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Von der Vielzahl alpiner Lebenswelten

20.03.2008 / Iwar Werlen
Was haben Älplermagronen mit kultureller Vielfalt zu tun? Für jene LeserInnen, denen das seltsame Wort nichts sagt: es bezeichnet eine als bodenständig geltende Innerschweizer Speise, die seit einigen Jahren einen wahren Boom als Convenience Food erlebt.
Nicht jedermann wird beim Wort "Kultur " primär an Älplermagronen denken. Kultur ist eines dieser Wörter, bei denen jede und jeder zunächst einmal an etwas anderes denken - die einen an die hohe Kultur des modernen Luzerner Kulturzentrums KKL, die andern an die Alltagskultur der Schafzüchter, die dritten an Sagen und Aberglauben und einige auch an Sprachen. Aber auch wenn die Rede von "Sprache und Kultur" noch so geläufig ist - Sprachen und Kulturen gehören nicht wie zwei Seiten einer Medaille zusammen. Sie sind zwar vielfältig miteinander verbunden und beeinflussen einander gegenseitig - jedoch bestimmt die eine die andere nicht.

Die Dynamik alpiner Lebenswelten
Der Ethnologe Hans-Rudolf Wicker hat anlässlich einer Tagung zum Thema "Kulturelle Diversität im Alpenraum" (2002) gesagt, man sollte den Terminus "alpine Kultur" eigentlich durch "alpine Lebenswelten" ersetzen, um einen reifizierten und holistischen Kulturbegriff zu vermeiden.
Schafzüchter im Oberwallis etwa teilen miteinander eine Lebenswelt und sie teilen sich die Arbeitswelt als Industriearbeiter in der Lonza. Touristen in Zermatt und St. Moritz teilen für kurze Zeit eine gemeinsame Lebenswelt mit den Einheimischen und den Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus Portugal oder Österreich. Und auf den Alpen hüten Stadtflüchtlinge für einen Sommer lang das Vieh der Talbauern und stellen den Bergkäse her, der in ihren Herkunftsstädten als alpine Spezialität vermarktet werden wird.
Alpine Lebenswelten sind nichts Statisches, Festgefügtes, immmerdar Bleibendes - sie sind ein Patchwork, vielfältig, dynamisch, sich ändernd. Was unverändert zu bleiben scheint, sind die Berge, die Höhen, die Landschaft, das Rauhe - aber auch all das wandelt sich, verändert sich.
Am wenigsten jedoch wandeln sich die Bilder der alpinen Kulturen in den Köpfen der Menschen. Noch immer fahren sie die Bergstrecke durch den Lötschberg und setzen sich so hin, dass sie beim Verlassen des Tunnels oberhalb von Hohtenn den Blick in das sonnenüberflutete Rhônetal geniessen können - und sehen grosszügig über den wild mit Industrie-, Handels- und Wohnbauten, Strassen und Gleisen möblierten Talgrund mit der gradlinig kanalisierten Rhône hinweg, als ob da immer noch die Gemüsebeete und Obstbäume stünden, von denen die Grosseltern erzählt hatten.

Sprachgebrauch - ein Zeichen der Identität
In den vielfältigen alpinen Lebenswelten spielen nun die verschiedenen Sprachen eine wichtige Rolle. Denn die Sprachen dienen nicht nur der Verständigung der Menschen untereinander. Sprache drückt auch soziale Identität aus, Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft. Und damit zugleich Abgrenzung von denen, die nicht diese Sprache sprechen.
Wer als Touristin in Evolène im Val d'Hérens oberhalb von Sitten auf das Postamt geht und dem einheimischen Kunden im Gespräch mit dem Posthalter zuhört, versteht vermutlich nicht viel. Die beiden reden ihr Patois miteinander, das schon die Leute von Bagnes, ein paar Täler weiter, nicht mehr verstehen. Sie drücken damit aus, dass sie aus Evolena stammen, wie das Dorf bei ihnen heisst. Sie schliessen die Touristin aus, die ihnen zuhört, aber auch die Sittener, die nur noch Französisch können. Aber wenn der einheimische Kunde nach Sitten hinunter fährt, um den FC Sion im Kampf gegen den FC Zürich zu unterstützen, dann feuert er die Sittener auf Französisch an, während seine Oberwalliser Mit-Fans es auf Wallisertitsch tun. Französisch, Patois, Wallisertitsch - werden da nicht Äpfel mit Birnen verglichen? Ja und Nein. Nein, weil alle drei Sprachformen sind, die den Zwecken, für die sie gebraucht werden, entsprechen. Ja, weil sie für unterschiedliche Zwecke gebraucht werden. Von den dreien wird regelmässig und in grossem Umfang nur das Französische auch geschrieben. Das Französische wird von viel mehr Menschen gesprochen und verstanden als die beiden andern, es allein gilt als Nationalsprache in den Staaten der Frankofonie, es wird als Fremd- oder Zweitsprache gelernt. Mit andern Worten: von diesen drei Sprachen ist nur eine voll ausgebaut - die beiden andern nicht.

Zwischen Nationalsprache und Dialekt
In den acht Alpenstaaten (Monaco inklusive), gelten Französisch, Italienisch, Deutsch, Rätoromanisch und Slowenisch als Nationalsprachen. Aber hinter diesen fünf Sprachnamen stehen ganz verschiedene Architekturen.
Das Deutsche zum Beispiel - Nationalsprache in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein - ist mit vielfältigen bairischen und alemannischen Dialektformen vertreten. In Südtirol hat Deutsch den Status einer Regionalsprache und auch hier werden Dialekte - vor allem auf dem Land - gesprochen. Das Deutsche steht aber fast überall auch mit anderen Sprachen im Kontakt (und manchmal auch in Konflikt) - in Südtirol mit dem Italienischen und dem Ladinischen, im Bündnerland mit Rätoromanisch und Italienisch.
Das Italienische seinerseits ist zwar Nationalsprache Italiens, aber von Savona im Westen bis Gorizia im Osten werden provenzalische (oder okzitanische), piemontesische, frankoprovenzalische, lombardische und venetische Dialekte gesprochen, sofern die Täler und Höhen noch besiedelt sind. Okzitanisch wird seit 1999 als eigene Sprache anerkannt; im Aostatal hat das Französische den Status einer Regionalsprache und in einigen wenigen der alten Walserkolonien wird noch Walserdeutsch gesprochen. Wie lange noch, das weiss niemand. Dolomitenladinisch ist - vor allem im Bereich der Autonomen Provinz Südtirol - als Regionalsprache anerkannt. Bündner Romanisch in der Schweiz, das Dolomitenladinische und das Furlan (Friaulisch) in Italien gelten als eigene Sprachen, nicht als Dialekte des Italienischen (auch wenn das aus historischen Gründen nicht von allen so gesehen wurde und wird). Und im Osten gibt es auch einige bairische Sprachinseln sowie slowenische Dialekte.
Slowenisch als Nationalsprache Sloweniens hat ebenfalls dialektale Varianten und es ist in Kärnten und der Steiermark eine vom Gesetz anerkannte Minderheitensprache, die in jüngster Zeit wieder unter heftigen Druck von Seiten rechtbürgerlicher Kräfte geraten ist. Die Zugehörigkeit Sloweniens zur EU hat hier auch die sprachliche Situation verändert. Nicht zuletzt gibt es noch die Sprachen des Tourismus und der Migration: Englisch in Leysin, Gstaad, Zermatt, Interlaken; Hindi und Urdu auf dem Jungfraujoch; Japanisch auf dem Titlis; Chinesisch auf dem Pilatus; Spanisch, Serbisch, Kroatisch, Türkisch in Hotelküchen und Krankenhäusern - auch das sind Faktoren alpiner Lebenswelten, vielfältig, sich stets wandelnd. Und wie die Menschen nicht nur eine Lebenswelt kennen, sondern viele, sprechen viele auch nicht nur eine, sondern mehrere Sprachen. Die kulturelle Vielfalt des Alpenraumes speist sich aus vielen Quellen und geht viele Wege - auch jene ins Verschwinden von Sprachen und Kulturen, denn das geschieht mit jenen Sprachen, die nicht mehr tradiert und vermittelt werden, etwa wenn Eltern in der Annahme, dass das Sprechen der Hochsprache bessere soziale Aufstiegsbedingungen schaffe, nur mehr in der Hochsprache mit ihren Kindern kommunizieren. Hier sind neben den Eltern auch die Schulsysteme der verschiedenen Staaten gefragt. Mit ihrer Unterstützung können Sprachen weiterhin gelehrt und somit ein Beitrag zum Erhalt kultureller Vielfalt geleistet werden.