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"Die grösste Errungenschaft ist die Wahlfreiheit"

06.10.2015
Die unterschiedliche Rollenverteilung von Frauen und Männern sei eine Konstruktion, sagt Silvia Hofmann, Gleichstellungsbeauftragte des Kantons Graubünden/CH. Die Gefühle und Bedürfnisse von Männern und Frauen seien dieselben.
Bild Legende:
Als Gleichstellungs­beauftragte des drei­sprachigen Schweizer Kantons Graubünden hat Silvia Hofmann Einblick in unter­schiedliche Kulturräume.

Frau Hofmann, sind Frauen anders als Männer?
Von der Ausbildung, den Aktivitäten und den Möglichkeiten her werden die Unterschiede immer kleiner. Immer noch sehr unterschiedlich sind aber die Rollenbilder und Erwartungen der Gesellschaft an Frauen und Männer. Tendenziell ist der private Raum nach wie vor für Frauen vorgesehen und der öffentliche Raum für Männer.

Sie setzen sich seit vielen Jahren für die Gleichstellung von Frauen und Männern ein. Sind die Rahmen­bedingungen für erwerbstätige und erwerbswillige Frauen in den Alpen besser geworden?
Grundsätzlich haben sich die Arbeitsbedingungen stark verbessert. Wenn man aber die Entwicklung betrachtet, die wegführt von einem bäuerlichen Umfeld, haben sie sich nicht unbedingt verbessert. Alles, was den Arbeitsplatz entfernt von den häus­lichen Aufgaben, erschwert die Erwerbsarbeit von Frauen. Es ist für Männer noch nicht selbstverständlich, in der Hausarbeit und Kinderbetreuung ein ähnlich grosses Engagement zu zeigen wie Frauen.

Sie stammen aus der Val Müstair, einer Randregion mit einem traditionellen Familienmodell. Wie haben Sie den Weg zur Gleichstellungs­beauftragten Graubündens gefunden?
Meine Eltern sind ausgewandert aus der Val Müstair, weil es dort keine Arbeit gab. Deshalb bin ich an verschiedenen Orten in Graubünden aufgewachsen. Mit 20 Jahren ging ich nach Basel um zu studieren. Doch ich wusste immer, dass ich zurückkommen werde. Als meine Kinder klein waren, zogen wir zurück in die Berge, ins Engadin. Als Journalistin hatte ich glücklicherweise einen Beruf, bei dem ich frei arbeiten konnte. Ich spezialisierte mich auf Politik, Gesundheits- und Gesellschaftsthemen und stiess sehr schnell auf Gleichstellungsfragen. Ich verfolgte die Entwicklung von Frauen in der Schweizer Politik intensiv. Ich fragte auch nach den Frauen in der Geschichte. Zusammen mit Silke Redolfi gründete ich 1997 das Frau­enkulturarchiv. Dieses Projekt führte mich nach Chur und zu dieser Stelle.

Haben Frauen und Männer unterschiedliche Wertvorstellungen?
Nein. Ich bin in dieser langjährigen Aus­einandersetzung zum Schluss gekommen, dass die Gefühle und Bedürfnisse von Menschen dieselben sind. Es gibt immer wieder Untersuchungen, die behaupten, dass Frauen emotionaler, einfühlsamer sind, sich mehr engagieren für das Leben oder die Natur. Ich meine, Männer tun dies genauso.

Demnach gibt es keine Rechtfertigung für die unterschiedliche Rollenverteilung zwischen Frau und Mann?
Es ist eine Konstruktion, die sich aus unserer Gesellschaft heraus ergeben hat. Wir leben in einem Patriarchat: Bis vor 30, 40 Jahren war der Mann in allen westlichen Ländern das Haupt der Familie und die Frau musste seine Einwilligung haben, wenn sie sich ausser Haus in irgend einer Form betätigen wollte. Die gesetzliche Festsetzung dieser Rollen wirkt heute nach. Wir haben zwar Gesetze, die Frauen und Männer gleichstellen. Aber was die Rollen und das gelebte Leben betrifft, hinken wir hinterher.

Rollenbilder sind kulturell tief verankert. Kann man überhaupt etwas verändern innerhalb von zwei, drei Generationen?
Wir vom Gleichstellungsbüro versuchen, daran zu rütteln. Wir machen uns aber keine Illusionen: Es ist ein langsamer Prozess, der von vielen Faktoren beeinflusst wird, unter anderem von der Politik, der Wirtschaft und der Bildung.

Was können Frauen selber tun?
Erstens ist es wichtig, dass sich Frauen mit der Geschichte befassen, um ein Gefühl für die Unterschiede zu bekommen zwischen früher und heute. Zweitens finde ich sehr wichtig, dass sich vor allem junge Frauen Gedanken machen über ihre Wünsche und Bedürfnisse. Junge Frauen sind oft enthusiastisch. Man sagt ihnen: «Die Welt steht euch offen, ihr könnt alles machen, was ihr wollt. Es hängt nur von euch ab, ob ihr euch durchsetzen könnt.» Das trifft zu, bis sie etwa 25 Jahre alt sind. Plötzlich merken sie, dass es schwieriger wird, sobald sie sich nicht mehr als Single durchs Leben bewegen möchten.

Wie unterscheiden sich die Rollen­bilder und Möglichkeiten von Frauen und Männern in städtischen und ländlichen Alpenregionen?
Im ländlichen Raum beobachten wir ein eher traditionelles Rollenbild. Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind grösser. Geht eine Frau ausserhalb des Dorfes einer Erwerbsarbeit nach, wird das sofort kommentiert. In einer städtischen Umgebung gibt es eine Mehrheit von Frauen und Familien mit anderen Lebensstilen. Dies wirkt sich auch auf die Rollenbilder aus: Es gibt weniger soziale Kontrolle.

Graubünden vereint drei Sprachräume. Nehmen Sie Unterschiede wahr?
Die Unterschiede zwischen den Sprachregionen, aber auch innerhalb dieser, sind enorm. Mit dem Churer Rheintal haben wir in Graubünden eine städtische Agglomeration, die sich nicht gross unterscheidet von einer Metropolitanregion, was die ­Lebensumstände betrifft. Vor allem die italienischen Sprachregionen Graubündens erlebe ich als stark in der Tradition verankert – auch wenn es dort immer wieder starke Frauen gibt. Im Bergell zum Beispiel gibt es seit mehreren Jahren eine Gemeindepräsidentin und viele öffentliche Ämter sind durch Frauen besetzt sind. Auf der anderen Seite finden sich im Puschlav kaum Frauen in öffentlichen Ämtern.

Hat dies auch mit wirtschaftlichen Faktoren zu tun?
Auf jeden Fall. Ein Spezialfall ist die Surselva. Diese romanischsprachige Region hat einen historisch geprägten katholischen Hintergrund. Die Kirche mischte sich in die Gesellschaftspolitik ein in einem Mass, wie wir es uns heute nicht mehr vorstellen können. Das drückte sich aus in einer äusserst rigiden Sexualmoral, eine uneheliche Schwangerschaft war eine Katastrophe, Verhütung inexistent. Familien hatten acht, zehn, zwölf Kinder. Damit war auch die Sterblichkeit der Frauen hoch. Mädchen hatten quasi keine Möglichkeiten, eine Ausbildung zu machen. Viele wanderten auch aus, weg von diesen engen Verhältnissen. Das wirkt sich heute noch aus: Die meisten Mädchen und Buben in der Surselva wähen traditionelle Berufe.

Welchen Einfluss haben die Rollen­bilder auf die Berufswahl?
Die Jugendlichen müssen einen Beruf wählen zu einer Zeit, wenn sie auf Identitäts­suche sind. Sie suchen dann Halt und Orientierung und sind nicht besonders offen für anderes. Hier braucht es mehr Unterstützung von der Schule, der Berufsberatung und den Eltern. Wir beobachten, dass junge Frauen und Männer bessere Chancen auf eine Lehrstelle haben, wenn sie bereit sind, ausserhalb der traditionellen Muster zu wählen.

Slowenien hat als einziges Alpenland eine kommunistische Vergangenheit. Hat sich die Stellung der Frauen ­dadurch verändert?
In den ehemals kommunistischen Ländern war es keine Frage, dass beide erwerbs­tätig waren. Es gab Infrastrukturen, die Hausarbeit und Kinderbetreuung aufgefangen haben. Trotzdem blieb der Grossteil der Familienarbeit an den Frauen hängen. Aber sie haben ein anderes Selbstbewusstsein entwickelt durch ihre Erwerbsarbeit auch in frauenuntypischen Berufen. Das sehen wir heute auch in der Politik: In Ländern wie Slowenien ist der Anteil der Frauen erheblich grösser als bei uns.

Es gab seitens der Politik einen gewissen Zwang, dass Frauen ins Erwerbsleben einstiegen und Männer Platz machten. Bräuchte es auch hier etwas mehr Zwang?
Das ist in unserem politischen System schwierig. Wir sind stolz auf die Autonomie unserer Gemeinden, Kantone, Regionen. Jedes Dorf ist ein kleines Königreich und man wehrt sich bis heute gegen alle staatlichen Zwänge, die das prekäre Gleichgewicht im Dorf verändern könnten. Das Thema Gleichstellung – das ja quasi vom Staat verordnet und in der Verfassung verankert ist – wird als etwas empfunden, das von aussen kommt. Man muss einen anderen Zugang finden, indem man überzeugt, Erfahrungsmöglichkeiten schafft und Vorbilder bietet. Solange in der Politik und in der Wirtschaft nicht eine gewisse Anzahl Frauen vorhanden ist, die es einfach tun und die nicht mit sich darüber diskutieren lassen, wie sie sich fühlen in dieser Situation oder wie sie sich zu benehmen haben, solange ist es schwierig. Wir wissen aus Untersuchungen: Diese Anzahl muss etwa 40 Prozent betragen. Ab dann gilt es als «normal».

Das spricht für eine Quote.
Wenn es nicht anders geht. Es gibt Wirtschaftsbetriebe in der Region, die sich selber eine Quote geben, und das ist spürbar: Es herrscht ein anderer Umgang, ein anderer Ton, eine andere Selbstverständlichkeit.

Es gibt Frauen, die gar nicht erwerbstätig sein wollen. Welche Anreize muss der Staat bieten, damit Frauen ihr Potenzial ausschöpfen?
Die grösste Errungenschaft des Gleichstellungsprozesses ist die Wahlfreiheit. Jede Frau hat den Anspruch respektiert zu werden für das Lebensmodell, für das sie sich entscheidet. Es ist nun mal so, dass wir nicht die Rahmenbedingungen haben, die es den Frauen erleichtern, Erwerbs- und Familienarbeit zu vereinbaren. Wenn wir keine Grossmütter und teils Grossväter hätten, die ihre Töchter und Schwiegertöchter bei der Betreuung der Enkelkinder unterstützen, dann wäre es gerade im ländlichen Raum unmöglich. Fast jede zweite Familie bei uns wird von Grossmüttern unterstützt. Das soll man nicht in Frage stellen. Auf der anderen Seite zwingen uns die wirtschaftlichen Verhältnisse, einen Teil zum Einkommen beizutragen. Hierfür braucht es gute Lösungen und mehr Unterstützung von Seiten der Unternehmen, der öffentlichen Hand, der Politik.

Viele junge Frauen glauben, Gleichstellung sei erreicht. Hat die ältere Generation es verpasst, sie für Gender­fragen zu sensibilisieren?
Möglicherweise, ja. Wir waren so beschäftigt mit der Verbesserung der Möglichkeiten, dass wir die junge Generation ein bisschen aus den Augen verloren haben. Doch wir haben das Ruder jetzt herumgeworfen und beschäftigen uns jetzt sehr stark mit jungen Menschen, sei es für die Berufswahl, Politik oder Bildung.

Frauen haben sich bewegt – und was ist mit den Männern?
Die Errungenschaften der Frauenemanzipation wirken sich langsam auch auf Männer positiv aus. Sie merken, dass es für sie eine Entlastung sein kann, ein bisschen loszulassen von der Rolle der starken Schulter, des Alleinernährers. Männer erkennen die Vorteile einer gleichberechtigen Partnerschaft, in der zwar viel verhandelt werden muss, die ihnen aber auch neue Entwicklungsmöglichkeiten bietet.

Von Barbara Wülser (Interview)
und Caroline Begle (Bilder)
CIPRA International

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Kulturhistorikerin mit alpiner Verwurzelung

Silvia Hofmann Auf der Maur leitet seit 2003 die Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann des Kantons Graubünden, Schweiz. Geboren 1954 in Müstair, studierte sie Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Basel und absolvierte ein Nachdiplomstudium in Kulturmanagement. Als freischaffende Journalistin und Redaktorin befasste sie sich vertieft mit Gesellschafts- und Gleichstellungsthemen und gründete 1997 zusammen mit Silke Redolfi das Frauenkulturarchiv Graubünden. Sie ist Mit-Herausgeberin der Buchreihe «Fraubünden – Frauen- und Geschlechtergeschichte Graubündens», verheiratet und Mutter zweier erwachsener Söhne.

www.stagl.gr.ch
www.frauenkulturarchiv.ch

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