Lasten der Peripherie wird durch zwei weitere "Konstruktionsfehler"
des angeblichen Erfolgsmodells "Globalisierung" zusätzlich verstärkt.
Die kapitalistische Dynamik der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts erfuhr nach über hundert Jahren zäher Auseinandersetzungen mit der Herausbildung einer öko-sozialen Marktwirtschaft schliesslich eine erfolgreiche "Zähmung". Diese wird nunmehr auf globaler Ebene und sozusagen top-down wieder unterlaufen. Die WTO zum Beispiel fühlt sich ausschliesslich für die ökonomische Perspektive zuständig. Gleichzeitig wird verhindert, dass sich parallel zur wirtschaftlichen auch eine griffige soziale und ökologische Weltordnung aufbaut, um den Marktkäften eine Leitplanke zu bieten. "Dank" der WTO-Regeln geraten nationale und regionale Umwelt- und Sozialnormen unter Druck oder werden gar ausser Kraft gesetzt - dies im Interesse der Investitions-Sicherung und Rentabilitätsmaximierung.
Der ökonomistische Jargon subsummiert diese Problematik beschwichtigend unter dem Stichwort "Externalitäten" und verspricht deren Sanierung durch die so genannte Internalisierung, ein Beispiel ist das System des "Road Pricing". Die umwelt- und sozialpolitische Erfahrung der letzten Jahrzehnte macht allerdings deutlich, dass diese Internalisierungsstrategien bloss als reine Hinhalte- und Ablenkungsmanöver dienen. Besonders eindrücklich zeigt sich das in der fruchtlosen Debatte um marktwirtschaftliche Instrumente in der Umweltpolitik. Zudem wurden staatliche Regulationen systematisch als grundsätzlich verwerflich dargestellt. Mit Erfolg: Fast unisono wird inzwischen die Frage "Wollt ihr den Totalen Markt?" in der breiten Öffentlichkeit bejaht.

Wer hat, dem wird gegeben
Der zweite Problemkreis der Globalisierung entsteht dadurch, dass sich die "global players" selbst nicht an die Spielregeln des von ihnen favorisierten neoliberalen Kapitalismus halten, sondern diese zu ihren Gunsten unterlaufen. Was in der reinen Theorie perfekt funktioniert - vollkommene Information, vollkommene Konkurrenz, unverzügliche Anpassungsprozesse -, hält schon pragmatischer Beurteilung nicht stand und gerät durch menschliche Unzulänglichkeit und Alltäglich-Banales erst recht ins Trudeln. Es ergeben sich natürliche Asymmetrien, zum Beispiel durch Informationsvorsprünge. Diese führen in der Regel zu einer systematischen Bevorteilung der Gewandten, Raschen und Wendigen und benachteiligen "Otto Normalverbraucher". Auswüchse wie Insider-Geschäfte im Wertschriften- und Kapitalverkehr veranschaulichen diese Mechanismen besonders deutlich.
Mit dem Begriff "Marktversagen" suggeriert der neoliberale Kapitalismus, dass das - theoretische - Konzept schon funktionieren würde, wenn bloss das rückständige, gar widerborstige Alltagsleben endlich markttauglich würde. Also frei nach Brecht: "Es kann nicht sein, was nicht sein darf!"
Angeblich wird nun diesem Misstand "Marktversagen" auf den Leib gerückt, zum Beispiel durch wettbewerbsrechtliche Einschränkungen der Monopole und Kartelle. Aber auch hier zeigt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass eigentlich die gegenteiligen Prozesse ablaufen. Die "global players" (wie zum Beispiel Microsoft oder Halliburton) tendieren keineswegs zu vollkommener Konkurrenz, sondern versuchen im Gegensatz dazu, marktbeherrschende Positionen zu erringen, so dass sich quasi-natürliche Monopole entwickeln. Wirklich erfolgreiche Unternehmen wenden dieses Erfolgsrezept inzwischen geradezu virtuos an.
Ähnlich steht es mit dem Postulat der Transparenz: Informationspflicht und Offenlegungsvorschriften (zum Beispiel im Lebensmittel-Sektor) werden von den Wirtschaftsverbänden gerne als ungebührliche, ja schädliche staatliche Einmischung dargestellt, nach Möglichkeit verhindert oder dann ignoriert. Auf diese Weise können normale, alltagsweltliche Asymmetrien massiv verstärkt werden, was die eingangs erwähnte globale Spaltung weiter vorantreibt.

Markt und Politik: Seite an Seite
für eine Zukunft der Randregionen

Aus diesen Überlegungen lässt sich das Fazit ziehen, dass Marktkräfte allein nicht zu einer ausgewogenen Entwicklung führen, sondern im Gegenteil Ungleichgewichte erzeugen. Die Peripherie gehört dabei in der Regel zu den Beeinträchtigten. Hier müsste die Politik dafür sorgen, dass die entsprechenden Leitplanken errichtet werden. Die Zukunft peripherer Regionen ist also auch ein Abbild des politischen Willens. Dabei bestimmt der Ressourceneinsatz, wohin der Weg gehen soll. Klar festzuhalten ist: Markt und Politik müssen sich ergänzen. Regionalpolitische Akzente sind zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingungen für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen.

Standortwettbewerb und Regionalpolitik
Jede Region ist vor die Frage gestellt, wie sie mit den oben dargelegten ökonomischen bzw. wirtschaftspolitischen Mechanismen umgehen soll. In vorher nicht gekannter Schärfe entfaltet sich ein Standortwettbewerb um die Gunst der Investoren, Unternehmen und Haushalte. Der Wettbewerbsdruck kann zur echten Bedrohung einer Region werden. Er wird aber auch als Vorwand für Konzessionen der öffentlichen Hand gebraucht, die nicht nötig, sondern reines Entgegenkommen sind. Gefordert ist hier eine Regionalpolitik, die den Handlungsspielraum zugunsten der öffentlichen Interessen besser als bisher wahrnimmt. Doch sucht jede Region - auf sich selbst gestellt - automatisch pragmatische und endogene Lösungen. Schliesslich gilt ein Standort dann als attraktiver als seine Konkurrenten, wenn er bei den Leistungen zulegt oder zumindest den bisherigen Standard hält, bei Steuern und Abgaben den Privaten möglichst weit entgegenkommt sowie Infrastruktur und Dienstleistung im öffentlichen Interesse möglichst günstig zur Verfügung stellt - am besten zum Nulltarif. Da alle Regionen das gleiche Rezept anwenden, geraten sie in einen "Wettlauf nach unten", bei dem immer neue Vorteile angeboten werden.
Es ist evident: Diese Strategie der Ausschöpfung sämtlicher Reserven muss zu einer ansteigenden Verschuldung führen. Auf dem Weg dahin findet eine wachsende Umverteilung von unten nach oben statt. Dabei werden Leistungen abgebaut, die im globalen Standortwettbewerb weniger entscheidend scheinen, insbesondere also die so genannten "weichen" Standortfaktoren wie der gesellschaftliche Zusammenhalt oder die Umweltqualität. Gleichzeitig sinkt natürlich auch die Bereitschaft für sozial- oder regionalpolitisch bedingte Ausgleichsprozesse. Denn es sollen ja die Starken gestärkt, nicht die Schwachen gefördert werden. Im Wettbewerb zwischen Metropolen und Peripherie schwindet die Solidarität immer mehr.
In dieser Konstellation verschieben sich die Standortkosten zulasten der Peripherie und zugunsten der Metropolen. Die unterschiedlichsten Transferleistungen in die Peripherie werden abgebaut. Die Verdichtungsgebiete hingegen können weiterhin von Externalitäten profitieren. Sukzessive entstehen damit "unrentable" Räume. Neben den privaten Investoren hält sich auch die öffentliche Hand immer stärker zurück.

Für einmal umgekehrt: die Peripherie als Motor für Erneuerungen
Die Regionalpolitik ist damit vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Bei deren Lösung sollte sie die neueren regionalwissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen. Wie oben dargelegt, führt eine reine Förderungsstrategie, verbunden mit der Hoffnung auf sog. "spill-over"-Effekte (das sind Ausbreitungseffekte in die weitere Umgebung), nicht mehr zum Ziel. Zudem muss der Einsatz der - immer knapper werdenden - öffentlichen Mittel in Zukunft fokussierter erfolgen und besser begründet werden; ohne klare Leistungsaufträge werden Nettozahler kaum mehr zu Transferleistungen bereit sein. Falls an die Transferleistungen die Verpflichtung zu einer nachhaltigen Regionalentwicklung geknüpft wird, könnten sich trotz Marktverzerrungen Modellregionen mit zukunftsfähigen Strukturen entwickeln. Wenn möglich, sollten die verschiedenen Projekte vernetzt werden, was ihre Erfolgsaussichten steigern würde. Das langfristige Ziel einer solchen Strategie wäre es, aus diesen regionalen Ansätzen heraus eine neue öko-soziale Marktwirtschaft mit nachhaltigen Perspektiven zu entwickeln. Das heisst, dass für einmal die Spielregeln für die Metropolen von der Peripherie her beeinflusst würden - in Richtung "Nachhaltigkeit".

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Die Stallinger-Story - ein Lehrstück
Im Sommer 2007 hat der österreichische Holzkonzern Stallinger sein neues Grosssägewerk bei Chur im Bündner Rheintal/CH in Betrieb genommen. Gegen 100 Mio. CHF sind hier in den letzten zwei Jahren investiert worden, rund 120 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Das Vorhaben ist gut angelaufen, die geplante Einschnittkapazität von 600'000 m3 Rohholz gilt bereits als überholt und soll auf gegen 1'000'000 m3 gesteigert werden. Aber einheimisches Holz macht gemäss Schätzungen nur 250'000 m3 der Produktion aus. Das übrige Rohmaterial wird aus einem weiten Einzugsgebiet zugekauft. Das anfallende Schnittholz wiederum wird zu über 90 % exportiert, einerseits nach Vorarlberg, ins konzerneigene Plattenwerk, anderseits in den Nahen Osten, die USA und nach Australien. Viele Transporte erfolgen ab Werk auf der Schiene. Ein Teil des Restholzes wird vor Ort für die Energiegewinnung verwendet.
Der Standortkanton Graubünden und die Standortgemeinde Domat/Ems haben alles unternommen, um diese Ansiedlung realisieren zu können: Die Liste umfasst Förderbeiträge in zweistelliger Millionenhöhe - ein Grossteil der zur Verfügung stehenden Mittel der staatlichen Wirtschaftsförderung -, Sondergenehmigungen, Steuerbefreiung, Landabtretung, etc.

Die Auswirkungen auf die dezentrale, regionale Wald- und Holzwirtschaft sind unterschiedlicher Art:

- Die Waldbesitzer profitieren von attraktiven Abnahmepreisen, sofern ihr Stammholz den Anforderungen Stallingers genügt. Kleine Waldbesitzer schliessen sich zusammen, um die geforderten Losgrössen liefern zu können. Der Einschlag wird zunehmend aus der bäuerlichen Nebenerwerbstätigkeit in grössere professionelle Holzernte-Unternehmen ausgelagert. Das heisst: die Rohstoffernte in der Peripherie steigt zwar an, aber ein grosser Teil der damit verbundenen Wertschöpfung fliesst aus der Region ab.

- Die kleinen Dorfsägereien und Zimmereien verlieren ihre angestammte Arbeit, weil sie gegenüber der industriellen Massenproduktion auf High-Tech-Anlagen nicht konkurrenzfähig sind. Ihnen bleiben Gelegenheitsarbeit, kleine Lose und Sondersortimente (z.B. Lärchenholz), die für Stallinger nicht interessant sind.

- Das Holz verarbeitende Gewerbe (inkl. Baugewerbe) profitiert im Standardsortiment von günstigen Lieferbedingungen ab Werk; in peripheren Lagen ist aber mit erheblichen Transportkosten zu rechnen. Es ist anzunehmen, dass mit der Zeit am Standort Chur ein Holzindustrie-Cluster mit verschiedensten vor- und nachgelagerten Branchen entstehen wird. Möglicherweise ergeben sich auch Synergien mit der ansässigen Ems-Chemie.

Fazit
- Investitionen sind der Motor der Entwicklung. Sofern die Impulse stark genug sind, entstehen am gewählten Standort ganze Produktions-Cluster.

- Investoren entscheiden auf Grund der Wettbewerbssituation auf globaler Ebene. Der Staat fördert diese Entwicklung, um sich im internationalen Standortwettbewerb behaupten zu können.

- Tendenziell erfolgt eine Verlagerung der Produktion an zentrale, gut erschlossene Standorte, meist verbunden mit einem Technologiesprung. Dadurch werden in der Peripherie die noch bestehenden bescheidenen Wertschöpfungsmöglichkeiten reduziert.

Durch die Brille der ökonomischen Logik betrachtet, scheint dieser Prozess vernünftig, denn er bringt der gesamten Wirtschaft und dem Staat nur Vorteile. Dabei muss man sich aber bewusst sein, dass unter massivem Einsatz von öffentlichen Mitteln Grossstrukturen in den Zentren gestärkt und Kleinbetriebe in der Peripherie geschwächt werden.