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«Die Liebe zur Umwelt kann auch durch den Magen gehen...»

20.03.2008 / Francesco Pastorelli
Silvio Barbero gehörte mit Carlo Petrini zu den Gründern der Slow Food-Bewegung, die Ende der 80er Jahre – als Protest gegen die globale Vereinheitlichung des Geschmacks – in Italien entstand.
Silvio Berbero
Bild Legende:
Silvio Barbero wurde 1952 in Bra, Piemont, geboren. Barbero ist Generalsekretär von Slow Food Italien; seit der Gründung des Vereins war er bei Slow Food immer in verantwortungsvollen Positionen tätig. 1990 wurde er Vorstandsvorsitzender der Firma, die für Slow Food Grossveranstaltungen wie die Messen «Salone del Gusto» und «Cheese» organisiert. Zur Zeit ist er unter anderem zuständig für Ernährungs- und Geschmacksbildung in den Schulen. Ausserdem befasst er sich für Slow Food mit Themen, die mit den Bergen zu tun haben. © Slow Food
"Slow Food" bedeutet "langsames Essen" und ist ein Begriff, der die Freude am guten Essen ausdrückt. Aber die Organisation dieses Namens ist nicht nur eine Reaktion auf das Überhandnehmen von "Fast Food". Wie entstand die Organisation?
Slow Food wurde als Verein mit dem Ziel gegründet, den Speisen und der Freude am Essen einen kulturellen Bezug zu geben. Von der Weingastronomie über die Ökogastronomie ist man zur Neo-Gastronomie gelangt, bei der es nicht nur um das Endprodukt "Speise" geht, sondern um das gesamte Produktionssystem - vom Feld bis auf den Tisch - unter besonderer Beachtung der Produktionsweise. Slow Food engagiert sich für Produktions- und Vertriebsmodelle, die im Gegensatz zu den auf Massenproduktion orientierten, standardisierten Industriemethoden (bei denen soziale und ökologische Aspekte zu kurz kommen) sowohl bei den Produkten als auch bei den Herkunftsgebieten die Qualität in den Mittelpunkt stellen. Wir glauben, dass qualitativ gutes Essen gleichbedeutend ist mit einer gesunden Umwelt.

Nach einer Studie des Zukunftsinstituts Deutschland ist Slow Food eine der 18 Strömungen, die das Leben von morgen im Bereich der Ernährung beeinflussen werden. Hätten Sie sich das vor 20 Jahren vorstellen können? Worin besteht das Geheimnis dieses Erfolgs?
Als wir Slow Food gründeten, hatten wir uns einen solchen Erfolg nicht vorgestellt, aber wir waren sicher, dass der kulturelle Bezug zum Essen, der langsam verloren ging, wiederhergestellt werden musste. Wir wussten, dass man das elitäre Niveau der Gourmets und der Fachverbände verlassen musste, um das zu erreichen. Man musste ein breites Publikum ansprechen. Einer der Erfolgsfaktoren bestand in der Wiederentdekkung der Beziehung zwischen Umwelt und Weingastronomie und in einer Aufwertung der bäuerlichen Kultur.

"Slow Food setzt sich für die Erhaltung regionaler kulinarischer Traditionen ein, die örtliche Produkte verwenden. Wie hängt die Förderung lokaler Landwirtschaftsproduktion mit der Artenvielfalt zusammen? Wie und mit welcher Zielsetzung entstand die Slow- Food-Stiftung für biologische Vielfalt?
Zahlreiche Überlegungen zum Thema Essen haben uns zu der Feststellung geführt, dass zum Schutz des guten Essens die Artenvielfalt geschützt werden muss. In einer Welt, in der jedes Jahr Pflanzen- und Tierarten verloren gehen, musste eingegriffen werden. Protest allein konnte nicht ausreichen. Wir haben immer versucht, konkrete Projekte in den Vordergrund zu stellen. Zum Schutz der Artenvielfalt und somit zum Schutz einiger Produktionen wurde die Slow-Food-Stiftung für biologische Vielfalt gegründet. Zweck der Stiftung ist die Finanzierung, Unterstützung und Förderung praktischer Initiativen und kleiner Produktionen, die durch die Globalisierung vom Aussterben bedroht sind. Lokale Wirtschaftsmodelle sollen durch das, was wir als "Ernährungsgemeinschaften" bezeichnen, wieder belebt werden und ein Gegenmodell zur globalisierten Wirtschaft darstellen. Durch die Unterstützung einiger Produktionen wird die kulturelle Vielfalt gefördert und die biologische Vielfalt geschützt.

"Inwieweit wirken sich der Beschäftigungsrückgang und die Alterung in der Landwirtschaft auf die biologische Vielfalt aus?
Die Zahlen sind dramatisch: in der Nachkriegszeit waren in Italien 50 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Jetzt sind es weniger als 5 %. In den Entwicklungsländern stehen die Landwirte am Rand des gesellschaftlichen Lebens. Mit den Bauern gehen Traditionen verloren, es geht Wissen verloren, es verschwinden spezielle Verarbeitungsverfahren und mit ihnen Tier- und Pflanzenarten. Das ist ein Notstand, der nicht nur die Artenvielfalt oder die Landwirtschafts- bzw. Lebensmittelproduktion betrifft, sondern ein Notstand, den wir als "anthropologisch" bezeichnen können. Von allen ländlichen Gebieten sind die Berge das Gebiet, das am besten in der Lage ist, Elemente biologischer und kultureller Vielfalt zu bewahren, da sich in den Bergen die industriellen Produktionsmodelle nicht durchsetzen können.

"Welche Initiativen schlagen Sie vor, um die Berglandwirtschaft und die kleinen Lebensmittelbetriebe in den Bergen zu erhalten?
Die Berge sind eines jener Gebiete, in denen wir unbedingt eingreifen müsssen, da uns die landwirtschaftliche Praxis der Berggebiete Hinweise und Instrumente geben kann, um nachhaltige Produktionsmodelle wiederzubeleben. In den Bergen besteht eine sehr enge Beziehung zwischen Gebiet und landwirtschaftlichem Erzeugnis. Eine unserer Initiativen, um insbesondere in Berggebieten einen Beitrag zum Schutz kleiner landwirtschaftlicher Produktionen zu leisten, sind die Förderkreise.

"Können Sie uns erklären, worum es dabei geht?
Wenn ein vom Aussterben bedrohtes Produkt entdeckt wird (von dem es nur noch wenige Produzenten gibt), dann setzt sich ein Förderkreis das Ziel, diese Produktion zu erhalten - eventuell indem sie kodifiziert wird, und ebenso die organoleptische Qualität des Produkts zu bewahren, um den Ansprüchen der Verbraucher zu genügen und die Produktion auch wirtschaftlich nachhaltig zu gestalten. Das Produkt des Förderkreises muss gut (Qualität für den Verbraucher), sauber (Umweltqualität) und fair (Einkommensgarantie für Erzeuge) sein. In vielen der Förderkreise wurde dieses Ziel erreicht und viele Förderkreise befinden sich in den Bergen, wie z.B. die Förderkreise für den Bitto-Käse, für die Sambucana-Schafe oder für die Esskastanien aus Calizzano.

"Wie ist der Appell zu verstehen, den der Vorsitzende von Slow Food, Carlo Petrini, anlässlich der Verleihung des Binding-Preises ausrief: "Gebt den Landwirten die Würde ihrer Arbeit zurück!!!"?
Es bedeutet, dass denjenigen, die sich mit kleinen Produktionen befassen - jene werden oft für unwichtig gehalten -, das Bewusstsein vermittelt wird, dass sie einen Wert haben. Der Wert besteht nicht nur aus dem erzeugten Lebensmittel oder in den durch die landwirtschaftliche Praxis erhaltenen Lebensmitteln, sondern er besteht in der Arbeit des Bauern, des Käseerzeugers, des Hirten. Auch der Verbraucher muss sich bewusst werden, welcher Wert in der Arbeit, mit der ein bestimmtes Agrarerzeugnis hergestellt wird, steckt. Auf diese Art baut man eine "Ernährungsgemeinschaft" auf, welche die Beziehung zwischen Verbraucher und Hersteller stärkt.

"Slow Food stellt sich entschieden gegen gentechnisch veränderte Organismen und gegen die multinationalen Unternehmen, die das Recht auf Saatgutpatentierung beanspruchen. Inwieweit stellen GVO und die Saatgutpatentierung durch multinationale Agrarkonzerne eine Gefahr dar?
Es ist bewiesen, dass die Verwendung von GVO in der Landwirtschaft das Problem des Welthungers nicht lösen kann, und dass die Produktion genetisch veränderter Pflanzen zum Verlust der Artenvielfalt führt. Die Natur bietet uns die Mittel zur Lösung aller Probleme, ohne auf Manipulationen zurückzugreifen; mit den GVO werden insbesondere die biologische Landwirtschaft und die Qualitätslandwirtschaft geschädigt. Multinationale Konzerne, die Saatgut patentieren wollen, greifen die Freiheit von Produzenten und Konsumenten an: die Natur oder die Pflanzen- und Tierarten, die das Ergebnis der jahrtausende alten Züchtungsarbeit von Bauern sind, kann man nicht patentieren.

"Was können einzelne Landwirte gegen die Übermacht der grossen Agrarkonzerne tun?
Die Landwirtschaft darf sich weder erpressen lassen noch den Konzernen unterordnen. Eine Unterordnung unter die multinationalen Agrarkonzerne würde bedeuten, zahlreiche Bauern weltweit in Armut zu halten. Einerseits appellieren wir an die Regierungen, dass sie den Aktivitäten dieser Konzerne entgegenwirken. Andererseits fördern und unterstützen wir Kampagnen zum Schutz des Saatguts wie die, die Vandana Shiva in Indien organisiert. Ein wichtiges Konzept kann in diesem Zusammenhang die Koproduktion darstellen.

"Was genau verstehen Sie darunter?
Unser Ziel ist es, aus dem Verbraucher als letztem, abseits stehendem und unbewusstem Kettenglied einen wesentlichen und einflussreichen Bestandteil des Produktionssystems zu machen. Wir wollen eine direkte Beziehung zwischen Landwirtschaft und Verbraucher herstellen. Die Verbraucherentscheidungen können die Produktionsmodelle beeinflussen. Verbraucher können "entscheiden", welches Produktionsmodell sie unterstützen, in dem sie Koproduzenten werden.

"Was halten Sie von der Degeneration des globalen Marktes: Bündner Fleisch aus dem Veltlintal, hergestellt aus brasilianischem Fleisch... "
Das Bündner Fleisch von brasilianischen Rindern ist nur eines der vielen Beispiele für eine Degeneration des globalisierten Marktes. Waren reisen durch die Kontinente und lokale Produktionen werden aufgegeben. Man muss die lokale Wirtschaft stärken und aufwerten. Das wäre vorteilhaft für Landwirte, Verbraucher, aber auch für die Umwelt.