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«Der Aufstand des Gewissens steht bevor»

24.09.2013 / Walter Aeschimann
Es gibt auf der Erde genug Süsswasser für alle. Trotzdem hat mehr als eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser. Jean Ziegler kämpft unermüdlich und wortgewaltig gegen dieses Unrecht. In den Alpen erkennt er ein zunehmendes Bewusstsein für die Verantwortung als Wasserschloss.
«Der Aufstand des Gewissens steht bevor»
Bild Legende:
Jean Ziegler ist überzeugt: «Es gibt genug Wasser, aber wir vergeuden es.» © Magali Girardin
Herr Ziegler, am 28. Juli 2010 ist «das Recht auf Zugang zu sauberem Wasser» von der Uno-Vollversamlung in New York als Menschenrecht anerkannt worden. Was halten Sie von dieser Resolution?
Es war absolut nötig, dass der Zugang zu sauberem Wasser als Menschenrecht definiert worden ist. Man kann sich heute fragen, warum die Uno nicht schon früher diesen Beschluss gefasst hat.

Warum kann man sich das fragen?
Die Situation beim Wasser ist fast so schlimm wie bei den festen Nahrungsmitteln. Alle 20 Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an verseuchtem Wasser. 1,1 Milliarden Menschen haben keinen regulären Zugang zu sauberem Wasser. 2,8 Milliarden haben keinen Zugang zu genügenden sanitären Einrichtungen. 2,7 Milliarden leiden an Krankheiten, die von schmutzigem Wasser verursacht worden sind. Es gibt jedes Jahr 100 Millionen neue Krankheitsfälle wegen Cholera, Bilharziose, blutigem Durchfall oder Typhus, den vier wichtigsten Krankheiten, die durch verseuchtes Wasser verursacht werden.

Der Beschluss ist fixiert. Aber er ist nicht einklagbar.
Ich bin mit Ihnen einverstanden: Das Völkerrecht ist nicht durchsetzbar mit Polizeigewalt. Aber die Resolution besteht. Dass ist immerhin schon viel.

Was ist damit erreicht?
Die Verankerung hat einen hohen symbolischen Wert. Der ist nicht zu unterschätzen. Die Resolution setzt die Politik von Staaten unter Druck. Es gibt den Menschenrechtsrat der Uno. Dieser kontrolliert, ob die internationalen Normen eingehalten werden. Er ist die drittwichtigste Behörde der Uno. Die Tatsache, dass der Uno-Menschenrechtsrat dieses Recht regelmässig kontrolliert und die Staaten benennt, die es missachten, ist viel wert.

Trotzdem bleibt es doch weitgehend Makulatur.
Nein, das kann Druck ausüben. Und vergessen Sie nicht, es gibt auch die Zivilgesellschaft.

Aber es gibt keine Strafe.
Die Sanktion ist eine öffentliche Abrechnung! Selbst die Schweiz ist schon wegen Verletzungen des Asylrechts drangekommen. Die haben geschwitzt in Bern. Das ist das eine. Positiv ist auch, dass es jetzt eine Uno-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wasser gibt. Bei jeder Session des Menschenrechtsrats referiert sie über besondere Fälle. Dabei geht es nicht nur darum, einzelne Verletzungen anzuprangern, sondern aufzuzeigen, wie und mit welchen Mitteln der internationalen Kooperation diese behoben werden können.

Können Sie ein Beispiel geben?
Die Mechanismen sind immer die selben. Die bolivianische Stadt Cochabamba beispielsweise war hoch verschuldet. Als einzige Möglichkeit blieb der Verkauf der Wasserversorgung – an die transkontinentale Bechtel Corporation. Die sanierte die Infrastruktur, was auch richtig ist. Aber nachher mussten die Nutzer zahlen, damit sie Zugang zum Wasser erhielten. Die meisten hatten dafür kein Geld. 75 Prozent der Bevölkerung von Cochabamba waren von der regulären Wasserversorgung abgeschnitten. Diese Menschen mussten ihr Wasser in verseuchten Abwasserkanälen oder aus rostigen Rohren zusammensuchen.

Was können wir gegen diese Mechanismen tun?
Peter Brabeck, der Verwaltungsratspräsident von Nestlé, argumentiert, Wasser müsse privatisiert werden, weil es ein seltenes Gut sei. Folgerichtig müsse man beim Wasser einen Preis festlegen, damit die Menschen mehr Sorge zum Wasser tragen und weniger verbrauchen würden. Das ist auch die Theorie der Weltbank und ihr nahestehender Kreise.

Was ist Ihre Meinung?
Das Argument ist falsch! Wasser ist kein seltenes Gut. Wir sind nicht konfrontiert mit einem objektiven Mangel. Wir sind mit einer von Menschen gemachten, kannibalischen Weltordnung konfrontiert. 70 Prozent der Oberfläche des Planeten ist Wasser. Das sind rund 1,4 Milliarden Kubikkilometer. Davon sind 2,5 Prozent Süsswasser, rund 35 Millionen Kubikkilometer. Rund 45’000 Kubikkilometer sind relativ leicht zugänglich. Das scheint wenig, ist aber trotzdem genug, um alle Erdbewohner mit genügend Wasser zu versorgen.

Wie viel Wasser braucht der Mensch?
Als Existenzminimum hat die Uno 20 Liter pro Tag definiert – für Trinkwasser, Kochen, Hygiene und minimale Bewässerung. Nochmals: Es gibt genug Wasser für alle. Aber wir vergeuden es. Wir produzieren neuerdings Agrartreibstoffe. Für einen Liter Bioethanol braucht es 4’000 Liter Wasser. Die USA hat letztes Jahr 138 Millionen Tonnen Mais für die Produktion von Bioethanol verbrannt. Die Idee ist klar: Die grösste Industriemacht der Welt will unabhängiger von importiertem Erdöl werden. Deshalb will sie, so weit es geht, fossile Energie mit vegetaler Energie ersetzen. Fast im Sekundentakt verhungern und verdursten Menschen. Und wir verbrennen Millionen von Tonnen Grundnahrungsmittel und verbrauchen Unmengen von Wasser, um Autos zu füttern. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Und die Alpenländer plündern ihr Wasserreservoir, um Skipisten zu beschneien.
Es gibt auch positive Anzeichen. Ich war im März 2013 am Uno-Weltwassertag in Scuol im Engadin eingeladen. Ich hatte den Eindruck, dass langsam ein Bewusstsein entsteht. Die Gemeinden sagen sich, wir sind verantwortlich für den Inn, die Donau, das Schwarze Meer, wir haben eine grosse Verantwortung für das riesige Wasserschloss im Herzen Europas: Diese wunderschönen Alpen, die wir bewundern.

Wirtschaftliche Interessen scheinen vorerst zu überwiegen und die Politik ist machtlos ...
... Nein! In der Demokratie gibt es keine Ohnmacht.

Was meinen Sie damit?
Eine Million Menschen hat letztes Jahr in der EU eine Petition unterschrieben, in der sie sich für das Recht auf Wasser einsetzt. Das ist fantastisch. Das setzt die EU-Kommission und das EU-Parlament unter Druck. Denn die Politiker wollen wieder gewählt werden. Ein anderes Beispiel: Die Jungsozialisten der Schweiz lancieren eine Volksinitiative, die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel verbieten will. Es gibt ein Erwachen. Die absurde Freihandels-
ideologie kann gestoppt werden. Die mörderischen Mechanismen können in einer Demokratie gebrochen werden.

Die Feinde sind einflussreich und mächtig.
Und nicht dumm. Nestlé, der grösste Nahrungsmittel- und Wasserflaschenkonzern der Welt, wirbt beispielsweise für seine Babymilch. In den Spitälern der Entwicklungsländer wird sie gratis an die Mütter abgegeben. Zu Hause können die Mütter diese Milch nicht mehr kaufen oder sie strecken sie mit verseuchtem Wasser. Das Kind wird krank und stirbt. Bei den Prozessen argumentiert Nestlé immer gleich: Sie würden gute Milch verkaufen. Wer die Milch mit Wasser strecke, gehe ein Risiko ein. Sie würden sie ausdrücklich darauf hinweisen, sie machten ‹risk information›. Aber die Frauen haben keine andere Wahl.

In Ihrem neusten Buch schimmert am Schluss Hoffnung durch, dass sich die Situation ändern wird.
Der französische Schriftsteller Georges Bernanos hat gesagt: «Gott hat keine anderen Hände als die unseren.» Entweder wir brechen diese kannibalische Weltordnung oder sonst tut es niemand. Der Akteur ist die Zivilgesellschaft. Das Bewusstsein wächst, dass nur der Zufall der Geburt uns von den Opfern trennt. Ich bin zuversichtlich, dass das Bewusstsein der Identität und der Solidarität steigt. Der Aufstand des Gewissens steht bevor.

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Globalisierungskritischer Soziologe
Jean Ziegler, Jahrgang 1934, lehrte Soziologie in Genf/CH
und an der Pariser Sorbonne, sass für die Schweizer Sozial­demokraten im Schweizer Parlament und machte sich besonders als Buchautor einen Namen. In Streitschriften wie «Die Schweiz wäscht weisser» kritisierte Ziegler frühzeitig die kriminellen Geschäfte heimischer Banken. Er war acht Jahre lang der erste Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und ist derzeit Mitglied des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrats. In seinem neusten Buch «Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt» kritisiert er die Spekulationen auf Nahrungsmittel und Wasser. Jean Ziegler ist einer der weltweit profiliertesten Kritiker des globalisierten Finanzkapitals.

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aus: Szene Alpen Nr. 98 (www.cipra.org/de/alpmedia/publikationen/5222)