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Von der «Spielwiese Europas» zum Spielball der Wirtschaft

21.09.2017
Der Erfolg des Alpentourismus ist gleichzeitig sein Dilemma: Wie die grandiosen Naturräume bewahren und gleichzeitig erschliessen, damit TouristInnen diese bewundern können?
Die Alpen als Kulisse: Einsame Palme auf dem Jakobshorn/CH. © Hans Peter Jost
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Die Alpen als Kulisse: Einsame Palme auf dem Jakobshorn/CH. © Hans Peter Jost

«The Alps – the Playground of Europe» nannten die bürgerlichen Reisenden des 19. Jahrhunderts eines ihrer begehrtesten Reiseziele. Sie bezogen sich dabei auf den Titel einer Monographie des englischen Alpinisten Leslie Stephen. Mehr als 100 Jahre später hat sich das Gebirge mitten in Europa von einer der Geburtsstätten des modernen Reisens zu einer klassischen Tourismusdestination entwickelt.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Alpen, früher als andere Regionen, zu einer Destination für fast jedermann. Der technische, medizinische und soziale Fortschritt trug zu einer generellen Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bei. Das Wirtschaftswachstum in Europa, höhere Einkommen auch für die Arbeiterklasse, gesetzlicher Urlaubsanspruch, steigende individuelle Mobilität durch preiswerte Fahrzeuge und eine gute Verkehrsinfrastruktur – all das trug dazu bei, dass alpine Regionen, die bis dahin kaum erschlossen waren, in den touristischen Fokus kamen. Kleine Städte in den Alpenrandtälern fassten Fuss auf dem Tourismusmarkt, zahlreiche Landwirtschaftsbetriebe boten Unterkunft und Verpflegung an, um ihr damals noch geringes Einkommen aufzubessern und die Armut zu überwinden. Es entstanden viele neue Kurorte, da Kuraufenthalte und Behandlungen vom Staat finanziell unterstützt wurden. Heute übernachtet etwa jeder zehnte Tourist weltweit in den Alpen.

Erhalten oder entwickeln?

Dennoch zeigt der 4. Alpenzustandsbericht der Alpenkonvention (2013), aus dem die obige Entwicklungsgeschichte stammt, dass nicht alle Alpenregionen gleichermassen vom Tourismus profitieren. Neben grossen Unterschieden zwischen den West- und Ostalpen gibt es gewaltige kleinräumige Differenzen. Insgesamt beruht das Einkommen nur in etwa zehn Prozent der Alpengemeinden direkt auf Tourismus. Fast die Hälfte aller Gästebetten ist auf fünf Prozent der Gemeinden konzentriert, und 37 Prozent besitzen keine einzige Übernachtungsmöglichkeit.
Die Alpen bilden auch heute noch einen der grossartigsten Landschaftsräume Europas mit einem immensen natürlichen und kulturellen Erbe. In ihrer touristischen Übernutzung sind manche Teile der Alpen in den vergangenen Jahrzehnten aber auch zum Beispiel einer nicht zukunftsfähigen Entwicklung geworden. Über sieben Millionen Betten, über 10’000 Bergbahnen und Skilifte, Tausende von Erschliessungsstrassen und grossflächige Infrastrukturen wie künstliche Beschneiungsanlagen und Golfplätze zeugen davon. Und trotz stagnierender Nachfrage im klassischen ski-orientierten Wintertourismus sollen Skigebiete und Kapazitäten weiter ausgebaut werden.
Heute ist der Alpentourismus in einer paradoxen Situation: Die Alpen gelten einerseits als Hort einer intakten Umwelt, müssen aber andererseits die notwendige und hochwertige Infrastruktur bereitstellen, die TouristInnen erwarten. Dieser Zwiespalt zwischen Erhalt und Entwicklung beeinflusst die Positionierung der Alpen auf dem internationalen Tourismusmarkt. Die Alpengebiete sind hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, ihre besonderen Merkmale, die Touristinnen anziehen – vor allem ihre Natur und Landschaft– zu erhalten, und der Versuchung, die Entwicklung voranzutreiben und mit den Trends in Bezug auf wirtschaftliche und soziale Standards mitzuhalten. Innovation ist hierbei relativ wenig auszumachen.
Zum Thema Klimawandel und (Winter-)Tourismus ist an sich alles geschrieben und gesagt. Die insgesamte Erwärmung der Alpen ist Realität, auch wenn sie hie und da relativiert wird, ebenso die Tatsache, dass höher gelegene Skigebiete weniger davon betroffen sind und profitieren könnten, weil TouristInnen dorthin ausweichen. Viele andere, tiefer gelegene Regionen sollten eher bald neue Wege abseits des traditionellen alpinen Skitourismus gehen. Angesichts des Bevölkerungswachstums und der globalen Entwicklung im Tourismus dürfte auch der Tourismus- und Freizeitverkehr in den Alpen weiter zunehmen. 75 Prozent der touristischen CO2-Emissionen gehen auf das Konto des Verkehrs; 84 Prozent der Urlaubsreisen in den Alpen werden mit dem eigenen Auto unternommen. Allerdings gibt es grosse Unterschiede zwischen den Alpenländern. In der Schweiz etwa profitieren TouristInnen, aber auch Einheimische von einem gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsnetz. Doch alpenweit betrachtet nimmt das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln insbesondere in ländlichen Regionen eher ab, wie die CIPRA in ihrem Positionspapier zum Wintertourismus 2017 feststellt (siehe Kasten). Bis 2030 wird von verschiedenen Quellen ein weiterer Anstieg des Freizeitverkehrs um mindestens 30 Prozent prognostiziert. 2065 wird der weltweite Tourismus für sämtliche CO2-Emissionen verantwortlich sein, die wir, mit dem Zwei-Grad-Erwärmungsziel vor Augen, emittieren dürfen.

Die Neuerfindung

Die treibenden Kräfte in der aktuellen Intensivierung der Entwicklungsspirale finden sich vorwiegend in der Tourismuswirtschaft, deren Betriebe sich in einem zunehmenden Konzentrationsprozess befinden. Die steuernde Hand einer Tourismus- und Raumplanungspolitik ist heute kaum mehr zu spüren – im Gegensatz zu in den 1980er und 1990er Jahren, als diverse Seilbahnmoratorien oder der bayerische Alpenplan dem masslosen Ausbau der Infrastruktur einen Riegel schoben. Kritische zivilgesellschaftliche Stimmen werden allzu rasch als Nestbeschmutzer aus den warmen städtischen Studierzimmern abgetan, anstatt dass alle Beteiligten an gemeinsamen Lösungen arbeiten.
Seit langem sind im Alpenraum auch innovative touristische Ansätze und Projekte entstanden, die versuchen, den vorherrschenden Trends nachhaltige Alternativen entgegenzustellen. Sehr oft sind es Pionierinnen, Widerständler, Querdenkerinnen und so genannte Querulanten, die mit Beharrlichkeit und Chuzpe vorher scheinbar Undenkbares schaffen. Teils sind es europäische Mittel, die über Struktur- und Landwirtschaftsfonds in solche Vorzeigeprojekte
fliessen. Es ist aber höchste Zeit, über Pilotmodelle und gute Beispiele hinaus zu einem flächendeckenden Ansatz für Nachhaltigkeit im Alpentourismus zu kommen. Mit nach gängigen Schätzungen knapp 100 Millionen BesucherInnen im Jahr und einer touristischen Wertschöpfung, die jährlich bei rund 50 Milliarden Euro liegen dürfte, sind die Alpen gemäss dem gebräuchlichen Destinations-Zyklus-Modell von Butler in der Sättigungs- und Stagnationsphase angelangt. Der Alpentourismus muss sich also bald einmal neu erfinden – und dabei an den eigenen kulturellen und natürlichen Ressourcen ansetzen und sich an Nachhaltigkeit orientieren – oder eine Schrumpfungsphase in Kauf nehmen, wie wir sie bereits in einigen Sommer- wie Wintersportdestinationen erleben. Ein neuer, innovativer, ganzheitlicher Gesundheitstourismus – jenseits des traditionellen Kurwesens – könnte dabei ein Schlüsselelement sein. Dieser schafft einerseits ganzjährig ausreichend regionale Wertschöpfung, andererseits benötigt er im eigenen Interesse langfristig eine gesunde, möglichst naturnahe Landschaft und Umwelt. Zur umfassenden Nachhaltigkeit fehlt dann «nur mehr», wertschätzende Arbeitsbedingungen im Tourismus zu schaffen.

Christian Baumgartner, Vize-Präsident CIPRA International (Text), Bilder: Hans Peter Jost, www.alpen-blicke.ch

CIPRA agiert auf mehreren Ebenen
Tourismusgemeinden in den Alpen stehen vor schwierigen Entscheidungen: ausgetretenen Pfaden folgen, einen sanften Wandel einläuten oder eine Kehrtwende vollziehen? Die Online-Präsentation auf alpmonitor.cipra.org skizziert exemplarisch einen solchen Entscheidungsprozess anhand einer fiktiven Region und zeigt Stolpersteine und Lösungswege auf. Diese werden im Web-Dossier «Wintertourismus in den Alpen» ergänzt durch Hintergrundinformationen und weiterführende Links.
In der aktuellen Debatte um die Zukunft des alpinen Tourismus fordert die CIPRA im Positionspapier «Sonnenwende im Wintertourismus» eine nachhaltige Strategie, welche die Begrenztheit der Ressourcen respektiert und innovative Ansätze fördert. Wichtig ist Betroffene einzubeziehen: Im I-LivAlps-Workshop in Lecco/I, an der Tourismuskonferenz in Sonthofen/D oder an einem Forum in Bern/CH bot die CIPRA jungen Erwachsenen, ExpertInnen und Tourismus- VertreterInnen eine Plattform, um über Chancen und Herausforderungen im Tourismus zu diskutieren. Mit gutem Beispiel voran gingen junge Erwachsene mit dem «Youth Alpine Express»: Sie reisten nachhaltig durch die Alpen und griffen so Mobilität als wichtigen Aspekt des Tourismus auf. Zu Fuss ist wohl die umweltfreundlichste Art zu reisen:
Der von CIPRA verwaltete Weitwanderweg Via Alpina öffnet die Augen für nachhaltigen Tourismus, ebenso wie die alpenquerende Wanderung «whatsalp».

www.cipra.org/wintertourismus

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