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Wissen, wie man Klima macht

13.07.2012 / CIPRA Internationale Alpenschutzkommission
Klimaschutz ist möglich. Nur wissen viele nicht, wie. Die CIPRA zeigt, wie man das Klima schützen und damit erst noch Geld sparen kann. Geübt wird das Ganze in Pilotregionen in den Alpen.
Wissen, wie man Klima macht
Bild Legende:
Radeln fürs Klima: Bozen setzt auf den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und auf die Sanierung von Gebäuden. © Heinz Heiss
"Das Klima zu verändern kostet ein Schweinegeld", sagt Helmuth Moroder und grinst dabei, als würde ihn dieser Sachverhalt nicht sonderlich einschüchtern. Im Grunde aber formuliert er eine Ungeheuerlichkeit: Wer könnte sich schon einbilden, Einfluss aufs Klima nehmen zu können? Dabei macht der schlanke, mittelgrosse Brillenträger im karierten Jackett eigentlich keinen grössenwahnsinnigen Eindruck. Sein Büro ist klein - allemal für seine Funktion als Verwaltungschef von Bozen.
Der Grund seiner Berufung Anfang 2011 hatte viel damit zu tun, dass Moroder das "Klima verändern" will und dem Gemeinderat vorrechnen konnte, wie die Stadt, indem sie Geld für Klimaschutz ausgibt, noch viel mehr Geld einsparen kann. Er initiierte eine historische Abstimmung, bei der alle 50 Gemeinderäte in seltener Einstimmigkeit für das Gesetz "Energetische Sanierung des Baubestandes" votierten.
Moroder mag Statistiken. "Diese hier hat den Gemeinderat überzeugt", sagt er, und öffnet ein Fenster am Computer. Die Zahlen besagen, dass Bozen in den nächsten zwanzig Jahren durch die Sanierung von Gebäuden und den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs 160 Millionen Euro Energiekosten einsparen kann. Moroder weiss natürlich, dass für solche Einsparungen zuerst mal ordentlich investiert werden muss. Häuserwände müssen in ganz Bozen isoliert, Fenster mit Doppelverglasung eingebaut werden, Strassenbahnlinien gebaut und Fahrradwege angelegt werden. Der Vorteil: Das lokale Handwerk profitiert von solchen Baumassnahmen und nach zwanzig Jahren haben sich alle Kosten amortisiert. "Besser wir investieren das Geld in den Klimaschutz, als es den Kamin hinauf zu jagen."
Ob Moroders "Energieplan" aufgeht, hängt natürlich davon ab, ob die Eigentümer der Gebäude tatsächlich bereit sind, die Investitionen für die Sanierung zu tätigen. Auch hier hat der Gemeinderat vorgesorgt. Vereinfacht gesagt sieht das Gesetz vor, dass Bozen um ein Stockwerk in die Höhe wachsen darf, wenn die Energiewerte stimmen. Ein attraktives Angebot im extrem dicht besiedelten, von Bergen eingekesselten Bozen. Durch den Verkauf des zusätzlichen Stockwerks können Eigentümer die Sanierung ihrer Gebäude finanzieren.
Geht der Plan auf, wird nach zwanzig Jahren in Bozen kein Gebäude mehr über 50 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr verbrauchen, auch die älteren nicht, bei denen heute 200 Kilowattstunden üblich sind. Jeder Einwohner wird statt wie heute zehn Tonnen Kohlendioxid jährlich nur noch zwei Tonnen emittieren. Auf eine Stadt von 100'000 Einwohnern gerechnet ein erheblicher Beitrag zur "Veränderung des Klimas". Würde weltweit so viel CO2 reduziert, könnten die globalen Klimaziele eingehalten der durchschnittliche globale Temperaturanstieg auf zwei Grad beschränkt werden.
Doch selbst im Alpenraum, zumindest jenseits der italienischen Grenze, ist die Initiative aus Bozen kaum bekannt. Dabei könnte sie andere Kommunen inspirieren. So wie auch die anderen Klimaschutz-Projekte, die im Alpenraum eine Antwort auf den Klimawandel suchen. Die CIPRA hat deshalb seit Juli 2011 mit einem Dutzend Partnerorganisationen das Projekt Alpstar angestossen: In den nächsten zwei Jahren wird Alpstar in einer Datenbank im Internet Vorbildprojekte dokumentieren, den Austausch zwischen Pilotregionen mittels Exkursionen und Fortbildungen inklusive Lernmaterialien fördern und einen Aktionsplan mit den Partnern in jeder Pilotregion aufsetzen.
Leitvision sind "klimaneutrale Alpen bis 2050", also eine ausgeglichene CO2-Bilanz. Auf dem Weg dorthin soll die Messlatte sukzessive höher gelegt werden: Wenn die Erfahrungen der Best Practice-Beispiele in den Pilotprojekten für einzelne Sektoren wie Verkehr oder Energieproduktion dokumentiert sind, dienen sie als Massstab für den gesamten Alpenraum.
Der Handlungsbedarf im Klimaschutz ist offensichtlich: Im Alpenraum sind die Temperaturen in den vergangenen hundert Jahren fast doppelt so stark gestiegen wie im globalen Durchschnitt, nämlich um rund zwei Grad Celsius. In dem empfindlichen alpinen Ökosystem sind die Folgen der Klimaerwärmung heute schon an schmelzenden Gletschern, aussterbenden Tier- und Pflanzenarten zu beobachten. Sie werden sich dramatisch verschärfen.

Umkehr im Verkehr
16 Uhr 30. Schaan, Liechtenstein. Ein Bus der Linie 70 steuert die Haltestelle in der Bendererstrasse an, direkt vor der Zentrale des Zahntechnik-Unternehmens Ivoclar Vivadent. Zu dieser Uhrzeit ist Schichtwechsel, eine Traube von Mitarbeitern steigt in den Pendlerbus. Seine Taktzeiten sind auf die Arbeitszeiten der Firmen im Industriegebiet abgestimmt. Die Unternehmen des Fürstentums ziehen Arbeitnehmende aus der ganzen Region an, die Hälfte davon kommt über die österreichische oder die Schweizer Grenze. Alpstar hat das Dreiländereck deshalb als Pilotregion zum Thema "Pendlerverkehr" definiert.
Viktoria Müller, 20, Buchhalterin bei Ivoclar, pendelt täglich zwanzig Minuten von Feldkirch über die österreichisch-liechtensteinische Grenze nach Schaan und wieder zurück. Früher hätte sie am Postplatz in Schaan umsteigen müssen und viel Zeit verloren. "Ohne die Buslinie 70 würde ich das Auto nehmen", sagt sie. Um Autofahrer wie Viktoria Müller zu ködern, hat der Verkehrsverbund Vorarlberg die Pendlerbusse eingerichtet. Deren Start ging eine intensive Recherche voraus. Gerhard Kräuter vom Verkehrsverbund Vorarlberg erinnert sich: "Wir sind in die Betriebe gegangen, haben die Schichtwechsel studiert und die Zeit, die ein Mitarbeitender bis zur Umkleide braucht und von dort zur Haltestelle."
Ein "wind of change" bläst durch Vorarlberg. Die Akzeptanz für solche Initiativen ist in diesem Bundesland hoch. Allerorten werden neue Verkehrskonzepte und nachhaltige Formen des Wirtschaftens erprobt, auch von privaten Unternehmen. Vor der dreissig Meter hohen Glasfassade des Handelshauses Haberkorn radelt ein Dutzend Mitarbeiter morgens mit dem Jobrad vor, einem Fahrrad, das vom Unternehmen gestellt wird. Nach der Anfahrt mit der Bahn verkürzt das Jobrad den Weg vom Bahnhof von zehn Gehminuten auf zwei Velominuten. Auch die Jahreskarte stellt die Firma. Viele Mitarbeiter lassen seither das Auto zuhause.
"Ich spare durch Bahn und Jobrad zehntausend Autokilometer im Jahr", sagt Helmut Wetschko. Er ist Leiter der Logistik und lebt im 22 Kilometer entfernten Klaus. Noch wichtiger als jede ökologische Rechnerei ist ihm die Lebensqualität: "Wenn ich Bahn fahre, habe ich Zeit zu lesen." Seine aktuelle Lektüre: "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen". Ein halbstündiger Ausflug nach Zentralasien jeden Morgen und Abend.
In einem lichten Seminarraum des Energieinstituts Vorarlberg tagt ein Dutzend Akteure aus den örtlichen Verkehrsbetrieben, Landesverwaltungen, Verkehrsclubs oder Stiftungen zum Thema Verkehrskonzepte in Vorarlberg, Liechtenstein und dem Kanton St. Gallen. Sie versuchen, aus der Vielzahl der Einzelinitiativen wie Pendlerbus und Jobrad eine Verkehrs- und Kommunikationsstrategie im gesamten Dreiländereck zu entwickeln. Organisiert hat den Workshop die CIPRA gemeinsam mit dem Energieinstitut Vorarlberg. Sie hat von Liechtenstein und St. Gallen den Auftrag, die Mobilitätskampagne in diesen Regionen durchzuführen, während das Energieinstitut dasselbe in Vorarlberg tut. In der Projektlaufzeit werden Alpstar-Partner aus anderen Pilotregionen nach Vorarlberg kommen und sich die Ergebnisse der Kampagne dort anschauen und vice versa.
"Letztlich wollen wir erreichen, dass die Leute ihr Mobilitätsverhalten ändern", fasst Wolfgang Pfefferkorn das Ziel der Gruppe zusammen. Wolfgang Pfefferkorn ist Projektleiter von Alpstar bei der CIPRA und weiss sehr wohl, dass ein so ehrgeiziges Ziel eine unkonventionelle Herangehensweise verlangt. Sein Partner Martin Reis vom Energieinstitut springt ihm bei: "Die Menschen müssen einen Nutzen in der Verhaltensänderung sehen. Langfristig prägt die Verhaltensänderung eine soziale Norm, wie zum Beispiel die, dass Fahrrad fahren zum Lebensstil gehört und nicht länger als Armeleute-Fortbewegung verpönt ist."
Die Teilnehmer jonglieren mit Erfahrungen und Ideen: Vielleicht sind Pendler an einem WLAN-Zugang interessiert? So könnten sie auf dem Weg zur Arbeit auf ihrem Laptop Nachrichten lesen oder E-Mails checken. Hochwertige Fahrräder und Elektroautos könnten Menschen ihres Designs wegen ansprechend finden. Die Gruppe legt ein geografisches Dreieck fest, für das ein Mobilitätskonzept erstellt wird. Die Eckpunkte: Buchs in der Schweiz, Feldkirch in Österreich und Schaan in Liechtenstein.

Die Messlatte
Die Datenbank mit Best Practice-Beispielen von Alpstar beschränkt sich nicht nur auf die Pilotregionen. Beispielsweise ist zum Thema Energie und Bürgerbeteiligung der Walliser Bezirk Goms gelistet, der sich erfolgreich als "erste Energieregion der Schweizer Alpen" positioniert und im Rahmen eines EU-Leader-Projektes auch mit der CIPRA zusammenarbeitet. In den 13 Gemeinden mit rund 5'000 Einwohnern haben sich Leuchtturmprojekte wie ein Fuhrpark mit Elektroautos für Touristen durchgesetzt, Photovoltaik-Anlagen auf Lawinenverbauungen, Holzschnitzelheizungen und Windkraftwerke. Jedes Projekt vermeidet den Einkauf von Energie, die ausserhalb des Goms produziert wird, und fördert lokale Produzenten und Handwerker für die Installation und Instandhaltung der Anlagen. Die Ausgaben der Haushalte sinken, die Einnahmen der lokalen Firmen steigen.
Alpstar wird die Best Practice-Beispiele in Form von Kenngrössen und Zielen so verdichten, dass Regionen miteinander vergleichbar werden. Bis 2050, so der Ehrgeiz, soll das, was heute Vorbild ist, zum Mindeststandard für den gesamten Alpenraum geworden sein.
Verwaltungschef Helmuth Moroder hat in Bozen erlebt, wie eine ehrgeizige Vision eine eigene Dynamik entwickeln kann. "In unserem Bewerbungsdossier für die Alpenstadt des Jahres 2009 war Klimaneutralität bis 2030 als Ziel formuliert", sagt er. "Als wir dann tatsächlich ernannt wurden, mussten wir auch etwas tun. Also haben wir den Energieplan entwickelt", erinnert sich Helmuth Moroder, der damals grüner Gemeinderat war.
Nun ist er gespannt, welche Dynamik Alpstar entfalten wird. Er weiss, wie schwierig die Zeiten sind: "Den Menschen geht es zum ersten Mal seit Jahrzehnten wirtschaftlich schlechter als den Generationen vor ihnen." Gute, pragmatische Ideen sind gefragt. An seinem Lächeln lässt sich ablesen, dass ihm diese Herausforderung keine allzu grossen Sorgen bereitet.

Tilman Wörtz (Text) und Heinz Heiss (Fotos), Zeitenspiegel Reportagen



Mit Alpstar zu einem CO2-neutralen Alpenraum
13 Partner aus dem Alpenraum, darunter der Verein "Alpenstadt des Jahres" und die Pilotregion Vorarlberg-Liechtenstein-St.Gallen, zeigen gemeinsam Wege auf, wie der CO2-Ausstoss im Alpenraum effektiv reduziert werden kann. Mit Alpstar will die CIPRA gemeinsam mit den Projektpartnern einen Beitrag zur Umsetzung des Klima-Aktionsplans der Alpenkonvention leisten, den sie selber angestossen hatte. Das Projekt läuft von Juli 2011 bis März 2014 und hat ein Gesamtbudget von 2,8 Mio. Euro, davon steuert die EU 1,9 Mio. Euro bei.
www.cipra.org/alpstar www.alpstar-project.eu