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Cyberspace auf der Alm, Kulturfeste und Tauschbörsen - Bildungsprojekte und Kulturzentren fördern den Zusammenhalt

20.03.2007 / Swantje Strieder
Der Staat zieht sich zurück und die sozialen Strukturen weichen auf: Die Bürgerinnen und Bürger müssen selbst zupacken und sich organisieren, um Entscheidungen vor Ort zu bewegen.
ICT Centrum Polo Poschiavo
Bild Legende:
Poschiavo in Graubünden/CH wartet für seine Bürger mit einem hochmodernen Kompetenzzentrum auf, in dem durch Videokonferenzen, Sprach-, Berufs- und Computerkurse länderübergreifende Weiterbildung gefördert wird. Cassiano Luminati
Obwohl rund 60 Prozent der Alpenbevölkerung in städtischen Gebieten lebt, ist das Image der Alpen immer noch von der Sehnsucht nach einer heilen Bergwelt geprägt. Dabei haben die meisten Alpenregionen in den letzten Jahrzehnten einen enormen demographischen, sozioökonomischen und kulturellen Wandel durchgemacht. Die drastischen Veränderungen beruhen teilweise auf Faktoren, die heute überall anzutreffen sind, wie Modernisierung, Globalisierung, verstärkte Mobilität und Kommunikation durch Informationstechnologien wie Handy und Internet:

o Die Bevölkerung der Alpen ist von 1950 bis 2000 von 10,8 auf 14,3 Millionen Menschen gestiegen. Die Wachstumsrate von 32 % ist grösser als die allgemeine Bevölkerungsentwicklung der Alpenländer (26 %). Das ist ein Zeichen für die hohe Attraktivität des Standorts Alpen.

o Trotz des allgemeinen Bevölkerungszuwachses gingen jedoch in fast der Hälfte aller Alpengemeinden die Einwohnerzahlen zwischen 1950 und 1980 zurück. Besonders betroffen sind die Regionen Piemont (I), Friaul (I), Sud Dauphiné (F) und Haute Provence (F) sowie einige Gebiete Graubündens, der Steiermark und Niederösterreichs, wo sogar in 80 Prozent der Gemeinden die Einwohnerzahlen sanken. Zwischen 1981 und 2000 wanderte noch in fast einem Drittel der meist abgelegenen Gemeinden die Bevölkerung ab. Die Abwanderung war bisweilen so gross, dass sich ganze Dörfer leerten und man in vielen Tälern kaum noch von einer "lokalen Gesellschaft" sprechen konnte.

o Andererseits verzeichneten die meisten Städte und grossen Täler sowie die Touristikzentren einen beträchtlichen Bevölkerungszuwachs. Dadurch hat sich die soziale Struktur dramatisch verändert. Das hat sowohl zu positiver sozialer und politischer Dynamik als auch zu Konflikten geführt, wie in vielen Stadtrand-Gemeinden, wo Einheimische und Zuwanderer in Fragen der Raum- und Umweltpolitik häufig unterschiedliche Ansichten vertreten. In zahlreichen Skigebieten kam es zwischen der alteingesessenen Bevölkerung, die vom Tourismus lebt, und den NeueinwohnerInnen und ZweitwohnungsbesitzerInnen zu politischen und sozialen Auseinandersetzungen über den weiteren Ausbau des Fremdenverkehrs.

Die meisten Alpenstaaten haben eine wechselhafte Politik betrieben: zunächst subventionierten sie die Berggebiete, dann setzten sie auf Dezentralisierung, um den bedrohten Gemeinden und Regionen einen grösseren Handlungsspielraum einzuräumen, wobei sie sich allerdings aus manchen ihrer hoheitlichen Aufgaben zurückzogen. In der Schweiz, in Italien und Frankreich wurden auf die Berggemeinden zugeschnittene Gesetze verabschiedet; in Österreich wurden Sonderprogramme für Bergbauern und zur allgemeinen regionalen Entwicklung aufgelegt. Diese Massnahmen hatten insgesamt einen positiven Einfluss auf die soziale Handlungsfähigkeit der Bevölkerung, die aufgefordert wurde, sich Gedanken über ihre Entwicklung zu machen und entsprechend zu handeln.

Insgesamt aber sind die Alpen weiter durch starke Gegensätze geprägt: Strukturschwäche und Abwanderung mit Auflösung der sozialen Bindungen einerseits und andererseits hohe Attraktivität, sprich Übernutzung und Überbelastung, die den sozialen Zusammenhalt ebenfalls gefährden. Deshalb fordert die CIPRA die Schaffung regions- und sektorenübergreifender Plattformen, Projekte und Partnerschaften, die der Solidarität und der sozialen Handlungsfähigkeit der Bevölkerung neue Dynamik verleihen. Die CIPRA beobachtet ausserdem eine Vorherrschaft von Männern in der Alpenpolitik. Die gesellschaftliche Rolle der Frauen ist vielerorts nicht ausreichend anerkannt. Die CIPRA fordert eine alpine Entwicklung, in der Frauen stärker in Wirtschaft, Kultur und Politik vertreten sind, vor allem auch auf Entscheidungspositionen.

In seiner Untersuchung hat sich das von der CIPRA beauftragte ExpertInnen-Team vor allem mit drei Fragen beschäftigt:

o Was veranlasst die Menschen jenseits von wirtschaftlichen und landschaftlichen Aspekten, in die Alpen zu ziehen oder dort weiterhin zu leben?

o Wie wirken sich die Veränderungen des sozialen Gefüges auf die nachhaltige Entwicklung aus?

o Wie kann die soziale Handlungsfähigkeit des Einzelnen und der Gemeinschaft gefestigt werden?

Attraktivität und Handlungsfähigkeit sind zwei voneinander unabhängige Phänomene
Die Attraktivität eines Standorts hängt nach Meinung der ExpertInnen nicht in erster Linie von der sozialen Handlungsfähigkeit ab, sondern sie wird vor allem durch Beschäftigungsperspektiven und Unternehmenschancen, Zugänglichkeit und Umweltqualität bestimmt. So ist die Attraktivität der Alpen für Unternehmen, Einzelpersonen und Familien nur selten mit der gesellschaftlichen Dynamik verbunden, die die meisten gar nicht kennen oder kaum berücksichtigen.
Dagegen wird die Handlungsfähigkeit stark durch den sozialen Zusammenhalt, das soziale Kapital und die Gemeinschaftsinteressen der Bevölkerung bestimmt. Die wirtschaftliche Entwicklung der Alpen und der Wettbewerb zwischen den Akteuren und Gemeinden haben den sozialen Zusammenhalt und die Gemeinschaftsinteressen häufig untergraben.
In diesem Zusammenhang ist besonders auf zwei Dinge zu achten:
o Die abgelegenen und dünn besiedelten Gebiete müssen durch moderne Kommunikationstechnologien zugänglich und mit der Aussenwelt verbunden bleiben und bereit sein, das soziale Kapital der BewohnerInnen zu entwickeln.
o In den attraktiven Regionen muss ein intensiver sozialer Austausch zwischen Neubürgern und Alteingessessenen, Tourismusgegnern und -befürwortern stattfinden. Die Bewohner sollten sich nicht in die eigenen sozialen Gruppen zurückziehen.

Zusammenleben von ZuzüglerInnen und PendlerInnen
Die von der CIPRA beauftragten ExpertInnen sehen in der "Urbanisation" der Alpen eine erste soziale Herausforderung: das Wachstum der Städte und die Zuwanderung in den Tourismusorten und Dörfern im Umkreis von einer Autostunde von den grossen Alpenstädten (München, Turin, Mailand, Wien u.a.) führen zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen in den betroffenen Gebieten. Bei den Einheimischen kann der Zuzug neuer Familien durchaus eine Quelle von Stolz nach dem Motto "So schön ist's halt bei uns" sein und zu mehr Vielfalt und Aufgeschlossenheit nach aussen führen. Aber es entstehen nicht zwangsläufig enge Beziehungen zu den alteingesessenen Familien. Die Herausforderung besteht also darin, dafür zu sorgen, dass die BewohnerInnen der Alpenstädte und -gemeinden ihre Ideen und Projekte miteinander diskutieren, dass sie sich mit dem Erhalt und der Entwicklung ihres sozialen, kulturellen, natürlichen und wirtschaftlichen Umfeldes auseinandersetzen.
Durch den Zuzug steigt jedoch auch die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt. Kinder aus den alteingesessenen Familien bekommen vielerorts Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche. Die ExpertInnen schlagen deshalb vor, dass die Gemeinden Immobilienspekulationen, wie sie in bestimmten Alpengebieten (zum Beispiel in Frankreich) verbreitet sind, stärker kontrollieren und günstiges Bauland und Kredite für junge Familien bereitstellen.

Massnahmen gegen den Brain Drain
Die ExpertInnen stellen fest, dass aus den Abwanderungsgebieten vor allem junge Fachkräfte wegziehen. Man spricht in diesem Fall von Brain Drain oder Abzug von Wissen. In den Schweizer Kantonen Wallis und Uri beträgt er in einigen Altersklassen bis zu 70 Prozent. Graubünden verliert durch die Abwanderung von jungen Frauen und Männern etwa 13 Millionen Schweizer Franken pro Jahr, was dazu führt, dass viele öffentliche Dienste wie Kindergärten, Schulen und Arztpraxen nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Dabei würden viele AlpenbewohnerInnen gerne an ihrem Geburtsort bleiben, wenn es nur vernünftige Perspektiven gäbe.

Ausverkauf von Traditionen durch den Tourismus
Eine starke kulturelle Identität wird gemeinhin als wichtiger Faktor für sozialen Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit sowie als Allheilmittel gegen Isolation, Einsamkeit und die Anonymität des modernen Lebens gesehen. Eine solche starke Identität wird häufig den Alpengebieten und vor allem den Tourismusregionen zugeschrieben, wo durch die Vermarktung von Folklore und lokalem Handwerk die Verbundenheit mit den Wurzeln demonstriert wird.

Die AutorInnen warnen jedoch vor diesem nostalgischen Konzept und dem Ausverkauf der Traditionen durch den Tourismus, der zu einer folkloristischen Scheinidentität führen könne.
Auf der anderen Seite gibt es auch positive Beispiele zur Förderung der einheimischen Kultur und Traditionen, die zum sozialen Austausch beitragen und zum Nachdenken über gemeinsame Projekte anregen: Nicht umsonst gehört das Kultur-Festival Rigodonaïres in den französischen Alpes Sud-Isère zu den CIPRA-Vorzeigeprojekten (siehe unten).

Soziales Engagement fördern
Häufig ist in den Alpengemeinden der Zusammenhalt in der Grossfamilie der angespannten Situation der Kleinfamilie gewichen, sodass gerade in abgelegenen Gegenden kaum Zeit für soziale Aktivitäten bleibt. Dazu kommt, dass der Staat seine Dienstleistungen immer mehr zurückschraubt, was besonders junge Familien, Arbeitslose und ältere Menschen zu spüren bekommen. Kindergärten, Schulen und Sportstätten können nicht mehr unterhalten werden, das Postamt, der Tante-Emma-Laden, die Arztpraxis und das Krankenhaus schliessen, Geschäfte und Gasthöfe öffnen nur noch zur Touristensaison. Initiativen zur Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Austausches auf lokaler (wie etwa der Tauschkreis Vorarlberg und das Kempodium in Kempten) oder regionaler Ebene können die Lücken zumindest teilweise schliessen.

In einer Zeit, in der der Staat sich zurückzieht und die sozialen Strukturen aufweichen, sieht das ExpertInnenteam die grösste Herausforderung für die soziale Handlungsfähigkeit in den Alpengebieten darin, den Zusammenhalt der BewohnerInnen immer wieder neu zu knüpfen, sie untereinander zu organisieren und zu mehr Beteiligung an Entscheidungen gerade auch beim Landschafts- und Umweltschutz, bei den Dienstleistungen für die Bevölkerung, dem Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt zu bewegen.

Die wichtigsten Empfehlungen lauten:
o Die Gemeinschaften in den Alpen müssen ihrer sozialen Vielfalt Rechnung tragen, indem sie in den Entscheidungs- und Vertretungsgremien unterrepräsentierte Gruppen wie Frauen, AusländerInnen und NeueinwohnerInnen besser integrieren.
o Sie sollten eine gemeinsame Identität aufbauen, in der sich auch religiöse und kulturelle Minderheiten wiederfinden können, wie etwa beim Vorzeigeprojekt "Raum für die Jugend" im slowenisch-österreichischen Grenzgebiet.
o Sie sollten bei Planungen besser auf die lokalen Bedürfnisse eingehen, die sektoren- und regionenübergreifende Zusammenarbeit fördern und gleichzeitig den Blick nach Aussen richten.
o Wo der Staat sich aus dem Infrastrukturerhalt und den öffentlichen Dienstleistungen zurückzieht, müssen neue Initiativen gefördert und Ressourcen gebündelt werden.

Die ExpertInnen zitieren ein knappes Dutzend von Vorzeigeprojekten, die die aufgestellten Kriterien zur sozialen Handlungsfähigkeit weitgehend erfüllen:

1. Beispiel Graubünden (Schweiz)
Polo Poschiavo, Puschlav (www.polo-poschiavo.ch)
Preisträger CIPRA-Wettbewerb "Zukunft in den Alpen" 2005

Polo Poschiavo
Valposchiavo, Bregaglia, Val Müstair, Valle Maggia, Valtellina, Valchiavenna sind Seitentäler in der Südschweiz und in der Lombardei, die heute keineswegs mehr so abgelegen sind wie früher. Sie haben sich mit ihrem Internet-Fernbildungsprojekt Polo Poschiavo ein Tor zur Welt geschaffen. Polo Poschiavo ist ein Kompetenzzentrum für länderübergreifende berufliche Weiterbildung mit Videokonferenzen, Sprach-, Berufs- und Computerkursen.

Internet-Crashkurs nach der BabypauseDass das Projekt seine vielen Nutzer nicht nur informiert, bildet und unterhält, sondern auch Chancen zur politischen Information und Mitbestimmung gibt, trägt zu seiner Beliebtheit bei. Seine NutzerInnen sind oft Frauen, die nach der Babypause in die Arbeitswelt zurückkehren wollen, ausserdem HandwerksmeisterInnen, EinzelhändlerInnen, LandwirtInnen und SeniorInnen. Seit 2002 hat die Initiative weit über hundert Kurse angeboten. Projektträger sind der Kanton Graubünden, die Regionen und Gemeinden, der Handwerker- und Einzelhandelsverband. Das Jahresbudget beträgt rund 200.000 Euro.

2. Beispiel Sud Isère (Frankreich)
www.bise-du-connest.tk

Rigodonaïres Festival
"Unsere Wurzeln entdecken, heisst die Gegenwart verstehen, um die Zukunft zu gestalten": So lautet das Leitmotiv des Rigodonaïres Festivals, das seit 1998 jeden Sommer von sechs Gemeinden in den französischen Alpen Sud-Isère veranstaltet wird. Rigodons heissen die Bauerntänze aus der Barockzeit, die in der Dauphiné ihren Ursprung haben.

Traditionelle Kultur begeistert Einheimische und BesucherInnen
Das Ziel des Festivals ist eine Kulturwanderung durch die Berggemeinden, von denen jede eine Woche lang ein Dorffest mit traditionellen Umzügen, mittelalterlichen Balladen, Spielen und Tänzen ausrichtet. Damit wollen die OrganisatorInnen die kulturelle Identität fördern und die schwindenden bäuerlichen Traditionen wiederbeleben. Dass das Kulturfest auch einen sanften Tourismus fördert, ist ein positiver Nebeneffekt. Dieses Wanderfestival trägt gleichzeitig zur Förderung und Entwicklung der sozialen Ressourcen in den Austragungsorten bei, in denen der Zusammenhalt der lokalen Gemeinschaften sehr wichtig ist und von Jahr zu Jahr stärker wird.

3. Beispiel Vorarlberg (Österreich)
www.tauschkreis.net
Finalist CIPRA-Wettbewerb "Zukunft in den Alpen" 2005

Talente-Tauschkreis Vorarlberg
Es muss nicht immer der traditionelle Marktplatz sein: Der Talente-Tauschkreis Vorarlberg ist ein Verein für organisierte Nachbarschaftshilfe, in dem Dienstleistungen und Waren ohne Geld getauscht werden und den Mitgliedern in Talenten - so wird die komplementäre Zweitwährung genannt - gutgeschrieben werden.
Der gemeinnützige Verein will die besonderen Fähigkeiten von Menschen ohne festes Arbeitsverhältnis (junge Mütter, Arbeitslose, Behinderte und SeniorInnen) aktivieren und deren Selbstbewusstsein stärken. Die Initiative schafft soziale Bindungen, sie hilft der Gemeinschaft, ihren Zusammenhalt zu stärken. Das Talente-System funktioniert wie Bonusmeilen bei Fluggesellschaften, nur eben sozialverträglich und umweltfreundlich.

Möbel kaufen mit Talenten
Eine alleinerziehende Mutter engagiert sich in der Nachbarschaftshilfe und spart so viele Talente an. Dafür kann sie zum Beispiel Jugendmöbel aus Vollholz bei ihrer Tischlerin bestellen, Bioprodukte beim Bauern kaufen oder Seminare im Bildungshaus buchen.
Der Verein hat zahlreiche Kommunen, soziale Einrichtungen und Firmen für das Talentsystem gewinnen können. Seit seiner Gründung hat der Nachbarschaftskreis 11 Millionen Talente oder 110.000 Arbeitsstunden zwischen seinen rund 1.400 Mitgliedern getauscht. Manche Familien erwirtschaften bereits zehn Prozent ihres Haushaltsbudgets über Talente. Zwölf Prozent der 560 Mitgliederkonten werden von Betrieben und sozialen Einrichtungen geführt. Auch für die Unternehmen lohnt sich die Talentwirtschaft, indem sie schnell und unkompliziert Aushilfen in einem sehr persönlichen Umfeld finden. Das Modell für eine umwelt- und menschengerechte Wirtschaft hat in sieben Regionen Schule gemacht: Grund genug, das 10jährige Jubiläum ausgiebig zu feiern.