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Natur und Landschaft genügen nicht mehr!?

18.12.2009 / Werner Bätzing
In einer Zeit des Überflusses ist Aufmerksamkeit das knappste Gut. Eine Inszenierung ist ein probates Mittel, um sie sich zu sichern. Sie hat im globalen Kontext noch an Bedeutung gewonnen. Welches sind die Mechanismen, die zur zunehmenden Inszenierung der Alpen führen, und welche Auswirkungen hat diese auf unser persönliches Erlebnis?
Inszenierung Rettenbachgletscher
Bild Legende:
Die Inszenierung des Schauspiels «Hannibal » auf dem Rettenbachgletscher. © Lois Hechenblaikner
Das Wort "Inszenierung" wird heute als Modewort sehr häufig gebraucht. Schlägt man in einem nicht ganz neuen Lexikon nach, so findet man unter "Inszenierung" nur "das Inszenesetzen, die Gesamtheit der Vorbereitungen zur Aufführung eines Theaterstücks". Dies entspricht dem aktuellen Sprachgebrauch offensichtlich nicht mehr. Deshalb ist es wichtig, zunächst einmal zu klären, was dieses Phänomen meint, bevor wir zur Inszenierung der Alpen kommen.
Jahrtausende lang war das Wirtschaften der Menschen von Knappheit geprägt. Das zentrale Problem bestand darin, die gewünschten Güter überhaupt oder zu einem angemessenen Preis kaufen zu können. Mit der Industriellen Revolution wird dann die Güterproduktion extrem verbilligt, aber es dauert noch bis in die 1970er Jahre, bis die Knappheit beseitigt und der Überfluss selbstverständlich geworden ist. Dies läuft zeitgleich mit dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft oder von der Moderne zur Postmoderne ab, was mit grundlegenden Veränderungen auch bei den Verhaltensweisen der einzelnen Menschen verbunden ist.
Bei der Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse spielt ab jetzt der Kauf von Gütern und Dienstleistungen die zentrale Rolle. Angesichts des immer grösser werdenden (Über-) Angebots wird es für den Konsumenten immer wichtiger, das für ihn beste Angebot zum günstigsten Preis zu finden und dabei immer mehr und immer neue Möglichkeiten auszuprobieren. Deshalb wachsen mit dem steigenden Angebot auch die Bedürfnisse mit. Gleichzeitig wird die Angst immer grösser, in der Überfülle das beste Angebot zu verpassen. Für die Verkäufer ist die Entwicklung mit dem Zwang verbunden, für seine Angebote werben zu müssen. Aber die normale Produktwerbung reicht jetzt nicht mehr - die Angebote müssen "in Szene gesetzt", inszeniert werden, um überhaupt die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu ziehen, denn diese Aufmerksamkeit ist in der Postmoderne das knappste Gut. Und dies gelingt nur, wenn man starke Gefühle mit einem Produkt, einer Ware verbindet wie das Gefühl von Freiheit und Abenteuer mit einer Zigarette, das Glück des Landlebens mit einem Joghurt oder das Versprechen der Erotik mit einem Körperpflegemittel. Inzwischen lösen sich die Inszenierungen immer öfter von einer direkten Werbung, indem Automobilkonzerne am Firmensitz eine "Erlebniswelt Autostadt" errichten, in der die Welt des Automobils gefeiert wird, oder indem Städte von Stararchitekten besonders spektakuläre Bauten errichten lassen, um ihre Innovationsfähigkeit zu symbolisieren. In der Postmoderne sind solche Inszenierungen inzwischen in allen Bereichen zur Selbstverständlichkeit geworden.

Frühe Inszenierungen der Alpen
Mit der Entstehung des Massentourismus in den Alpen in der Belle Epoque von 1880 bis 1914 gibt es bereits erste, noch punktuelle Ansätze für Inszenierungen. Die Bergbahn auf den Aussichtsberg Muottas Muragl auf 2453 Meter über Meer im Oberengadin/CH aus dem Jahr 1907 ist dafür ein anschauliches Beispiel: Anstatt selbst zu Fuss auf den Berg zu gehen, kauft man eine Fahrkarte für die Bergbahn, um das Erlebnis zu steigern. Man kauft sich damit gleichzeitig mehr Gipfelerlebnis in kürzerer Zeit bei weniger Anstrengung. Zusätzlich wird der Blick von diesem Gipfel in Form von Gemälden, Zeichnungen, Fotografien, Postkarten usw. (künstlerisch) überhöht und zu einem Symbol der Alpen schlechthin aufgewertet. Man muss es einfach gesehen haben, und das Gipfelerlebnis wird mittels Candle-Light-Dinner im Restaurant, Musik-, Folklore- und Sportdarbietungen noch vervielfältigt, so dass bereits beim Kauf der Fahrkarte garantiert ist, dass wir oben am Berg das gewünschte optimale Erlebnis auch wirklich bekommen.
Damit wird das eigentliche Erlebnis - wie das eines unbekanntenNachbargipfels mit ähnlicher Aussicht - entwertet. Ein gekauftes Gipfelerlebnis ist ja immer von vornherein garantiert. Es ist noch dazu ein Produkt, dessen Prestige umso höher wird, je mehr Menschen es nachfragen. Und damit kann das eigene, private Erlebnis nicht mehr konkurrieren, es sei denn, ich vermarkte es selbst im grossen Stil wie dies manche Bergsteiger tun. Diese machen aus ihrem persönlichen Berg- oder Wandererlebnis ein käufliches Produkt und erfinden sich dadurch selbst als "Marke", sodass das persönliche Erlebnis sozusagen ein Markenprodukt wird.

Hauptsache, man kommt in die Schlagzeilen
Viele Jahrzehnte lang stehen das persönliche und das gekaufte Gipfelerlebnis problemlos nebeneinander, weil aus Kostengründen meist nur eine einzige Seilbahnfahrt pro Urlaub gemacht wird. Damit bleibt die persönliche Erfahrung stark. Erst in der Postmoderne, in der die Bedürfnisse auf Grund stark zunehmender Angebote mitwachsen, setzt die Entwertung des eigenen Erlebens ein. Und jetzt wird der klassische Sommerurlaub in den Alpen langweilig, weil er zu wenig Erlebnis bietet. Und da gleichzeitig das moderne Gipfelerlebnis mit Seilbahn bereits bekannt ist und im Vergleich zu den neuen Urlaubszielen weltweit wenig attraktiv ist, gehen die Sommernächtigungen stark zurück. Das historische Maximum wird in den österreichischen Alpen im Jahr 1980 erreicht. Marketingfachleute sehen die Ursachen für diese Probleme:
- in der Bekanntheit der Alpen - die Menschen möchten permanent neue Angebote und neue Erlebnisse.
- im verstaubten Sommerimage - nur Landschaft, Natur und Wandern allein geben zu wenig her.
- in der Wetterabhängigkeit der Angebote - bei Regen gibt es keine Erlebnisse.
- in der Austauschbarkeit der Sommerangebote - es gibt keine weltweit einzigartigen Highlights.

Oder kurz: Im Vergleich zu Konkurrenzprodukten bieten die Alpen zu wenig Erlebnisse. Deshalb empfehlen Fachleute den Alpen seit einiger Zeit das, was derzeit auf dem europäischen Freizeitmarkt bereits sichtbaren Erfolg bringt: Erlebnissteigerung mittels Grossevents und Freizeitparks. Dafür gibt es inzwischen zahlreiche Beispiele. Grossevents wie Rockkonzerte mit internationalen Stars oder Grossereignisse zur Eröffnung oder Beendigung der Saison finden inzwischen auch im Sommer in der Hochgebirgsregion und in der Nähe der Bergstationen von Bergbahnen statt. Bergstationen von Bergbahnen werden immer öfter zu Erlebnisparks ausgebaut mit grossen Kinder- und Abenteuerspielplätzen, Streichelzoos, Hochseilgärten, Gokartbahnen sowie Sommerrodelbahnen und neuen technischen Geräten, die an Fahrgeschäfte auf Volksfesten erinnern.
Ergänzend dazu werden Aussichts- und Panoramakanzeln auf Berggipfeln in der Nähe von Bergbahnen errichtet, um das Erlebnis der Aussicht zu verbessern und zusätzliche Dinge vom Wetterschutz oder Restaurant bis hin zu einem kleinen Hotel anbieten zu können. Es werden mit erheblichem technischen Aufwand Erlebniswege - meist (noch) für Kinder - gebaut, die an der Bergstation beginnen. Oder es wird über nächtliche Lichtinstallationen für wichtige Symbolgipfel diskutiert. Bei einigen besonders spektakulären Projektideen geht es ganz offensichtlich gar nicht um ihre Realisierung, sondern nur noch darum, in die Schlagzeilen zu kommen und internationale Aufmerksamkeit zu erregen.
Alle diese Investitionen verfolgen das Ziel, den Sommer dadurch aufzuwerten, dass die Alpen als riesiger Freiluft-Freizeit-Park inszeniert werden. Da allerdings solche Angebote nach der internen Logik der Postmoderne permanent gesteigert werden müssen, um attraktiv zu bleiben, entsteht dabei schnell eine Investitionsspirale ohne Ende.

Welche Erlebnisse in den Alpen?
So richtig und so sinnvoll es ist, dass die Menschen in den Alpen viel erleben möchten, so sehr müssen sie zugleich aufpassen, dass die permanente Suche nach immer optimaleren Erlebnissen nicht dazu führt, dass sie gar nichts mehr erleben ausser Stress und Hektik. Und so nachvollziehbar es ist, durch Geldausgeben seine Erlebnisse zu steigern - es bleibt eine alte Erfahrung der Menschheit, dass man die wichtigsten Erlebnisse eben nicht kaufen kann.
Die Alpen stehen für die faszinierende Erfahrung einer gewaltigen Natur, die schön und zugleich bedrohlich ist. Ihr Erleben ist durch diesen Doppelcharakter geprägt: Wenn man die Alpen als "schöne" Landschaft erleben und geniessen will, dann wird das Erlebnis schnell flach und schal, wenn dabei das Widerständige und Bedrohliche dieser Landschaft fehlt. Dieses erst zwingt zur eigenen Auseinandersetzung mit der Natur und ist die Voraussetzung für tiefe und beeindruckende Erlebnisse. Es ist keine Lösung, die Alpen als Freiluft-Freizeit-Park zu inszenieren. Viel wichtiger wäre es, gezielt zu vermitteln, dass Menschen motiviert werden müssen, wieder selbst Erfahrungen zu machen anstatt Erlebnisse zu kaufen.


Werner Bätzing
Universität Erlangen-Nürnberg/D

E. Hanzig-Bätzing/W. Bätzing: Entgrenzte Welten.
Rotpunktverlag, Zürich 2005.