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Die Natur kennt keine Grenzen

12.07.2007 / CIPRA Internationale Alpenschutzkommission
Die Natur in den Alpen soll besser vernetzt, Grenzen für die Wanderung von Tieren und Pflanzen sollen durchlässiger werden. Die CIPRA, ALPARC, ISCAR und der WWF wollen dafür ein "ökologisches Kontinuum" in den Alpen ermöglichen. Soeben hat die MAVA Stiftung für Naturschutz die Finanzierung eines entsprechenden Vorprojekts beschlossen.
Zersiedelung
Bild Legende:
Die Zerschneidung der natürlichen Lebensräume und der Landschaft durch Strassen und Siedlungen ist eine der wichtigsten Faktoren für die abnehmende Artenvielfalt in Europa. © Yann Kohler
Red. Die Natur hält sich nicht an Schutzgebiets- oder Staatsgrenzen. Aber durch den Bau von Strassen und Siedlungen oder durch Eingriffe in Natur und Landschaft werden die Lebensräume von Pflanzen und Tieren zerschnitten und der Austausch und die Wanderung von Tieren und Pflanzen dauernd gehemmt. Unter allen bekannten Ursachen für die abnehmende Artenvielfalt in Europa stellt die Zerschneidung der natürlichen Lebensräume und der Landschaft eine der wichtigsten Faktoren dar. Sie ist die Folge der direkten Zerstörung von Biotopen aber auch des Funktionalitätsverlusts von zerstückelten und schliesslich oft vollkommen isolierten Lebensräumen.

Alpenweiter ökologischer Verbund als Ziel
Ein ökologischer Verbund über die ganzen Alpen und darüber hinaus soll Abhilfe schaffen. Die in Europa einzigartige biologische Vielfalt in den Alpen kann auf Dauer nur erhalten werden, wenn zwischen Populationen und Lebensräumen ein Austausch möglich ist. Ein Konsortium bestehend aus der CIPRA, dem Netzwerk Alpiner Schutzgebiete (ALPARC), dem Internationalen Wissenschaftlichen Komitee Alpenforschung (ISCAR) und dem Alpenprogramm des WWF arbeitet schon seit 2002 gemeinsam an diesem Thema.
Nun bereiten sie gemeinsam ein Grossprojekt vor, in welchem sie konkrete Massnahmen für eine grössere Durchlässigkeit der von Menschen geschaffenen Grenzen und Hindernisse umsetzen wollen. Konkret sollen zusammenhängende Netzwerke von Lebensräumen und ökologischen Verbindungselementen erhalten oder wiederhergestellt und ihre Funktionsfähigkeit in der Landschaft gewährleistet werden. Gewisse für die Artenvielfalt wichtige natürliche und naturnahe Lebensräume sollen verbunden werden.

Lebensfreundlich gestaltete Flächen
Solche Verbindungen sind neben den Kernzonen, den eigentlichen Lebensräumen der Tier- und Pflanzenarten, die Schlüsselelemente eines ökologischen Netzwerks. Sie können sehr unterschiedlicher Natur sein, eines jedoch haben alle gemein: sie müssen von der Flora und Fauna problemlos als Wanderwege genutzt werden können. Beispiele sind biologische Korridore (Wildtierpassagen), extensiv genutzte landwirtschaftliche Flächen, naturnahe oder renaturierte Wasserläufe, Heckensysteme usw. Kurz und gut: Es braucht lebensfreundlich gestaltete Flächen, in denen einem harmonischen Miteinander von menschlicher Nutzung und Natur nichts im Wege steht.
Obwohl die Alpen in ihrer Gesamtheit einen zusammenhängenden Naturraum bilden, gibt es beachtliche lokale und regionale Unterschiede innerhalb des Bergmassivs. Deshalb müssen Einzelinitiativen lokal und regional angepasst sein und in einer gesamtalpinen, einheitlichen Strategie zur Schaffung eines Biotopverbunds zusammengeführt werden.

Arbeit in Testgebieten
In einem Vorprojekt, das eineinhalb Jahre dauern wird, arbeiten die vier Projektpartner nun einen Massnahmenkatalog aus, in dem die wichtigsten bestehenden und potentiellen Massnahmen zur Umsetzung eines alpenweiten ökologischen Verbunds zusammengefasst werden. Dieser Katalog dient in den verschiedenen Regionen als Übersicht über die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und als Entscheidungshilfe für situationsangepasste Lösungen.
Schon während des Vorprojekts soll in einigen Testgebieten mit der Arbeit begonnen werden, um im Hinblick auf ein Grossprojekt erste Erfahrungen mit der Umsetzung des ökologischen Verbundes zu sammeln. Die lokalen Projektträger werden beraten und unterstützt, die dabei gewonnen Erfahrungen in die Methodik eines späteren Grossprojekts eingearbeitet. In diesen ausgewählten Pilotgebieten sollen bereits konkrete Umsetzungen erfolgen. Damit wollen die vier Partner Elemente für einen gemeinsamen alpenweiten Rahmen erhalten. Ebenfalls sollen auch alle für einen alpenweiten ökologischen Verbund relevanten Verbindungen identifiziert werden. Eine aktive Öffentlichkeitsarbeit vor allem auf politischer Ebene soll dazu führen, dass das Anliegen des ökologischen Kontinuums alpenweit auf Akzeptanz stösst.

Zusammenarbeit mit der Alpenkonvention
Die 9. Alpenkonferenz (Konferenz der Umweltministerinnen und Umweltminister der Alpenstaaten und der EU) hat im November 2006 beschlossen, dass die Alpenkonvention eine "Plattform ökologischer Verbund" einrichtet. Die vier Partner werden sich intensiv in diese Plattform einbringen und mit ihr zusammenarbeiten. Nur wenn es gelingt, die Alpenstaaten und die EU von der Dringlichkeit eines ökologischen Kontinuums zu überzeugen, wird es gelingen, in einem Grossprojekt ab 2009 zu konkreten Umsetzungsarbeiten zu kommen. Und um diese geht es schliesslich, wenn ein ökologischer Verbund nicht nur auf dem Papier sondern konkret und alpenweit in der Landschaft stattfinden soll.

Was ist ein "ökologisches Kontinuum"?
Der wissenschaftlich verwendete Begriff "Kontinuum" stammt aus der Physik und Mathematik und definiert lückenlose Abfolgen. Übertragen auf den Raum bedeutet Kontinuum einen Raum ohne willkürliche Grenzen bzw. dass jede räumliche Grenze auch ein Übergang ist. Vor allem in der Botanik wird die Frage, wie z.B. Vegetationsgesellschaften gegeneinander abgegrenzt werden können, immer wieder und auch kontrovers diskutiert. Wissenschaft und Planung schaffen Grenzen und Gliederungen, die es so in der Natur nicht gibt, zum Beispiel die "Waldgrenze".
Der vom Netzwerk alpiner Schutzgebiete an seiner Netzwerktagung im Jahr 2002 eingeführte Begriff "ökologisches Kontinuum" sollte vor allem deutlich machen, dass Schutzgebiete nicht isolierte Naturreservate sein sollen, sondern vielmehr Ausschnitte in einem zusammenhängenden Raum, und in diesem vielfältig vernetzt. Der so verwendete Begriff hatte somit eine starke raumplanerische Komponente.
Eine wissenschaftlich breit anerkannte Definition des Begriffs "ökologisches Kontinuum" besteht nicht. Als Leitbegriff des Projekts von CIPRA, ALPARC, ISCAR und WWF ist das ökologische Kontinuum als lückenloser Übergang von einem Ökosystem oder Lebensraum zum nächsten Ökosystem oder Lebensraum zu verstehen. Massnahmen sollen somit gezielt sicherstellen, dass anthropogene Grenzen, Barrieren oder Übergänge behoben oder durchlässig - also passierbar - gemacht oder erhalten werden. Für das schweizerische REN (Réseau Ecologique National) wurde der Begriff aus der Sicht ökologischer Gruppen umschrieben und umfasst mehrere Typen zusammenhängender Lebensräume mit je einem Kerngebiet.
Das "ökologische Kontinuum" beinhaltet somit ein zu den Naturschutzgebieten (Biotope etc.) komplementäres Naturschutzkonzept: Im Fokus stehen räumliche Prozesse wie Ausbreitung und Migration sowie Raum beanspruchende Lebewesen, die unterschiedliche Elemente eines Gebietes für das Überleben benötigen (Fortpflanzung, Nahrungssuche, Ruhezonen etc.). Grundlage für ein entsprechend gesamträumliches Einbetten vorhandener Biotope und Lebensräume ist eine integrale (Raum) Planung.