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Der Sündenfall des Musterschülers

16.11.2010 / Matthias Göschke
S 36 / S 37: Österreichs verkehrspolitische Selbstdemontage - «Keine neuen Alpenautobahnen!» forderte Österreich einst. Nun legt das Alpenland mit der S 36 / S 37selber ein Milliardenprojekt vor, das jeglicher verkehrspolitischen Vernunft widerspricht. Welche Interessen und Verflechtungen können hinter einem solchen Megaprojekt stehen?
Sündenfall des Musterschülers
Bild Legende:
Sündenfall des Musterschülers © Florian Wallner
Erinnert sich noch jemand? Österreich war in den 1990er Jahrender hartnäckigste Verhandler, als es um das Verkehrsprotokoll zur Alpenkonvention und dort um das Verbot des Baus neuerAlpenautobahnen ging. Vor allem Umweltorganisationen kritisierten diese starre Haltung mit dem Argument, die österreichische Blockade gefährde die übrigen Protokolle. Österreich gewann jedoch schliesslich den Verhandlungs-poker und konnte das Autobahnbauverbot durchsetzen. Mit diesem Verbot sollten künftig Megastrassenprojekte im sensiblen Alpenraum ein für alle Mal ausgeschlossen werden.Umso mehr erstaunt es, dass Österreich nun mit dem geplanten Bau der Verbindungsstrasse S 36 / S 37 mit einem Projekt aufwartet, das dieser Haltung diametral zuwiderläuft.
Die S 36 / S 37 ist ein aktuelles österreichisches Schnellstrassen-projekt, mit dem für rund 2,8 Milliarden Euro eine neue, durchgehend hochrangige Verbindung vom Wiener Raum durch die Alpen über den Semmering, das Mürz- und Murtal und den Naturpark Zirbitzkogel-Grebenzen nach Mittelkärnten und Norditalien geschaffen werden soll. Die neue Verbindung wäre gegenüber der bestehenden über Graz um rund 30 Kilometer kürzer. Dadurch würde erheblich mehr Verkehr von anderen Strecken ausserhalb des Alpengebiets in die Alpen hinein verlagert – mithin das Gegenteil dessen geschehen, was das Verkehrsprotokoll ursprünglich bezweckte. Die Auswirkungen der neuen alpenquerenden Verbindung wären gravierend. Der Verkehr in der Region würde sich verdrei-, der Schwerverkehr gar vervierfachen. Für die S 36 / S 37 wird mit rund 6’700 Lastwagen pro 24 Stunden gerechnet. Das sind etwa zehn Prozent mehr als 2009 am Brenner. Eine wertvolle Natur-parkregion würde unwiederbringlich zerstört. Das enge Mürz- und das Murtal würden zu einem «zweiten Inntal», wo es infolge der relativ engen Talverhältnisse und des Nord-Süd-Transits in den letzten 30 Jahren zu einer unerträglichen Dauerbelastung der Menschen kam, und die Anrainer die in den 1960er Jahren geäusserte Zustimmung zu dem Projekt auf das Tiefste bereuen. Die Immissionen würden den vorhandenen sanften Tourismus dauerhaft beseitigen – und dieösterreichische Autobahn- und Schnellstrassen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft ASFINAG würde ein Defizit von rund 180 Millionen Euro pro Jahr erwirtschaften. Fest steht: Für das Projekt besteht kein verkehrspolitischer Bedarf.
Was kann verantwortliche Entscheidungsträger dazu bringen, derartige Megaprojekte gegen jede Notwendigkeit, gegen jede Vernunft, gegen den klaren Wortlaut des Verkehrsprotokolls zur Alpenkonvention und gegen den Willen der Bevölkerungs-mehrheit zu forcieren? Eigentlich nichts, möchte man meinen. Dass es Organisationen gibt, die am Bau derartiger Mega-projekte verdienen, ist offenkundig. Wie weit deren Einfluss reicht, darüber kann spekuliert werden. Wenn ein Projekt von der breiten Öffentlichkeit als sinnlos und unwirtschaftlich eingeschätzt wird und weitgehend unerwünscht ist, dann hat aber auch solcher Einfluss seine Grenzen. Tatsächlich wird das Projekt von politischer Seite derzeit offenbar nur noch von der steirischen Verkehrslandesrätin Kristina Edlinger-Ploder forciert.

Wer profitiert?
Der Grund, warum die Verkehrslandesrätin den Bau der S 36 / S 37 vorantreibt, war in Medienberichten nachzulesen: Durch die Verlagerung des Verkehrs von der Landesstrasse auf die Schnellstrasse erwartet Edlinger-Ploder eine Entlastung ihres Strassenbudgets. Landesstrassen müssen nämlich vom Land erhalten werden, während Schnellstrassen von der ASFINAG bezahlt werden. Schätzungen für das erste Teilstück von 22 Kilometern gehen von Einsparungen von jährlich rund 200’000 Euro für das Verkehrsressort aus. Gleichzeitig entstünde der ASFINAG, und damit letztlich durch Steuer- und Dividendenrückgang dem Alleinaktionär Bund, wegen der Kosten der Finanzierung, der Erhaltung und des Betriebs dieses Strassenstücks ein jährlicher Aufwand von rund 40 Millionen Euro – was aber dem Land Steiermark vollkommen egal ist.
Schlimmer noch: Durch den Bau würde das Land Bundeszuschüsse von rund 1,1 Millionen Euro pro Jahr verlieren – was aber offenbar dem steirischen Verkehrsressort völlig gleichgültig ist, weil mit diesem Verlust nicht sein Verkehrsbudget, sondern nur ganz allgemein das Landesbudget belastet wird. Im Ergebnis heisst das: Damit das steiermärkische Verkehrsbudget um rund 200’000 Euro pro Jahr entlastet wird, nimmt man Verluste des Landes von rund 1,1 Millionen Euro und Verluste des Bundes von 40 Millionen Euro pro Jahr in Kauf.

Recht um jeden Preis?
Ob nun skandalös, dreist oder einfach gewitzt – das Vorgehender Verkehrslandesrätin findet Unterstützung in einer jüngst ergangenen Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes (V 78/09): Dieser kommt mit beachtlicher Methodik – u.a. werden bestehende Gesetze einfach nicht angewandt – zu dem (vorläufigen) Ergebnis, dass die Schnellstrasse gebaut werden darf. Wenn jemand glauben sollte, es habe dabei eine Rolle gespielt, dass eine Richterin des Verfassungsgerichtshofes gleichzeitig Aufsichtsratspräsidentinder ASFINAG und ausserdem Gesellschafterin einer der grössten österreichischen Zementhersteller ist, der noch dazu drei Werke in unmittelbarer Nähe zu der geplanten Schnellstrasse hat, so ist das natürlich reine Spekulation, die durch nichts zu beweisen ist. Ebenso ist es eine unbeweisbareUnterstellung, das Ergebnis der Entscheidung könnte etwas damit zu tun haben, dass jener Referent des Verfassungs-gerichtshofes, der die Entscheidung im Entwurf vorbereitete,von der Partei von Verkehrslandesrätin Edlinger-Plodernominiert worden war, die auch in Zukunft einen nicht gänzlich vernachlässigbaren Einfluss auf den weiteren Karriereverlauf des betreffenden Richters haben könnte. Dementsprechend distanziert sich der Autor von allen derartigen unbeweisbaren Vermutungen, Spekulationen und Unterstellungen.

aus: Szene Alpen Nr. 94 (www.cipra.org/de/alpmedia/publikationen/4542)