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«Wir müssen uns an die Berge anpassen»

16.11.2010 / Alexandre Mignotte
Über Laurent Chappis (Chambéry/F), einen Baumeister, der in Courchevel den ersten französischen Retortenskiort plante und die Alpen für jedermann erfahrbar machen will. Das Megaprojekt des «Anarchitekten»: eine humanistische Vision der Berge.
Laurent Chappis
Bild Legende:
Laurent Chappis © Jean-Francois-Lyon-Caen
Als Kind hatte man ihm gesagt, er sei zu kränklich und daher nicht für das Gebirge geschaffen. Laurent Chappis hat die Berge zum Inhalt seines Lebensgemacht und dabei immer wieder Grenzen überwunden, körperliche wie geistige. 1946 baute der Architekt im französischen Savoyen sein erstes Ressort. Geplant in Kriegsgefangenschaft, gebaut auf der grünen Wiese, wurde «Courchevel 1850» zum Exempel für alpine Wintersportanlagen: Die Gebäude, angeordnet nach ihren Funktionen, sind in die Landschaft integriert und direkt von der Piste aus zugänglich.

Courchevel: kapitalistische Entgleisung
Laurent Chappis wollte ein Sport- und Erholungszentrum schaffen, das allen sozialen Schichten offen steht. Und er hatte einen Ort vor Augen, an dem die Weite und Ruhe der Berge erfahrbar werden – damit sich jeder Einzelne seiner Beziehung zur Welt bewusst wird. Meter für Meter schritt er das Gelände ab, berechnete akribisch die Zahl der Betten anhand eines Koeffizienten von Skifahrern pro Hektar und Naturerlebnis.Aber «Courchevel 1850» entglitt ihm. Denn die französische Regierung wollte1960 über das Raumplanungs- und Wirtschaftsprogramm «Plan Neige» die Alpen nach ökonomischen Kriterien touristisch erschliessen. Laurent Chappis stellt nun die Entwicklung von Courchevelin Frage, kritisiert die Verbauung der Berge und bemängelt, dass «das Kapital vor der Vernunft und der sozialen Verantwortung steht». «Der Mensch», sagt er, «muss sich an die Berge anpassen. Nicht umgekehrt». Mehrmals schlägt er Sponsoren die Tür zu, steigt aus Projekten aus, will keine Zugeständnisse und Kompromisse machen.

Erlebnis «humanistischer Berg»
Der «Anarchitekt» verfolgt sein eigenes Grossprojekt: eine humanistische und grenzüberschreitende Vision der Alpen. Humanistisch, weil die Alpen das am dichtesten besiedelte und ein äusserst touristisches Gebirge sind. Grenzüberschreitend, weil sie sieben verschiedene Länder und sieben verschiedene Kulturen vereinen. Laurent Chappis geht es um den Schutz dieses Lebensraums, aber auch darum, wie man ihn für den Menschen erfahrbar machen kann. Denn der Mensch finde in den Bergen seine Selbstbesinnung und seinen Platz in der Welt. «Die ‚humanistischen’ Berge befriedigen ein Bedürfnis des Menschen, sie schaffen aber im Gegensatz zu den ‚kapitalistischen’ keines». Laurent Chappis denkt die Alpen als «Raum der Natur» mit Ruhezonen und Orten der Kultur.
Laurent Chappis steht vor dem vollen Parlamentssaal in Savoyen. Manche würden ihm abraten, in seinem Alter noch solche Einladungen anzunehmen. Er aber will von seinen Bergen erzählen, die Karten zeigen, auf denen er mit bunten Stiften die physikalischen und sozio-kulturellen Eigenheiten des «europäischen Zentralmassivs» eingezeichnet hat. Chappis ist an diesem Morgen nicht 95 Jahre alt, sondern ein Student, der die sonst stille Konkretisierung seiner Vision öffentlichmacht.

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Rebell und Visionär:
Laurent Chappis, 1915 in Aix-les-Bains/F geboren, ist einer der Schöpferdes renommierten Skiressorts «Cour-chevel 1850» in den französischen Alpen. Der Architekt beeinflusste seit den 1950er Jahren die touristische Raumplanung in den Alpen. Weil er in seinen Projekten die wirtschaftliche Rentabilität der Ästhetik und dem Erlebnis Natur unterordnete, wurde Laurent Chappis von seinem Biografen «Anarchitekt» genannt. Anfang 2011 erscheint mit «Die europäischen Alpen» der letzte von sechs Bänden über seine Vision der «humanistischen Berge». Der 95-Jährige lebt heute in Chambéry.
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aus: Szene Alpen Nr. 94 (www.cipra.org/de/alpmedia/publikationen/4542)